DIE BRATWURST IN DER GESCHICHTE

Eine Betrachtung von Jürgen Herzog

 

ERSTER TEIL: 
Das Erbe der Antike

Die Bratwurst, eine condicio sine qua non für Franken

Franken ohne Bratwürste – das ist unvorstellbar. Fränkische Auswanderer in der Münchener, Berliner oder Kölner Diaspora lassen sich regelmäßig mit diesem heimatlichen Genussmittel versorgen. Die Bratwurst ist als Merkmal für Franken eine condicio sine qua non. Mit der Bratwurst ist es ähnlich wie mit anderen Merkmalen Frankens: Wein und Bier gibt es überall, aber der Frankenwein oder das Bier aus fränkischen Brauereien sind etwas ganz Besonderes. Genauso verhält es sich mit der fränkischen Bratwurst. Zwar erhebt auch und vor allem auch mit Recht Thüringen urheberrechtliche Ansprüche auf die Bratwurst. Aus rechtlichen Gründen verkauft der berühmte Bratwurststand am Schwarzen Moor in der bayerischen Langen Rhön nun „Bratwürste nach Thüringer Art“, statt – wie früher vor der Wende – „Thüringer Bratwürste“. Trotzdem ist sie kein Streitobjekt zwischen Franken und seinen nördlichen Nachbarn, eher ein Verbindungsglied, – ist doch der Übergang von der thüringischen zur fränkischen Bratwurst in geschmacklicher Hinsicht und im Design eher fließend. Sind wir ehrlich: Gibt es etwas Köstlicheres, als die Stammesunterschiede zwischen den Franken und den Thüringern gerade durch den Genuss und Geschmack der Bratwurstarten sinnlich zu erfahren!

So wie sich regional in Franken Größe und Geschmack dieses aus Fleisch gewordenen Wahrzeichens unterscheiden, differiert auch die Aussprache von „Bratwürscht“ bis „Broutworscht“. Sogar bei der Bezeichnung „fränkisch“ gibt es keine fränkische Einheit. Franken wäre nicht Franken, wenn es anders wäre. Die Nürnberger verwahren sich zum Beispiel heftig dagegen, dass ihre Nürnberger Bratwürste als „Fränkische“ bezeichnet werden. Die Stadt Nürnberg hat sogar durch Rechtsverordnung festgelegt, dass die „Original Nürnberger“ Bratwurst unter anderem sieben bis neun Zentimeter lang und 20 bis 25 Gramm schwer sein muss. Andere Bratwürste müssen sich bescheiden mit der Bezeichnung „Fränkische“ begnügen. Den Bratwurstherstellern in den anderen fränkischen Landen ist das buchstäblich „wurscht“, den in der Bratwurstfrage selbstsicheren Thüringern sowieso.

Trotzdem: Nürnberg hat eine gewisse Vorreiterrolle in der Bratwurst-Szene. In der Reichsstadt scheint die Bratwurst 1419 erstmals urkundlich erwähnt worden zu sein. Andere weisen darauf hin, dass die Bratwurst schon 1341 in einer Urkunde auftauchte. Sogar das epochale Jahr 1200 wird als urkundliche Nennung behauptet, jedoch ohne den gebotenen Nachweis. Diese Jahre wollen wir als den eigentlichen Beginn unserer Bratwurst-Ära festsetzen. Alles andere ist Vorgeschichte, bestenfalls Frühgeschichte. Wir leben aber in der Hoffnung, dass uns künftige Forschung ein noch älteres Datum und damit eine Verlängerung des offiziellen Bratwurstzeitalters beschert. Die erste Würstelbude Deutschlands entstand kurz nach 1135 leider nicht in unserer Region, sondern an der Donau in Regensburg beim Bau der Steinernen Brücke. Ob in dieser Wurstküche tatsächlich Bratwürste oder nur ordinäre Brühwürste angeboten wurden, bleibt Geheimnis.

Vorgeschichte

Bratwürste hat es in Franken, Thüringen und den kulturell verwobenen Nachbarräumen natürlich schon vor 1200, 1341 oder 1419 gegeben. Wurst aus Brät, aus gehacktem Fleisch herzustellen, auf diese Idee kam irgendwer irgendwann in grauer Vorzeit und wurde damit zum ersten Metzger. Galt es doch, von der Jagdmahlzeit übrig gebliebenes Frischfleisch weiter zu verwerten beziehungsweise haltbar zu machen, z. B. durch Würzen, Kochen oder Räuchern unter Benutzung von Därmen und anderen essbaren Hohlkörpern als Verpackung. So kam es zur Erfindung der Wurst. Schade, dass dieses bahnbrechende Ereignis der Menschheitsgeschichte in ewiges Dunkel gehüllt sein wird. Die Bedeutung dieses Events wurde bisher viel zu wenig gewürdigt: Die Überlebenschancen der steinzeitlichen Horde stiegen durch die Möglichkeit gewisser Vorratshaltung, die Vermehrungschancen durch den gesteigerten Eiweißverbrauch der Gruppe. Vielleicht verdankt der homo sapiens der Erfindung der Wurst seinen Siegeszug. Überlassen wir solche Spekulationen der akademischen Forschung! Eines darf jedoch festgehalten werden: Die Erfindung der Wurst war das bedeutendste Menschheitsereignis vor der Erfindung des Rads. Ohne unbescheiden zu sein, kann man heute nach so langer Zeit stolz konstatieren: Die Bratwurst in ihrer fränkischen oder thüringischen Ausgestaltung, unter Einbeziehung des südwestsächsischen Raums und von Teilen der Oberpfalz, ist der bisher erreichte zivilisatorische Höhepunkt dieser Entwicklung. Deswegen darf und muss sich unsere kulturhistorische Betrachtung der Bratwurst auf diesen geographischen Rahmen begrenzen.

Die Erforschung der Bratwurst-Vorzeit ist im Gange. Ohne einer in Fachkreisen mit Spannung erwarteten Veröffentlichung vorgreifen zu wollen, darf schon jetzt angedeutet werden, dass in Essensresten des homo sapiens fossilis ein aus Tierknochen kunstvoll gefertigter Gegenstand gefunden wurde, der nur eine sinnvolle Interpretation zulässt: eine Art Zange zum Wenden von Bratwürsten. Mit stolzem Schauder darf jetzt bereits verraten werden, dass der Fundort in Franken liegt. Aber Vorsicht! Die Wissenschaft ist vor Irrtümern nicht sicher. Ein früherer Fund im Ochsenfurter Gau wurde zunächst als versteinerte Riesenbratwurst gedeutet, entpuppte sich jedoch bei präziser Betrachtung (unter Einsatz der Radio-Carbon-Methode) als versteinerter Mastodon-Kot.

Kelten, Römer und Germanen

Die Entwicklung blieb nicht in der Steinzeit stecken. In der klassischen Antike war Wurst bereits eine Ware des Fernhandels. Voraussetzung waren Haltbarkeitstechniken wie Räuchern oder Pökeln. Hierzu sei eine Bemerkung gestattet: Würste aus gepökeltem Fleisch würden wir nicht gerade als Bratwürste bezeichnen. Die richtige Bratwurst ist nämlich frisch. Lediglich die Geräucherte wird hie und da noch als Bratwurst akzeptiert. Die Kelten in Gallien und Süddeutschland waren bei den Römern als professionelle Wurstproduzenten berühmt. In den Keltensiedlungen unseres Raums, vor allem in größeren Siedlungseinheiten wie der „Keltenstadt“ bei Miltenberg, wurde Wurst in vielen Variationen hergestellt und verzehrt oder verkauft. Darunter mit Sicherheit gut gewürzte Wurst aus frischem Brät, also Bratwurst. Nicht von Braten, sondern von diesem Brät, leitet sich ja, wie gesagt, die Bezeichnung „Bratwurst“ her. Deswegen muss sie nicht unbedingt gebraten werden, sondern ist auch gegrillt, geröstet oder gekocht zu genießen. All diese Verwendungs- und Genussweisen der Bratwurst kannten auch die Römer schon. Die Römer saßen zu Beginn unserer Zeitrechnung, zur Zeit des Augustus und des Tiberius, bereits am Main. Ein Jahrhundert später bildete die Mainlinie von Seligenstadt über Aschaffenburg bis Miltenberg bis zum Ende des römischen Imperiums einen Teil des Limes.

Der Limes war kein Eiserner Vorhang. Mann muss sich ihn eher als Umschlagplatz vorstellen. Römische Produkte, darunter auch die Erzeugnisse römischer Wurstkultur, wechselten über die Grenze gegen Sklaven, Söldner, Wildbret oder Bernstein aus der Ferne. In unserer Gegend wohnten damals schon Germanen. Was aus den Kelten geworden war, weiß man nicht. Wahrscheinlicher als ein Völkermord ist das Aufgehen in der germanischen Bevölkerung. Die Römer konnten sowieso nicht genau zwischen Kelten und Germanen unterscheiden. Aber auch die Germanen schien unser Raum nicht zum Bleiben verlockt zu haben. Schon Ariovist war von hier mit seinen Sueben nach Gallien marschiert. Marbod zog sich zur Zeit des Augustus mit seinen Markomannen aus unserer Landschaft nach Böhmen zurück. Wer blieb, das waren die Fußkranken. Was blieb, das war vor allem die hier heimische Bratwurst.

Man kann die Theorie wagen, dass die Vermischung der Kulturen am römischen Limes befruchtend auf die künftige Entwicklung der Bratwurst gewirkt hat. In den meist friedlichen Tagen am Limes konnte sich römische Lebensart ausbreiten. Von Petronius wissen wir aus seinem berüchtigten „Gastmahl des Trimalchio“, dass gerade Würste mit einem der Bratwurst vergleichbaren Charakter Teil der verfeinerten römischen Lebensart waren. Es wurden sogar ausgesprochen fette Würste geschätzt. Dies erklärt sich aus folgendem Umstand: Die Römer brauchten eine „Grundlage“ für den Alkohol. Sie vertrugen nämlich nichts. Zum Hohngelächter der Germanen pflegten sie den Wein mit Wasser verdünnt zu trinken.

Vielleicht wurden am Limes keine exzentrischen Fressorgien à la Trimalchio gefeiert, spartanisch ging es aber auch nicht zu. Das beweist schon die Tatsache, dass die Mainlinie und das hinter dem Limes liegende Dekumatenland Jahrhunderte lang das solid-römischste Gebiet außerhalb Italiens war. Das der Bratwurst vergleichbare „tomaculum“ war dabei unverzichtbarer Bestandteil des Lebens und Exportschlager in das benachbarte Germanenland im Osten. Übrigens: „Tomaculum“ kann man wörtlich sehr unanständig übersetzen, bei einer sinngerechten Übertragung ist damit aber „gefüllter Mastdarm“ gemeint. Dies ist ein brauchbarer Hinweis auf die Dicke der Bratwurst in jener entscheidenden Epoche.

Andere, das heißt kurze, lange beziehungsweise rundliche Würste oder Würstchen kannten die Römer unter den Namen farcimina, farcicula, funduli, hillae, circelli, apexabones, longaones, botuli oder lucanicae. Die Frage, ob es sich dabei um Bratwürste oder gar um die Vorläufer der Thüringer Bratwürste bzw. der Nürnberger oder der mainfränkischen Groben handelt, stellt eine Herausforderung an den Forscherfleiß künftiger Historikergenerationen dar.

Die Völkerwanderung

Viele Völker wanderten bis zum Ende der Antike durch unseren fränkischen Raum: Quaden, Toutonen, Wangionen, Chatten, Sueben, natürlich Alamannen, vandalische Stämme, burgundische oder langobardische Randgruppen und viele andere mehr. Keines dieser Völker machte Anstalten zu bleiben. Die Gegend war weitgehend von undurchdringlichem Wald bedeckt. Das zog Feuchtigkeit an. Sumpfland, Überschwemmungsgebiete und zäher Urwald ließen nur wenig an Besiedlung zu. Wahrscheinlich sind von jeder Völkerschaft einige Nachzügler hängen geblieben. Das Wenige, auf das sie bei den Alteinwohnern stießen, waren sicherlich die regionalen Gewohnheiten der Lebensmittelzubereitung, die einheimische Speisenkarte, natürlich einschließlich der Bratwurst.

Ein wirklich einschneidendes Ereignis war erst die Gründung der großen Herrschaft der Thüringer, die sich vom Harz bis in den Raum Würzburg erstreckte. Als sich die Thüringer sogar mit dem Ostgotenkönig Theoderich politisch verbandelten und dies durch eine Heirat auf höchster Ebene besiegelten, erregten sie die Aufmerksamkeit des jungen und gewalttätigen Frankenreichs. Fünf Jahre nach Theoderichs Tod brachten die Franken 531 das Thüringerreich unter ihre Herrschaft. Sie setzten zwar thüringische Große als „Herzöge“ ein. Diese wussten aber, dass sie nichts zu sagen hatten. Seit dieser Zeit begann die fränkische Besiedelung unseres Raums, vor allem entlang der Höhenwege, zum Beispiel dem Rennweg in den Hassbergen. Die Höhenwege waren militärisch die wichtigsten Achsen. Die immer noch dicht bewaldeten Niederungen verwandelten sich nämlich bei Regen in Sumpf und Morast und waren damit unpassierbar und unbewohnbar. Wie kamen die fränkischen Siedler mit dieser Situation zurecht?

Die Franken selbst hatten nichts von der heldenhaft tragischen Größe der Ostgoten oder von der vornehmen Heroik der Thüringer. Die Franken galten bei ihren Feinden sogar als besonders roh, bildungsfeindlich, barbarisch und verfressen. Das hieß zur damaligen Zeit schon etwas. Die Franken selbst störte es nicht im Geringsten. Tatsächlich waren sie ein praktischer, schnell zupackender und natürlich schnell zuschlagender Menschenschlag. Darin lag wohl das Geheimnis ihres Erfolgs. Für ihre Überlebenschancen und unsere Geschichte setzten die fränkischen Siedler einen Meilenstein in unserem Raum durch eine ganz spezifische Stammeseigenschaft, durch ihre auffällige Liebe zum Schwein als Nahrungsmittel und Haustier. Das wichtigste Ergebnis dieser Affinität liegt in folgendem epochemachenden Umstand: Seit dieser Zeit dominiert das Schwein im Innern unserer Bratwurst.

 

ZWEITER TEIL: 
Frühling, Sommer und Herbst des Mittelalters

Franken, Deutsche und Slawen

Höhepunkt der fränkischen Herrschaft war bekanntlich die Regierung Kaiser Karls des Großen (+ 814). Wenn Karl auch einige Male in Franken oder im thüringisch-sächsischen Gebiet weilte, vielleicht aus Höflichkeit, so darf uns nichts darüber hinweg täuschen, dass unser Raum die uninteressanteste Peripherie seines Imperiums war. Karl der Große wäre aber kein Genie gewesen, wenn er nicht sogar daraus etwas gemacht hätte. Er gründete hier systematisch Königshöfe als landwirtschaftliche und militärische Basen für seine Herrschaft. Bad Königshofen im Grabfeld erinnert heute noch durch seinen Namen an diesen Umstand. Die fränkischen Königshöfe brachten eine neue Dimension in die Fleischversorgung, nämlich die systematische und für damalige Verhältnisse groß angelegte Schweinezucht und -mast. In den stillen und wenig besiedelten Gebieten Ostfrankens konnte ungestört und von den Zentren des Reichs unbemerkt eine solche Basis aufgebaut werden. Die Verwurstung des Fleischs und die Haltbarmachung der Wurst, zum Beispiel durch Räuchern oder Pökeln, waren die Voraussetzung für den Vertrieb im gesamten Reich des großen Kaisers, von den Pyrenäen bis zur Elbe. Neben die bisher halb wild im Wald nach Eicheln suchende und zahlenmäßig übermächtige fränkische Freilandsau trat nun erstmals bei uns das systematisch versorgte, nicht allzu mobile und damit etwas zartere karolingische Mast- und Zuchtschwein. Dass dies auch die Bratwurstkultur geprägt hat, liegt auf der Hand.

Das Jahrhundert nach Karl dem Großen war keine strahlende Epoche. Das lässt sich schon aus den Namen karolingischer Herrscher in den Teilreichen vermuten: Ludwig der Fromme, Karl der Kahle, Ludwig der Stammler, Karl der Einfältige, Ludwig der Faule, Karl der Dicke, Ludwig der Blinde, Ludwig das Kind. Für unseren Raum war diese Zeit jedoch die große Chance. Durch die Reichsteilungen befand sich der fränkische und thüringische Raum nun nicht mehr an der Peripherie des Imperiums sondern im Herzen den Ostreichs. Der benachbarte obersächsische Raum war die wichtigste Region für die militärische Abgrenzung des Ostreichs gegen die Slawen. Damit war unser Gebiet plötzlich von zentraler Bedeutung. Hinzu kam eine weitere Entwicklung. Der größte Stamm im Ostreich, die Franken, teilten sich politisch auf in Lothringer, rheinfränkische Herrschaften usw. Bei den anderen Stämmen war es ähnlich, bis aus den Franken, Sachsen, Schwaben usw. schließlich Deutsche, „thiudisk“, wurden. Lediglich in unserem Ostfranken hielten sich die Franken und der Name „Franken“ bis heute. In Sachsen verlief die Entwicklung durchaus vergleichbar. Die alte Grenzmark, Obersachsen, ist später das eigentliche Sachsen geworden und geblieben, – obwohl die Bewohner eigentlich Thüringer bzw. zwangsgermanisierte Slawen waren. Eines darf in dieser bewegten Zeit nicht übersehen werden: Es war in dieser kritischen Phase der Geschichte unseres Vaterlands geradezu selbstverständlich, dass mit der Bedeutung unseres Raums auch die Bedeutung seines zentralen, ja symbolhaften Nahrungsmittels, der Bratwurst, wuchs. Doch trotz der zentralen Lage der Bratwurstregion verlief die Entwicklung parallel. Die Bratwurst blieb eine fränkische oder eine thüringische beziehungsweise sächsische. Den Begriff „deutsche Bratwurst“ sucht man vergebens. Vielleicht auch deswegen sollte es für unsere Bratwurst ein steiniger und bis heute nicht abgeschlossener Weg werden bis hin zum anerkannten Leitstern der Wurstkultur.

Bei all dieser Entwicklung haben wir beinahe die Slawen übersehen. Durch die Zerschlagung des Thüringerreichs war im sechsten Jahrhundert ein Vakuum entstanden, das slawische Siedler nutzten. Von der großen Politik unbemerkt, drangen sie nach Westen vor. Flur- und Ortsnamen auf „-itz“ oder „-wind“ zeigen uns, wie weit die Slawen kamen. Der Name der Winzergemeinde „Abtswind“ am westlichen Steigerwaldrand erscheint unter diesem Aspekt nur noch halb so deftig. Doch zurück ins Mittelalter! Noch zu Beginn des 11. Jahrhunderts gab es so etwas wie eine Slawenfrage. So wurde das Bistum Bamberg 1007 unter anderem angeblich auch zur Slawenabwehr gegründet. Ob die Slawen in unserem Raum wirklich gefährlich waren, darf jedoch mit Fug und Recht bezweifelt werden. Was mag sie wohl befriedet haben? Die Antwort erraten Sie schon. Sie erfahren sie jedoch einige Zeilen weiter ganz konkret.

Für unsere Geschichte hatten die Slawen eine Eigenschaft, die der Bratwurst hätte gefährlich werden können. Die sparsamen slawischen Siedler pflegten das oder den Brät mit Getreideprodukten zu strecken. Wer einmal frisch geräucherte polnische Grupnioky genossen hat, weiß, dass man diese Sparsamkeit geschmacklich äußerst attraktiv gestalten kann. Ein Konkurrenzkampf blieb uns aber erspart. Da sich vor allem Blutwürste zum Strecken der Füllung durch Getreideprodukte eignen, kam die Bratwurst ungeschoren davon. Ein einflussreicher mittelalterlicher Gelehrter hatte eine Abneigung gegen Blutwurst. In dieser Zeit brachte man alles, was einem nicht behagte, mit den unterirdischen Kräften des Bösen in kausale Verbindung, wie Michel Foucault in seiner Geschichte des Irrsinns schreibt. So ging es auch der Blutwurst. Sieger blieb die Bratwurst. Die Slawen merkten gar nichts davon. Sie hatten sich inzwischen selbst friedlich und unbemerkt an die fränkische Lebensart und Bratwurst assimiliert. Wir sind uns sicher, dass unser Genussmittel „Bratwurst“ der Katalysator für diese friedliche Assimilierung war.

Das hohe Mittelalter

Die Schlachten von Mellrichstadt (1078) und Pleichfeld (1086) im Investiturstreit waren der blutige Höhepunkt des Hochmittelalters. Gekämpft haben in Mellrichstadt und Pleichfeld die Anhänger des Canossa-Kaisers Heinrich IV gegen seine zahlreichen Gegner. Die Familien der Parteigänger Kaiser Heinrichs IV machten in Franken, Thüringen und Obersachsen Karriere, vor allem die Henneberger und die Vögte von Weida, nach denen das Vogtland benannt ist. Die Vögte von Weida nahmen bald den Namen „Reuss“ an und blieben in ihren Linien bis 1918 an der Macht. Das Erbe der Henneberger übernahmen im 16. Jahrhundert die Wettiner, nachdem der Würzburger Fürstbischof den fränkischen Besitz der Henneberger weitgehend aufgekauft hatte. Für die Kontinuität der Geschichte unseres Raums war dies von entscheidender Bedeutung. Von dieser Gesamtkontinuität profitierte verständlich auch die Bratwurst. Die Kontinuität dieses Raums konnte auch der Eiserne Vorhang nicht zerstören. Zu viele Gemeinsamkeiten waren im Laufe der Jahrhunderte auf der Basis stammesgeschichtlich verwobener Verzehrgewohnheiten gewachsen.

Soweit der grobe Überblick! Doch zurück zu Einzelproblemen des Hochmittelalters: Wir fragen uns, welchen Einfluss die zahlreichen Italienzüge der deutschen Kaiser im Hochmittelalter auf die Entwicklung der Bratwurst genommen haben. Spätestens dann, wenn die deutschen Ritterheere die Veroneser Klause durchschritten hatten und in San Zeno vor den Toren Veronas ihre Ankunft feierten, trafen sie auf die italienische Bratwurst, die salsiccia. So hieß in Italien inzwischen das alte lateinische tomaculum. Da der Deutsche sich leicht für fremdartige Genüsse begeistert, wundert es einen, dass die salsiccia offensichtlich nicht dazu gehörte. Die Erklärung ist einfach. In Italien ist eine andere Bakterienpopulation als in Deutschland verbreitet. Unsere tapferen Ritter konnten keine Abwehrkräfte gegen die dortigen pathogenen Keime entwickelt haben. Die Folge waren Durchfallerkrankungen und Schlimmeres. Mangels medizinischer Kenntnisse machten die Ritter neben dem Olivenöl auch und vor allem die salsiccia verantwortlich. Die Pioniere des Massentourismus in unserem Jahrhundert reagierten bekanntlich ähnlich. Die wenigen, die heil nach Hause zurück kamen, waren froh, die Sicherheit des heimatlichen Herds mit dem gewohnten und so lange vermissten Wohlgeschmack der heimischen Bratwurst verbinden zu können. Daran wollten sie nun wirklich nichts ändern. Die Bratwurst wurde zum Symbol für Stabilität und Kontinuität.

Ganz so standhaft war die Bratwurst gegen die Einflüsse aus dem Orient nicht. Sie ahnen es. Wir sind in unserer Betrachtung bei den Kreuzzügen angelangt. Wie man inzwischen weiß, wurde die kulturhistorische Bedeutung der Kreuzzüge in der Vergangenheit weit überschätzt. Die in der Mehrzahl ziemlich verrohten Kreuzfahrer hatten anderes im Sinn, als die Sitten bei sich selbst oder gar in Europa zu verfeinern. Trotzdem begann eine auch gesellschaftspolitisch nicht zu unterschätzende Entwicklung, in der die Bratwurst eine kausale Rolle spielte. Die Pfeffereinfuhr in Europa stieg enorm. Die Venezianer, Pisaner und Genuesen transportierten die Ritter gegen teueres Geld nach „Outre Mer“ ins Heilige Land. Bei der Rückreise beförderten sie vermehrt Gewürze in die Heimat. In der Folge sank der Pfefferpreis. Zwar war Pfeffer immer noch sündhaft teuer, aber nicht mehr unerschwinglich. Wer es sich leisten konnte, der hohe Adel und die Fernkaufleute, die „Pfeffersäcke“ in den jungen städtischen Zentren, pfefferten nun ihre Bratwürste. Die Bratwurst teilte sich damit in zwei Klassen, die seltene aber junge reich(e) gepfefferte Bratwurst und das weit verbreitete aber alte arme Würstchen. Die Zwei-Klassen-Bratwurst wurde Ausdruck für arm und reich. Erst die sinkenden Gewürzpreise in Folge der Entdeckung des Seewegs nach Indien lenkten die Bratwurst wieder in ihre angestammte Rolle als Klassenunterschiede aufhebendes, nivellierendes Element zurück. Die wirtschaftlichen Umstände bestimmten halt auch bei der Bratwurst das allgemeine Bewusstsein.

Beim hohen Adel spielte selbst die gepfefferte Bratwurst nur in der zweiten oder dritten Liga der fleischlichen Genüsse. Wegen des Jagdprivilegs stand Wildbret an der ersten Stelle. Die Beliebtheit der Bratwurst in diesen Kreisen hatte etwas mit deren Trinkgewohnheiten zu tun. Es war ein verbreiteter Sport, sich durch ständiges Zuprosten buchstäblich unter den Tisch zu saufen. Wer besonders viel vertrug an Alkohol und Flüssigkeit, der war ein besonderer Held. Die Schweinsbratwurst war gut für die Bindung des Alkohols. Zumindest glaubte man das damals (und vielerorts noch heute). Der Pfeffer wiederum förderte den Durst. Auch das wird heute noch geglaubt.

Ganz anders war die Situation in den upper classes der aufstrebenden Städte. Die Fernkaufleute in Nürnberg, Rothenburg, Würzburg, Erfurt oder Leipzig waren tatsächlich auf eine Verfeinerung ihrer eigenen Sitten bedacht. Das musste natürlich auch die Bratwurst beeinflussen und ausstrahlen in die klassische Bratwurst-Region, die ja überwiegend innerhalb des Rings dieser Städte liegt. Doch damit leiten wir zum Spätmittelalter über.

Das Spätmittelalter

Stadt und Land war einer der großen Gegensätze des Spätmittelalters. Auch die Bratwurst konnte sich aus diesem Konflikt nicht heraushalten. Auf dem Lande blieb es bei der groben Bratwurst, deren Größe sich danach bemaß, was gerade an Darmmaterial zur Verfügung stand. Auch der Inhalt der Wurst war von Fall zu Fall verschieden, je nachdem ob eine magere oder eine fette Sau geschlachtet wurde. In der Stadt wurden die Hausschlachtungen umso seltener, je größer das Gemeinwesen war. Hier wetteiferten die Berufsmetzger miteinander. Konkurrenz belebt bekanntlich nicht nur das Geschäft, sondern fördert auch den Einfallsreichtum. So bot der eine Metzger dicke, der andere besonders dünne, der eine feine, der andere besonders grobe Würste an. Die Würze differierte, ebenso der Fettgehalt – und damit der Geschmack. Alles andere regelte der Markt. Der Markt wurde von der Ratio gelenkt, öfters aber von kaum rationalen Modeerscheinungen. Es war damals nicht viel anders als heute. Die notwendige Vorratshaltung an Schweinefleisch geschah meist durch Lebendhaltung. Zahlreiche Schweine gehörten zum Stadt- und Straßenbild. Ihre Exkremente vermischten sich mit den übrigen Abfällen. Diese Abfälle dienten den Schweinen als Nahrungsergänzung. Was die Schweine nicht fraßen, das nahmen die Ratten. Die hygienischen Verhältnisse waren katastrophal.

Das Heer der Ratten war der Grund für die apokalyptische Pestepidemie in der Mitte des 14. Jahrhunderts. Ganze Landstriche wurden entleert. Die Grundherren mussten anschließend Bauern aus der hohen Rhön, dem Frankenwald oder dem Fichtelgebirge, wo die Pest nicht hinkam, zur Ansiedlung in das Tiefland und seine toten Dörfer locken. Die Pest bewirkte auch eine negative Auslese in der Bevölkerung. Lediglich die krassen Säufer kamen ungeschoren davon. Die Pestbazille verträgt nämlich keine Alkoholkonzentration im Blut. Schade, wir hätten diese heilende Wirkung lieber der Bratwurst als dem Schnaps gegönnt. Da aber Bratwurst- und Alkoholgenuss oft kombiniert wurden, wie wir gesehen haben, wurde unsere Lieblingswurst zumindest nicht für die Seuche mitschuldig gemacht.

Apokalypse ist der richtige Ausdruck für die Zeit der Pest und danach. Erst 150 Jahre nach der ersten Pestwelle erreichte die Bevölkerungszahl wieder den Stand von vor 1350. Die Überlebenden der Pestwellen schlugen sich gegenseitig tot. Bürgeraufstände in den Städten waren an der Tagesordnung: in Nürnberg, Würzburg, Erfurt, Leipzig. Die Aufstände richteten sich gegen den Stadtherrn wie in Würzburg oder gegen die städtische Oberschicht, die Patrizier, wie in Nürnberg. Fanatisierte Geißler zogen in Scharen durchs Land. Der Totentanz wurde bevorzugtes Kunstthema in Literatur und Graphik. Die Rechtsprechung verrohte. Die Folter wurde gebräuchliches Werkzeug zur Wahrheitsfindung. Im 15. Jahrhundert wurden Franken und Sachsen von den Hussiten heimgesucht. Die religiösen Spannungen stiegen, solange ein Papst in Avignon und einer in Rom saß. Propheten der letzten Tage, wie der Pfeiffer von Niklashausen, taten ein Übriges zur allgemeinen Verunsicherung. Trost und Halt bot nur der kleinste Familienkreis. Glücklich, wer diesen noch besaß. Glücklich, wer im Kreis seiner Lieben sein Brot und seine Bratwurst essen konnte.

Eine neue Zeit kündigte sich durch die Renaissance an, deren Gedankenwelt von Italien aus zunächst in den Patrizierkreisen der großen Städte aufgenommen wurde. Auf den ersten Blick war in dieser Gedankenwelt kein Platz für die Bratwurst. Für uns erhebt sich die Frage: War die Renaissance etwa bratwurstfeindlich? Wenn ja, muss man diese hochgelobte Epoche der Menschheitsgeschichte vielleicht unter anderen Augen sehen? Wir können Entwarnung geben. Die Bratwurst wurde sogar geadelt, allerdings in einem unvermuteten Sinne: Die Bratwurst wurde zum Rechtsbegriff. Renaissance und Humanismus haben auch und vor allem die Rechtswissenschaft belebt. In Deutschland traf das auf den bis heute anhaltenden Drang, möglichst alles zu regeln. In Nürnberg wurde 1462 eine Rechtsverordnung erlassen, mit der die Bratwurst in die Rechtsgeschichte einging. Es ging um die Sicherung des Preis-Leistungs-Verhältnisses der damals noch relativ großen Bratwurst in der Reichsstadt. Weitere Rechtsvorschriften folgten in Nürnberg und anderswo. Grund zur Regelung gab es genug. Offene oder versteckte Preiserhöhungen, Wurstbetrug oder das Pantschen des Bräts mit wertlosen Tierbestandteilen empörten das Gemüt des Verbrauchers und veranlassten die Obrigkeit zum Einschreiten. Die Selbstkontrolle der Zünfte schien nicht mehr funktioniert zu haben.

 

DRITTER TEIL: 
Die Neuzeit und ihre Folgen

Die frühe Neuzeit

Die frühe Neuzeit: Amerika und der Seeweg nach Indien wurden entdeckt. Magellan umsegelte die Erde. Vom Aztekenkaiser Montezuma waren gleichzeitig 300 Frauen schwanger. Im Reich Kaiser Karls V ging die Sonne nicht unter. Europa teilte sich in Katholiken und Protestanten. Die Engländer vernichteten die Spanische Armada. Der Dreißigjährige Krieg zerstückelte Deutschland. Die Türken zogen bis vor Wien. Der Sonnenkönig in Frankreich prägte Politik und Geschmack Europas. August der Starke wurde König von Polen. Der Alte Fritz spielte Hasard und machte Preußen zur Großmacht. Am Ende brach das alte Heilige Römische Reich Deutscher Nation in den Folgen der Französischen Revolution zusammen. Konnte die Bratwurst in diesen bewegten Jahrhunderten überhaupt eine selbstständige Rolle spielen?

Die Antwort lautet eindeutig „Ja“. Ein epochemachendes Bratwurstereignis verdient es sogar, neben die Entdeckungen des Kolumbus und des Magellan, an die Seite Karls V oder des Sonnenkönigs gestellt zu werden: die Erfindung der original Nürnberger Rostbratwurst (1573). Hierdurch wurde der Bratwurstgenuss zum Hochgenuss gesteigert. Mit ihrer idealen Länge von acht Zentimetern wurde die „Nürnberger“ zur Urmonade (Leibniz) des Bratwursthochgenusses. Die anderen Bratwurstarten mussten sich nun anstrengen. Aber auch ihnen gelang durch Würze und Qualität noch einmal ein geschmacklicher Quantensprung. Franken, mehr noch, unsere gesamte klassische Bratwurstregion, verdanken ihrer Bratwurst einen Teil ihrer Identität. Die Bratwurst selbst verdankt der Epoche der frühen Neuzeit wesentliche Charaktereigenschaften.

Neben der Erfindung der „Nürnberger“ ist jedes andere Bratwurstereignis in dieser Epoche nur Episode. Auf Grund der verbesserten Quellenlage gibt es trotzdem einiges zu berichten. Dem schwedischen General Murrmann war im Dreißigjährigen Krieg die Bratwurst etwas so Heiliges, dass er „bei der Wurst in meinen Händen“ schwor, Geiselwind einzunehmen. Unsere Bratwurst lässt sich aber nicht für Eidesleistungen und andere religiös bezogene Handlungen missbrauchen. Murrmann scheiterte. 1648, nach dem Westfälischen Frieden, wurde die Bratwurst zum Friedenszeichen, ja zum Friedenssymbol. Womit gestaltete man die Siegesfeiern, wenn nicht mit der Bratwurst. Die Menge der verzehrten Würste wäre auch in Ruhezeiten unglaublich gewesen. Nach einem Krieg von so langer Zeit waren die Würste Ausdruck für die Hoffnung und den Lebenshunger der Überlebenden. Übrigens: Die Rezepturen der Bratwurst hatten den Krieg überlebt wie nur Weniges.

Bald nach dem großen Krieg regte sich der Geist der Barockzeit. Dass sich die Bratwurst problemlos in das Barockzeitalter einfügte, ist wohl klar, hat sie doch nichts Eckiges, nichts Kantiges, sondern geradezu idealtypisch barocke Linien. Auch die Gewürze waren es, die den Geist des Barocks in Schwung und in die Bratwurst brachten. In Sachsen und vor allem in Thüringen dominierte der Kümmel, in Mainfranken eine Ahnung von Muskat in der Gewürzmischung, in Mittelfranken der Majoran. Nun ja, die Barockzeit war eben die Zeit der Curiosa, der neugierigen Experimente. Mancherorts wurde mit Nelk-Öl gewürzt, weil man dies für ein Aphrodisiakum hielt. Mit dem Klassizismus bzw. der Napoleon-Ära besann man sich aber wieder auf die wahren Werte der Bratwurst, ließ alle Spielerei, allen Firlefanz weg und erfreute sich an der natürlichen Frische des Brätgeschmacks, unterstrichen lediglich durch Pfeffer und Salz. Edle Einfalt und stille Größe, dem Zeitgeist entsprechend!
Zu Beginn der Curiositäts-Ära aber hatte Nürnberg 1648 abnorme Maßstäbe mit einer über 420 Meter langen Bratwurst gesetzt. Immer wieder sollten zu gegebenem Anlass noch längere Würste auftauchen, obwohl es das Guinness-Buch der Rekorde noch gar nicht gab. Barocke Freude an ungefährlichen Grenzen der Technik! Doch wie gesagt: Die Barockzeit blieb Episode.
Das 19. Jahrhundert

„Napoleon und die Bratwurst“.
Zu diesem Thema fällt einem nichts auf und nichts ein. Zwar ging Napoleons Gattin Marie Louise in die Lebensmittelgeschichte ein. Nach dem Sturz ihres großen Gatten wurde sie Kleinfürstin von Parma und verhalf dem Parmaschinken zu Weltruhm. Sie hatte auch einen Hang zu der fleischigen Fülle der salsiccia, der großen und dicken italienischen Bratwurst. Die salsiccia konnte aber nicht an den Erfolg des Parmaschinkens anknüpfen. Zum Glück für den Siegeszug unserer Bratwurst blieb die salsiccia wieder einmal auf der Strecke.

„Goethe und die Bratwurst“.
Auch dieses Thema ist nicht sehr ergiebig. Goethe war ein guter und trainierter Esser. So scheute er sich nicht, sich in der Theaterpause am Bratwurststand anzustellen, wie wir von einem seiner Besuche in Rudolstadt wissen. Deswegen kennen wir notgedrungen auch Äußerungen des Dichterfürsten über den Gegenstand unserer Betrachtung. Außer der Tatsache, dass er vor allem die kleinen Nürnberger Bratwürste mochte, lässt sich aber nichts Bemerkenswertes feststellen. Ähnlich geht es uns mit Schiller, Jean Paul, Novalis, Hegel, Marx, Engels, Nietzsche und anderen Größen des Jahrhunderts.

Das 19. Jahrhundert zog die Bratwurst aus ganz anderer Richtung in seinen Bann. Die Bratwurst geriet in den Strudel der industriellen Revolution. Erfindergeist und Züchterfleiß, diese Kombination führte zu neuen Ufern und die Bratwurst zu einem neuen Morgenrot. Es entstand die Produktionstechnik der Bratwurst: Maschinen zur Herstellung von Hackfleisch, sozusagen der Super-Fleischwolf, maschinelle Pfeffermühlen, Wurststopfmaschinen in solcher Größe, dass man von einer maschinellen Wurststopfanlage sprechen kann, Maschinen zum Walzen des Fleisches, Grammelpressen, Maschinen zum Herstellen von Fleischwürfeln, – jeder heutige Jungingenieur des Maschinenbaus kommt bei solchen technischen Erfolgsgeschichten ins Träumen und Schwärmen. Angetrieben wurde die Ungetüme per Hand, bei gewisser Größe mit Dampfkraft oder mit explosionsschwangerem Gasmotor. Später hielten Diesel- und Elektromotor Einzug.

Eine zweite Revolution löste der Züchterfleiß aus. Das hochbeinige, halb wilde und immer noch Eicheln fressende Borstenvieh im Spessart oder den anderen Mittelgebirgen verlor nun gänzlich seine Bedeutung als Fleischlieferant und verschwand schließlich von der Bildfläche. Die rundlich wohlgeformte, weichformige und deswegen so zarte Zuchtsau ist das Leitbild des 19. und 20 Jahrhunderts. Doch auch für die Zucht dieser herrlichen Geschöpfe brauchte es neben Züchterfleiß die gesamte Agrartechnik zur Vor- und Zubereitung des Schweinefutters. Die Agrartechnik zeigte umfassende Wirkung. Die landwirtschaftliche Produktion vervielfältigt sich. Die Anzahl der Schweine stieg damit ständig. Fallende Preise wurden durch Masse ausgeglichen. Mit der Fleischproduktion wächst der Verbrauch, vor allem auch von Bratwürsten.

Hinzu kommt das Problem der sozialen Revolution. Der Siegeszug der Kartoffel seit Ende der 70er Jahren des 18. Jahrhunderts hat Mensch und Schwein verändert. Die Kartoffel hat Hungersnöte verhindert und damit die industrielle Revolution erst ermöglicht. Unkontrolliert führte die industrielle Revolution zunächst zum Entstehen, dann zur Verelendung des Proletariats. Dem Aufstand der ausgebeuteten Massen beugte bekanntlich Bismarcks Sozialgesetzgebung vor. Die positive Ernährungslage in den zwei Jahrzehnten vor dem ersten Weltkrieg tat ein Übriges zur Konsolidierung der Gesellschaft. Sie erst schweißte das Volk zusammen. Die Bratwurst war der erfüllbare kulinarische Traum der Massen. Selbst die Sozialisten folgten nun ihrem Kaiser, ohne genau zu wissen wohin, vor allem in den Ersten Weltkrieg. Die öffentlichen Essgewohnheiten liberalisierten sich sogar schon vor diesem Krieg, noch in der guten alten Zeit. Dass man sich am Bratwurststand „eine Gezwickte“ kaufte, wie die Würzburger zum Bratwurst-Weck sagen, und auf der Straße verdrückte, das sahen manche Kreise auch als soziale Revolution an, als ersten Schritt zum Untergang des Abendlandes. Doch nicht das Abendland samt der Bratwurst gingen unter, sondern diese Kreise.

Sieht man deutlicher in das 19. Jahrhundert hinein, so macht man eine interessante Entdeckung. Der revolutionäre Zeitgeist, versinnbildlicht durch Streik, hatte sich schon zu Beginn des Saeculums angezeigt. In Coburg streikten 1814 die Schweinemetzger, die auf dem Markt ihre Bratwürste rösteten und anboten. Sie wollten eine Preiserhöhung durchsetzen. Einige Marktanwohner aus Kreisen des gehobenen Bildungsbürgertums drehten den Spieß um und verlangten, die wie Nebelwerfer rauchenden Rösterbuden für alle Zeiten zu beseitigen. Geruchsbelästigung und andere uns geläufige Umweltschutzgesichtspunkte wurden schon damals vorgeschoben. Nun aber gärte es im Volk. Die Coburger Obrigkeit traf die richtige Entscheidung mit dem sprichwörtlichen Fingerspitzengefühl, für das Coburg im ganzen 19. Jahrhundert berühmt war: Es blieb alles beim alten.

Die Weltkriege und ihre Folgen

Notzeiten während und nach den Kriegen waren keine Bratwurstzeiten. Das unerreichbare Genussmittel spukte nur in den Hungerträumen seiner Liebhaber herum. Der Magen blieb leer. Umso freudiger begrüßen wir die Wiederbelebung der Bratwurstszene nach der Währungsreform in Westdeutschland. Auch im Osten fügte sich die ideologisch neutrale Wurst in das politische Konzept.

In Westdeutschland kam es in den 50er Jahren zur so genannten Fresswelle. Die Bratwurst lieferte hierzu einen wesentlichen Beitrag. 1953 war das Geburtsjahr der Sulzfelder Meterbratwurst. Manche erhofften sich von diesem Ereignis sogar einen Paradigmenwechsel beim Bratwurstgenuss. Das war zwar ein Irrtum. Doch die Meterbratwurst hielt sich in Sulzfeld, auch wenn sie heute überwiegend nur noch als Halbmeter-Bratwurst verspeist wird. Gleich an zwei Wirtschaften wird auf das spektakuläre Ereignis der Erfindung der Meter-Bratwurst hingewiesen. Der „Goldene Löwe“ nennt sich Geburtshaus der „Meter Bratwurst“. An der „Ratsstube“ prangt die Inschrift „Erfinder der Meterbratwurst“. Am besten lässt man sich vor Ort die Gründerstory erzählen, einschließlich der sich widersprechenden Lehrmeinungen. Es lohnt sich, deswegen mehrfach nach Sulzfeld am Main zu fahren. Wein und mittelalterliches Stadtbild sind das den Appetit anregende Ambiente für den exzessiven Bratwurstgenuss. Wer den Rekord von derzeit 5,30 Metern bricht, speist kostenlos. Auf zur Tat!

Wir wollen uns einmal in die fünfziger Jahre zurück versetzen. Endlich konnte man sich das erste Auto leisten. Wohin ging die erste Ausflugsfahrt? Am besten nach Sulzfeld zur Meterbratwurst. Bei der Heimfahrt spürte man das beginnende Wirtschaftswunder in Magen, Darm und Unterbewusstsein. Die Meterbratwurst konnte damals noch kräftig „nachgespült“ werden. Die Fahruntüchtigkeit trat amtlich und gemäß Rechtsprechung erst bei 1,5 Promille ein. Paradiesische Zustände!

Beim Thema „Bratwurst nach den Weltkriegen“ überschattet eine zweite singuläre Entwicklung die anderen Ereignisse: Zwei Weltkriege konnten die schon genannte „Gezwickte“ nicht in ihrem Siegeszug aufhalten. Am Bratwurststand bei der Marienkapelle in Würzburg wurden sogar schon Helmut Kohl, Henry Kissinger und Bill Clinton (privat und incognito) gesehen, wie sie sich in die Schlange nach dem begehrten Gegenstand einreihten. Spätestens damit hatte sie begonnen, die Globalisierung der Bratwurst. Amerikanische Riesenstädte wurden die Auslandsbasis. Japan öffnete sich am Ende des Jahrtausends. Trotzdem besteht kein Grund zu Hochmut. Mag der Bratwurst zwar eine Vorreiterrolle der allgemeinen Globalisierung der Wirtschaft zukommen, auch ihre Globalisierung steckt noch in den Kinderschuhen. Dies muss für die kultur- und traditionsbewusste Jugend in Franken, Thüringen und der sächsischen Bratwurstregion Erbe und Auftrag zugleich sein. Die Ziele sind gesteckt, neben Lateinamerika und Russland vor allem China und Indien. Die größte Herausforderung dürfte dabei China darstellen. Aber was McDonald’s schafft, das müsste der Bratwurst doch ein Leichtes sein. Schon zum Weihnachtsmarkt 2001 in Xiang Gang (Hong Kong), laut Radio Charivari dem Nürnberger Christkindlesmarkt nachempfunden, wurden echte Nürnberger Bratwürste unter Palmen im Schatten eines 16 Meter hohen Christbaums angeboten.

Schweinfurt ist in seiner Geschichte oft eigene Wege gegangen. So auch bei der Bratwurst. Bei einer der beliebtesten Bratwurstbuden der Stadt wird aus der gebratenen fränkischen Bratwurst die Currywurst fabriziert. Man muss das einmal gegessen haben, sei es auch nur, um mitreden zu können. Vielleicht entsteht hier ein spezifischer Anstoß zur Globalisierung. Die Stadtverwaltung hatte den beliebten Wurstbrater zu Lebzeiten vom Volksfest ausgeschlossen, nicht wegen seiner unbestritten guten Wurst, sondern wegen des angeblich veralteten Designs seines Stands. Den Schweinfurter Bürgern dürfte dieses Design „wurscht“ gewesen sein. Was bei ihnen zählt, ist nur die Wurst.

An diesem Beispiel sehen wir: Geschichte deutet sich in Trends an. Bei der Trendsuche fällt etwas auf: Eine Tendenz zu Gourmet-Schnickschnack, etwa „Bratwürstlein an Sauerkraut“, wurde in unserem Untersuchungsgebiet noch nicht entdeckt. Ein echter Trend zeichnet sich aber in einer anderen Szene ab. In den letzten 20 Jahren des 20. Jahrhunderts tauchte die traditionell etwas bürgerlich biedere Bratwurst plötzlich auf den Tellern der Spargel-Gourmets am Main auf. Als Beilage zu Spargelgerichten ist die in der Pfanne gebratene Bratwurst, grob oder fein, im Vormarsch, – im Kampf gegen Schinken, gefüllte Lendchen, Chateaubriand und andere Leckereien. Die Entwicklung ist noch zu jung, um eine soziologisch bzw. kulturhistorisch fundierte Deutung zu wagen.

 

VIERTER und LETZTER TEIL: 
Das Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft
Intimgeschichte

Haben wir die Bratwurst bisher unter menschheitsgeschichtlichem Aspekt betrachtet, so soll der konkreten Bratwurst nun etwas „auf und unter die Haut geguckt“ werden.

Die Geschichte einer idealtypischen singulären Bratwurst beginnt natürlich schon beim Schwein. Der Stellenwert von Züchterfleiß und Futterindustrie wurde bereits für das 19. Jahrhundert gewürdigt. Ihre Bedeutung ist im 20. Jahrhundert ständig gewachsen. Die Schweinemast befindet sich ja in anhaltendem Wandel als Folge sich permanent bewegender Verbraucherwünsche. Dabei soll das Fleisch möglichst solid und gleichzeitig doch ganz zart, möglichst fettarm und doch geschmacksreich sein. Man muss kein Fachmann sein, um zu konstatieren, wie hoch hier die Latte gelegt ist.

Und nun ganz konkret: Ist das Schwein beim Metzger gelandet, so liegt die wesentliche Entscheidung für das Schicksal der künftigen Bratwurst darin, ob die Fleischstücke im Brät ganz klein oder etwas größer sind. Davon hängt es ab, ob wir grobe oder feine Bratwürste kaufen können. Regional unterschiedlich ist auch das Verhältnis von Vollanteil zu Feinanteil des Bräts. Eine Ideologie eigener Art! Im Gebiet des ehemaligen Hochstifts Bamberg oder im thüringischen Sonneberg bevorzugt man feiner gecutterte Würste als etwa im Coburger Raum. Manchmal stimmen die Geschmacksgrenzen sogar mit den Konfessionsgrenzen überein. Qualitätsentscheidend ist aber, dass möglichst gutes, ja das beste Fleisch genommen wird. Schließlich soll ja die Königin der Würste entstehen. Ferner muss der Wassergehalt der Bratwurst deutlich unter dem der Brühwürste liegen. Wir wollen mit der Bratwurst nicht unseren Durst stillen.

Was die Bratwurst im Wesenskern von anderen Würsten unterscheidet? Sie wird aus rohem frischen Fleisch hergestellt. Frisch hergestellt, frisch gebraten, frisch genossen – das ist ihre Philosophie. Das Schweinefleisch dominiert, wie schon gesagt wurde. Doch sind auch Kalbfleisch- und Rindfleischanteile bekannt. Die regionalen Unterschiede beruhen oft auf einer regional differierenden Mischung dieser Anteile. Ist die Wurst sehr hell, dann ist oft Kalbfleisch mit im Spiel. Bei den mainfränkischen Blauen Zipfeln schwören manche Fans auf die Groben mit hohem Rindfleischanteil. Selbst bei der Coburger Bratwurst darf der Rindfleischanteil nicht unter 15 % liegen. Erst gegen Ende des letzten Jahrtausends (1993) hat die Metzgerinnung in Coburg dies bekräftigt.
Auf dem Rhönhof beim Schwarzen Moor in der Langen Rhön bekam man sogar Lammbratwürste im Thüringer Stil. Bei vielen Bratwurstarten stammen die Därme, in die das Brät gewurstelt wird, häufig vom Lamm oder Schaf.

Das individuelle Geheimnis jeder Bratwurst und jedes Metzgers ist die Würzung. Die wichtigsten Gewürze sind allbekannt: Salz, Pfeffer, Majoran, Muskat. Überraschender für den Laien ist schon die Zitrone. Die ganz kleinen Geheimnisse kann man nur erahnen: zum Beispiel ein unmerklicher Hauch von Ingwer, Zimt oder Cardamon. Tatsächlich unmerklich darf dieser Hauch nur sein. Wenn man den Geschmack solcher Exotica deutlich erkennt, sollte man den Metzger wechseln. Das Wichtigste ist nämlich: Die Gewürze müssen den Eigengeschmack des frischen Bräts verstärken, unterstreichen und dürfen ihn nie übertönen. Deswegen geht es auch ohne solche Exotica.

Wie eine Bratwurst schmeckt, hängt natürlich von ihrer Zubereitung ab. Der Unterschied zwischen den in Wein- und Zwiebelsud gegarten Blauen Zipfeln und Nürnberger Rostbratwürsten muss nicht eigens erklärt werden. Der Unterschied zwischen den kleinen Nürnbergern und den größeren, aber immer noch nicht großen Coburger Rostbratwürsten hängt vom Brennmaterial ab. In Coburg sind es die Kiefernzapfen, Coburger Weihrauch genannt, die der Rostbratwurst den besonderen Gustus, ihrem Aussehen den besonderen Teint und der Innenstadt rund um den Markt die besondere Duftnote verleihen. Doch auch ohne Kiefernzapfen müssen die „Coburger“ etwas Besonderes an sich haben. An der mainfränkischen Fachhochschule Würzburg-Schweinfurt wurde ein Bratwurst- Geschmackstest unter Einbeziehung einheimischer und ausländischer Studierenden durchgeführt. Dabei hat überraschend die Coburger Bratwurst gewonnen, allerdings nur knapp vor der Nürnberger und sonstigen fränkischen sowie thüringischen Konkurrenz. Das sollte bei der Konkurrenz Wachsamkeit auslösen und Reaktion zeigen.

Literatur- und Kunstgeschichte

Zum Schluss ein nur sehr kurzes Kapitel: Bratwurst und Kunst. In der Malerei und Bildhauerkunst der Bratwurstregion sucht man vergebens nach der Bratwurst. Die Kartoffel hat im jungen van Gogh ihren Maler gefunden, die Bratwurst muss künstlerisch noch wach geküsst werden. Ansätze gibt es in der Comic-Kunst, jedoch auf Gallien bezogen und nicht auf unseren Raum.
Die Bratwurst spielt auch in der Literatur, wenn überhaupt, eine höchst marginale Rolle. Einen Bratwurstroman zu schreiben, hieße, eine echte Marktlücke zu füllen. Johannes Mario Simmel hatte zu seiner Zeit zwar die Sulzfelder Meterbratwürste schriftlich und überschwänglich gelobt. Sie zum zentralen Thema eines seiner Erfolgsromane zu erheben, dazu konnte er sich dann doch nicht durchringen.

Man müsste wenigstens vermuten dürfen, dass die Lyrik ein namhaftes Stichwort „Bratwurst“ kennt. Lyrik kann nach der Definition einer bekannten Lyrik-Verlegerin „eine Brücke spannen zwischen den Kulturen“. Wer würde wohl mehr als Träger dieser Brücke geeignet sein als unsere Lieblingswürste, die Bratwürste in ihrer fränkisch-thüringisch-sächsischen Vielfalt. Vielleicht liegt es am Reim, dass in der Lyrik nichts Wesentliches geschieht. Auf „Mensch“ reimt sich ja auch nichts, auf „Wurst“ nur „Durst“. Vergleichbar der Herz-Schmerz-Lyrik ist zwar eine Wurst-Durst-Lyrik entstanden. Wir versagen es uns, für deren Ergebnisse Zeit zu verschwenden, zumal der inhaltliche Schwerpunkt nicht auf der Wurst sondern auf dem Durst liegt. Selbst die Wurst wird dabei meist nur in ihrer allgemeinsten Form angesprochen. Die Bratwurst konkret, die Königin der Würste, tritt sogar in diesem Genre in den Hintergrund des Schweigens. Lediglich eine auf Heimatliebe ausgerichtete Mundartdichtung greift sporadisch und marginal auf die Bratwurst zurück, wie das berühmte Hämwieh-Gedicht des Thüringers Anton Sommer (1816 – 1888) beweist. Am Gesamtbild ändert es nichts, dass die Bratwurst in der Lyrik, ja in der gesamten ernsten Literatur, unterrepräsentiert ist.

Es gibt über die Bratwurst auch keine abfälligen Spottverse wie über andere Wurstarten („Das Innere der Leberworscht, ist immer noch ganz unerforscht“). Dieser Umstand bringt uns der Lösung näher. Die Bratwurst wird von vielen respektvoll als ein Teil von uns selbst empfunden. Über sich selbst, die eigenen Körperteile, spottet man nicht und schreibt man nicht. Es gibt ja auch keine Gedichte über unser Wadenbein, unsere Rücken- oder Unterarm-Muskulatur und andere unerwähnte und doch hoch geachtete Körperteile. Das gilt entsprechend auch für selbstverständliche Merkmale der eigenen Identität, seien sie individueller oder – wie die Bratwurst – kollektiver Natur. Das unergiebige Thema „Bratwurst und Kunst“ hat uns damit zu einer ganz anderen, aber entscheidenden Erkenntnis geführt: Die Bratwurst ist wesentlicher Teil unserer kollektiven Identität. Diese Erkenntnis könnte der Höhepunkt und folgerichtig der Schlusspunkt unserer Betrachtung sein.

Aber bei näherem Hineinsehen in die Fachliteratur fällt einem etwas ganz anderes auf. Die ernsten Ausführungen über die Zusammensetzung oder Würze des Bräts usw. sind umgarnt mit Anekdoten, umschrieben mit humorvollen Worten, umrankt von witzigen Einfällen. Man schmunzelt als Leser, man freut sich, man lacht gerade heraus. Die umfangreiche Fachliteratur zur Bratwurst entpuppt sich weitgehend als eine Ausdrucksform der Heiterkeit unserer Region und damit unserer Lebensart. „Das fränkische Bratwurstbuch“ (1994) von Jochen Grashäuser und Walter Schäfer ist wohl das Highlight, übertroffen nur von Heinrich Höllerl, Die Bratwurst ist eine Fränkin, Verlag Echter. Aber auch die von einem stilleren Humor geprägten, kürzeren Ausführungen eines Werner Dettelbacher, eines Martin Koch und vieler anderer führen zu einem geschlossenen Gesamtbild: Das Schrifttum über die Bratwurst ist eine eigene Literaturgattung. Diese wurde bisher nur noch nicht als solche erkannt. Die Bratwurst herstellende und verarbeitende Wirtschaft ist aufgerufen, eine Stiftungsprofessur zur Erforschung und Pflege dieser heiteren Literaturgattung zu schaffen. Wäre das nicht eine Herausforderung für einen ehrgeizigen, jungen, frisch habilitierten Germanisten! Wäre das nicht eine Chance für Franken, Thüringen, das Vogtland, ja für ein Lebensgefühl mit einem neuen Lebenssymbol, der Bratwurst! Sollte sich nicht sogar die Oberpfalz aus dem bajuwarischen Sog lösen und in die gemeinsame Bratwurstfront eintreten. Die Oberpfälzer Bratwürste könnten leicht mithalten. Man muss sie einmal in Amberg probieren und schon ist man überzeugt. Unter den Altbayern würde das bajuwarische Stiefkind Oberpfalz sowieso nicht glücklich.

Epilog

Die Figur des heiligen Mauritius auf dem Coburger Rathausdach hält einen Gegenstand in der Hand, den die Coburger als Bratwurst identifizieren. Der Heilige, als Führer der thebäischen Legion mit einem Feldherrnstab ausgestattet, mag sich über diese Interpretation seines Attributs gewundert haben. Plötzlich fand er sich in der Rolle des Schutzheiligen der Coburger Bratwurst. Nun wissen wir aus der Geschichte der Volksfrömmigkeit, dass Heilige selbst scherzhafte Aufgabenzuteilungen nicht verübeln, sondern sehr ernst nehmen. Die Geschichte der Volksfrömmigkeit interpretiert Aufgabenzuweisungen an die Schutzfunktion eines Heiligen als Ausdruck der Hoffnung. Wollen wir das ‚Prinzip Hoffnung’ mit der Bratwurst anreichern! Empfehlen auch wir die Zukunft unserer Bratwürste diesem einschlägig erfahrenen Heiligen! Hoffnung bezieht sich stets auf die Zukunft. Möge Sankt Mauritius schützend seinen Feldherrnstab nicht nur über die vertrauten Coburger Bratwürste halten sondern auch über alle anderen, kleineren, größeren, dickeren, dünneren und krümmeren Exemplare dieser Spezies!

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