Huntingtons Aktualität

gefunden bei Sezession

von Jörg Seidel

Vor mehr als 20 Jahren, 1996, erschien eines der am meisten diskutierten und skandalisierten Bücher der Neuzeit:
Samuel Huntingtons Kampf der Kulturen. In ihm entwarf er ein neues Paradigma des globalen politischen Zusammenlebens für die Zukunft. Anlaß genug, das Buch erneut zu studieren und abzuklopfen.

In Deutschland war die Rezeption seinerzeit unisono negativ und das kann in der Retrospektive auch nicht überraschen, denn Huntington trat fast allen virulenten Überzeugungen mächtig auf die Füße. Sein Werk war eine deutliche Abkehr von der marxistischen Grundüberzeugung, die durch die Frankfurter Schule längst in Soziologie und Politikwissenschaft flächenübergreifend eingesickert war, daß gesellschaftliche Veränderungen sich ökonomisch und sozial erklären lassen müßten. „Die menschliche Geschichte ist eine Geschichte von Kulturen“ (49) – das war ein direkter Angriff auf Marx.

Auch der Neoliberalismus, der sich durch Fukuyamas These vom „Ende der Geschichte“ gerade als Endsieger der Historie begriffen hatte, wurde unsanft aufgeschreckt.

Die Konstruktivisten, Relativisten und Feministen wiederum konnten an einen Kampf der Kulturen nicht glauben, sondern nur „an den Kampf um Definitionen“ innerhalb von Kulturen (Thomas Meyer).

Selbst die Globalisierungsapologeten wurden nicht warm – Huntingtons Absage an den westlichen Universalismus mußte sie vor den Kopf stoßen. Weder hielt er den Sieg des liberalen Denkens für alternativlos, noch glaubte er das Mantra, daß Handel gleich Befriedung sei oder technische Modernisierung automatisch zu Verwestlichung führen müsse (93ff.).

Wieder andere warfen ihm „Kulturessentialismus“ vor, eine zu homogene Sicht auf die Kulturkreise, die er als statische, voneinander deutlich abtrennbare Bereiche betrachte und damit der Realität in einer zusehends sich globalisierenden Welt entbehre. Überhaupt fehlte der Vorwurf der Komplexitätsreduktion in fast keinem Kommentar, denn auch wenn Huntington von einer multiplen Welt ausging, so endete er doch in der Bipolarität, im Manichäismus von gut-böse, Wir-Sie etc.

Auch wenn dieses Argument recht einfach auf eine Leseschwäche zurückzuführen war, sowie die Unfähigkeit die Voraussetzung jeglicher theoretischer Modellbildung zu begreifen – nämlich mit abstrakten Begriffen, notwendigen Vereinfachungen zu arbeiten –, fand es schnell Eingang in den Mythos des Clashes. Ähnlich wie bei Sarrazin scheinen viele der Kritiker nur vom Hörensagen her zu argumentieren und haben das Buch selbst nie gelesen. Nur so ist auch der Rassismusvorwurf zu erklären, der immer wieder auftaucht und über den Kurzschluß Islam-Araber zustande kam. Hier gilt Sloterdijks Diktum:

    Das schlechte Lesen ist eine Waffe, die von den Teilnehmern am Wettbewerb um Aufmerksamkeit immer unverhohlener eingesetzt wird. … Die guten intellektuellen Manieren werden vom Textmobbing abgelöst.

Und schließlich gab es auch Feuer aus der postmodernen Ecke, wo man die plurale Identität verteidigen wollte und unter dieser ist die Kulturzugehörigkeit – für Huntington das Primat – eben nur eine. Unter all diesen Abwehrmechanismen lagen jedoch vier systemische Ursachen.

    Zum einen konnte nicht sein, was nicht sein durfte.

    Zum anderen fürchtete man, daß ein solches Paradigma zu einer self-fullfilling prophecy werden könne, denn wenn man mit Differenzen agiert, würde man selbst nur welche hervorrufen und dagegen hilft nun mal nur totale Toleranz und nachsichtiges Nachgeben. Jürgen Habermas sah es demzufolge auch utilitaristisch: Huntington konnte zur Legitimation genutzt werden, durch Bush etwa oder eben durch „den Kapitalismus“: „Das Thema ‚Kampf der Kulturen’ ist oft der Schleier, hinter dem die handfesten materiellen Interessen des Westens (zum Beispiel an der Verfügung über die Erdölvorkommen und der Sicherung der Energiezufuhr) verschwinden“.

    Drittens schließlich kam der amerikanische Professor zur Einsicht, daß der Multikulturalismus zum Scheitern verurteilt sei, was man in Deutschland nicht gern hörte, wie man sich auch,

    viertens, im Nachkriegsdeutschland das geopolitische Denken abgewöhnt hatte und es seither mit Argwohn betrachtete.

Im Jahre 2019 scheinen das starke Gründe zu sein, Huntington erneut zu befragen. (Auf die begrifflichen Schwierigkeiten, zwischen Kultur und Zivilisation zu unterscheiden, muß an dieser Stelle leider verzichtet werden.)

    Das zentrale Thema dieses Buches lautet: Kultur und Identität von Kulturen, auf höchster Ebene also die Identität von Kulturkreisen, prägen heute, in der Welt nach dem Kalten Krieg, die Muster von Kohärenz, Desintegration und Konflikt. (19)

    Kulturen sind die ultimativen menschlichen Stämme, und der Kampf der Kulturen ist ein Stammeskonflikt im Weltmaßstab. (331).

Dabei unterscheidet er acht große Kulturen und Kulturkreise, die sich als „höchste kulturelle Gruppierung von Menschen“ durch „Sprache, Geschichte, Religion, Sitten, Institutionen als auch durch subjektive Identifikation der Menschen mit ihr“ (54) definieren. Das sind nebst Kernstaaten: Sinisch (China), Japanisch (Japan), Hinduistisch (Indien), Islamisch (ohne Kernstaat), Slawisch-Orthodox (Rußland), Westlich (USA, Deutschland, Frankreich, Großbritannien), Lateinamerikanisch (ohne Kernstaat) und Afrikanisch (evtl. Südafrika).

Der Kern der westlichen Kultur bestünde aus der (nicht statisch zu verstehenden) Kombination: Klassisches Erbe, Katholizismus/Protestantismus, europäische Sprachen, Trennung von Kirche und Staat, Rechtsstaatlichkeit, gesellschaftlicher Pluralismus, Repräsentativorgane und Individualismus (99f.). Diese wie jede andere Kultur stünde in einem Spannungsverhältnis zu den jeweils anderen, wobei das Teilen einer gemeinsamen Grenze selbstverständlich ebenso intensivierend wirkt, wie die inhaltliche Nähe oder Ferne zu dieser Kultur.

Folglich ergibt sich für den Westen eine besondere Herausforderung durch den Islam. Dieser wiederum durchlaufe eine Phase der „Resurgenz“, des Erstarkens im Zuge des Versuchs der Modernisierung ohne sich zu verwestlichen. Hilfreich seien dabei „spektakuläre Raten des Bevölkerungswachstums“ (181) und ein Jungmännerüberschuß als tragender demographischer Impuls. Besonders volatil bleibt die islamische Welt auch durch das Fehlen eines Kernstaates.

Kernstaaten lösen bei Huntington die traditionellen Supermächte ab (247), stabilisieren aber auch die jeweilige Kultur. Diese findet sich entlang ihrer gemeinsamen Feindbilder und kulturellen Identität zusammen, was freilich einen dialektischen Prozess auslöst. Einerseits – das läßt sich am Europa des 21. Jahrhunderts gut verdeutlichen – rücken die Kulturen näher zusammen, sondern sich nach außen ab, andererseits findet eine Ausdifferenzierung nach innen, ein starkes Bewußtsein der nationalen und regionalen Identitäten statt.

Andersgeartet sind die Loyalitätsstrukturen im Islam, wo sie sich traditionellerweise mehr „am Stamm, an der Sippe und der erweiterten Familie“ orientieren (280). Einigende Kraft ist hier nicht die Nationalstaatlichkeit oder ein politisches Gremium, sondern die Religion. „Im Islam sind die kleine Gruppe und der große Glaube, der Stamm und die ummah, Grundlage von Loyalität und Bindung“ – was natürlich, wenn es denn stimmt, große Bedeutung für Migrationsgesellschaften haben würde. „Darüber hinaus ist der Gedanke eines souveränen Nationalstaates unvereinbar mit dem Glauben an die Souveränität Allahs und den Primat der ummah.“

Im Übrigen meint Huntington auch „umkämpfte Bruchlinien zwischen dem Islam und seinen orthodoxen, hinduistischen, afrikanischen und westlich-christlichen Nachbarn“ (291) feststellen zu können, der Konflikt Westen-Islam sei also nur einer von vielen. Der Satz „Die Grenzen des Islam sind in der Tat blutig, und das Innere ist es ebenfalls“ (420) fehlte in kaum einer empörten Reaktion. Dabei versucht Huntington deskriptiv zu bleiben und begründet seine Position selbstredend. Das „historische Konflikterbe“, das „von allen beschworen und instrumentalisiert werden kann“ (422) läßt sich theologisch, historisch und geographisch recht überzeugend nachweisen (429ff.)

Unter anderem affiziert das die sogenannten „Bruchlinienkriege“, die Huntington analysiert und voraussagt. Die Darstellung des Zerfalls Jugoslawiens läßt sich – trotz einiger Anomalien – damit ebenso erklären wie er den Ukraine-Konflikt inklusive Krimkrise sehr präzise ankündigen konnte. Auch Griechenlands Probleme mit der EU könnten mit den Bruchlinien, neben der allgemein anerkannten ökonomischen Verursachung, eine weitere Erklärung finden. Und ob die Türkei – deren Reislamisierung angekündigt wird – ein Mitgliedstaat der EU werden sollte, wird ebenfalls beantwortet … Dies sind nur einige Beispiele einer ganzen Reihe beeindruckender Erklärungen vielfältiger Konflikte; sie bestätigen die These des „Clashs“ als durchaus brauchbar.

Auch hochaktuelle Fragen lassen sich mit Huntington behandeln. Zehn Jahre vor Heinsohn erkennt Huntington die demographische Dynamik. Migrationsbewegungen sind die Folge, aber Migration schafft auch Migration, „hält sich selbst am Laufen“. Huntington hält sie für die westlichen Gesellschaften für essenziell wichtig: Sie

    könnte eine potentielle Quelle der Auffrischung und neuen menschlichen Kapitals werden, sofern sie zwei Bedingungen erfüllt: erstens müßten Priorität tüchtige, qualifizierte, tatkräftige Menschen mit dem im Gastland benötigten Talent und Fachwissen haben; und zweitens müßten die neuen Migranten und ihre Kinder an die Kultur des jeweiligen Landes des Westens assimiliert werden (500).

Es gäbe ansonsten keinen einzigen historischen Beleg dafür, daß eine Gesellschaft Massenimmigration überlebt hätte. Multikulturelle Gesellschaften seien eine Illusion, eine „Chimäre“ (508):

    Die Machthaber anderer Länder haben manchmal versucht, ihr kulturelles Erbe zu verleugnen und die Identität ihres Landes von der einen Kultur zu einer anderen zu verschieben. Bis heute haben sie damit in keinem einzigen Fall Erfolg gehabt, vielmehr haben sie schizophrene, zerrissene Länder geschaffen. Die Multikulturalisten in Amerika verwerfen auf ähnliche Weise das kulturelle Erbe ihres Landes. (…) Die Geschichte lehrt, daß ein so beschaffenes Land sich nicht lange als kohärente Gesellschaft halten kann. (503).

Zum Schluß wendet Huntington die Perspektive und wagt den Blick in den Spiegel:

    Viel bedeutsamer als wirtschaftliche und demographische Fragen sind Probleme des moralischen Verfalls, des kulturellen Selbstmords und der Uneinigkeit des Westens. (500).

Kriminalität, Drogen, Verfall der Familie, sinkende gesellschaftliche Beteiligung, Entpolitisierung, nachlassende Arbeitsethik, Bildungsdefizite und Absenken der Bildungsstandards …, das sind die eigentlichen Probleme der westlichen Gesellschaft. Sie höhlt sich selber aus. Trotzdem hängt sie – das ist die Außenseite – dem Traum des westlichen Universalismus nach, glaubt also, ihre „Werte“ weltweit verkünden zu müssen.

Aus Huntingtons Ansatz ergibt sich stattdessen das Gebot der Nichteinmischung unter Akzeptanz anderer Kulturformen. Lange vor Irak, Libyen und Syrien schrieb er, „daß eine Intervention des Westens in Angelegenheiten anderer Kulturkreise wahrscheinlich die gefährlichste Quelle von Instabilität und potentiellem globalen Konflikt in einer multikulturellen Welt ist“ (514).

Ein Argument mehr – unter vielen – den „Clash of civilization“, den „Zusammenstoß der Kulturen“ (und nicht „Kampf“!) neu und ohne ideologische Scheuklappen zu lesen.

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