„Das Schweigen“ und die „DDR“

Gedanken aus Anlass einer Feier

Komm! ins Offene, Freund! zwar glänzt ein Weniges heute
Nur herunter und eng schließet der Himmel uns ein.
Weder die Berge sind noch aufgegangen des Waldes
Gipfel nach Wunsch und leer ruht von Gesange die Luft.
Trüb ists heut, es schlummern die Gäng und die Gassen und fast will
Mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit.


Friedrich Hölderlin


Die Feiern zum 30. Jubiläum der Wiedervereinigung sind vorbei – „die Messe ist gelesen“.
Mit einer seiner typischen, gesinnungs-technokratischen, „anti-rechts“ arrangierten Ansprachen feierte unser Bundes-Frank-Walter den 30. Jahrestag des wiedervereinten Rumpf-Deutschlands. „Ja, wir leben heute in dem besten Deutschland, das es jemals gegeben hat“ meinte er in seiner Ansprache dem Volk verkünden zu müssen, den britische Historiker Timothy Garton Ash zitierend. Kein nachdenkliches Wort über die Demontage unserer freiheitlichen Grundrechte, über die von ihm mitbewirkte Spaltung der Gesellschaft in die angeblich Guten und die schlimmen Abweichler, über den wirtschaftlichen und geistigen Niedergang des Landes, das nicht mal mehr als schleichend zu erkennende Überstülpen einer zweiten „DDR“ über die ganze Nation.


Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnert,
ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.“

George Santayana

1967 war ich das erste Mal in der DDR, genauer gesagt in deren Hauptstadt Ostberlin.
1967 war es mir als damals 19-Jährigem erlaubt, den in jener Zeit skandalösen und Aufsehen erregenden Film „Das Schweigen“ von Ingmar Bergman im Kino anzusehen.

Was haben die beiden Dinge miteinander zu tun?

Den Film sah ich kurze Zeit vor meiner ersten Fahrt hinter den „Eisernen Vorhang“. Natürlich führte auch mich vordergründig die Neugierde auf erstmals im Kino gezeigte sexuelle Dissolutionen – welche die seinerzeitige Skandalisierung des Opus zur Folge hatten – in diesen Film. Es sind aber nicht die uns heutzutage nahezu als harmlos erscheinenden sexuellen Übertreibungen, die mir in Erinnerung sind, sondern es ist die Gesamtwirkung dieses filmischen Meisterwerkes.
Das Schweigen“ spielt in einem fiktiven, totalitär geprägtem Land, das sich erkennbar auf einen Krieg vorbereitet. Man war als Zuschauer gebannt und niedergedrückt von den düsteren, schwarz und dunkelgrau geprägten Bildern auf der Leinwand. Man empfand, wie nie sonst in diesem Genre erlebt, eine Aura eisiger Kälte und suggestiver Bedrohung und man fühlte sich in ein gottverlassenes, „artifizielles Niemandsland“ zwischen den Frontlinien eines Krieges versetzt.
In Deutschland lebten wir damals gewiss real zwischen den Frontlinien des Kalten Krieges. Wobei die Bundesrepublik nicht etwa dieses „Niemandsland“ darstellte, sondern den Brückenkopf, die Bastion der Freiheit und wirtschaftlichen Prosperität gegen das „Reich des Bösen“, wie es Ronald Reagan später durchaus mit gutem Grund benannte.
Im April 1967 besuchte ich erstmals Berlin und natürlich auch Ostberlin mit dem Ziel des Pergamonmuseums – und natürlich um erstmals Eindrücke von einer Stadt im real existierenden Sozialismus zu erhalten. Bilder von der Mauer, von dem über 1000 km langen Todesstreifen zwischen den beiden Teilen Deutschlands waren uns aus dem Fernsehen und der Presse hinlänglich geläufig. Aber es war dann etwas anderes, direkt vor diesem Schandbauwerk mit Schussapparaten, Minen und Sprengfallen zu stehen und – zwar über Distanz – Auge in Auge mit schwerbewaffneten Grenzern; und wissend, dass in den letzten zwölf Monaten wieder 12 Menschen bei einem Fluchtversuch hier ihr Leben gelassen hatten. Auf die Stimmung im Ostenwurde man trefflich schon beim Grenzübergang am Bahnhof Friedrichstraße eingestimmt. In einer engen, mit Sperrholz ausgekleideten Zelle sah man sich einem Beamten hinter einer verkratzten Plexiglaswand preisgegeben: stechender, misstrauischer Blick, kein „Guten Tag!“, keine Anrede, Aufforderungen nur mittels Hand- und Fingerbewegungen – Fehlen jeglicher menschlichen Nähe. Und die Straßen Ostberlins boten nichts anderes. Kaum Menschen auf den Straßen dieser „Metropole, kein Fahrzeug auf der ehemaligen Prachtstraße „Unter den Linden“; heruntergekommene Häuser und Trümmer zwischen wenigen wiederhergestellten „Prachtbauten“, aus deren Mauerritzen gleichwohl aufkeimendes Unkraut und Gebüsch Zeichen für neuen Verfall ablieferte. Die wenigen Menschen, die einem begegneten, hatten im Gesicht scheinbar ebenfalls die graue, bleierne Farbe ihrer Umgebung angenommen: freudlose Gesichter mit misstrauischen Augen – es fehlten nur Masken. Dafür zahlreiche graue Uniformen.
Ich fühlte mich in die Kulissen des „Schweigens“ versetzt und bemerkte aber erst anschließend – wieder im Westen – dass dies keine fiktionale Kulisse war, sondern Realität.
Was spielt sich hinter der Mauer, hinter den Hauswänden, diesen ausschließlich blind und von außen nicht durcherscheinenden Fenstern ab, dachte ich mir damals noch unbedarft?

Wir haben die „bleierne Zeit“ unserer Landleute jenseits der Mauer nach dem Krieg bis ins Jahr 1989 nicht mitgemacht.
Aber auf einmal – in „der Krise“ – bekommen auch wir, die Wohlstands-verhätschelten, die Demokratie-verweichlichten „Westler“ auch irgendwie eine Ahnung davon, wie das gewesen sein muss, wenn der Staat einen nicht zurückzudrängenden Einfluss auf alle Bereich des öffentlichen wie auch privaten Lebens ausübt. Wenn Medien und Wissenschaft nur noch die staatlich vorgebenen Meinungen und Gesinnung verbreiten. Wenn Angst herrscht, wegen „abweichender Meinung“ öffentlich und privat in Acht und Bann zu verfallen.
Bei wem hat nicht der Lock-Down im öffentlichen Leben und in vielen wirtschaftlichen Bereichen, auf den Straßen und Plätzen, den öffentlichen Einrichtungen, Bahnhöfen und Flughäfen, die Vision einer (sozialistischen) Zwangsgesellschaft aufkommen lassen?
Freudlose Gesichter mit misstrauischen Augen über Masken – in Geschäften und öffentlichen Einrichtungen. Zugangsperren mit kontrollierender Vereinzelung von Personen bei Anliegen vor Behörden, in Sparkassen, beim Besuch im Krankenhaus oder Pflegeheim. Zwangsentziehung von Kindern entgegen ihren Eltern. Meldepflicht beim Restaurationsbesuch.
Wir erleben jetzt, wie es sich „anfühlt“, wenn technokratische Willkür und autoritäres Kalkül das Leben bestimmen.
Es gibt einen Unterschied zur DDR, wie sie sich uns eingeprägt hatte, zu den heutigen Verhältnissen: „Es braucht keine Mauer mehr. Wohin würde und könnte man noch fliehen wollen?“ – meint Hadmut Danisch treffend.

Wenn sich nicht bald etwas ändert, man sich nicht wieder „ins Offene“ (Hölderlin) – d.h. ins Offene der Freiheit bewegen wird, wird sie uns endgültig eingeholt haben: „die Aura eisiger Kälte und suggestiver Bedrohung“ und dass man sich in ein „gottverlassenes Niemandsland“ zwischen den Frontlinien eines neuen Krieges versetzt fühlen wird; wie es die Atmosphäre in „Das Schweigen“ uns vermitteln will.

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2 Antworten zu „Das Schweigen“ und die „DDR“

  1. Peter Helmes sagt:

    Vielen Dank, lieber altmod! Das habe ich gerne auf conservo übernommen!
    https://conservo.wordpress.com/2020/10/05/das-schweigen-und-die-ddr/
    Herzliche Grüße
    P.H.

  2. KW sagt:

    Wohin würde und könnte man noch fliehen wollen? Sie haben den ganzen Erdball in ein gottverlassenes Niemandsland verwandelt. Alles ist gleich, die Architektur, die Laden-, Hotel- und Restaurantketten, die bunten Menschen, die Musik, die Meinungsdiktatur, die Gefängnisse mit politischen Gefangenen, die hohe Kriminalität, die gekauften Regierungen, die Informationen in Zeitungen und im Fernsehen, alles gleich—düster und vergiftet wie die Lebensmittel und die Pharmazie, die niemand stoppt.

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