Kapitel 1 – Vorwort
»Die Welt von gestern“ – eine Reminiszenz an Stefan Zweig
„Wer seine Wurzeln nicht kennt, kennt keinen Halt.“
Stefan Zweig
Was hat »meine Welt von gestern“ mit Stefan Zweigs Epoche zu tun? Es sei schwer – schreibt Zweig in seiner großartigen Biographie und Zeitschilderung – der Generation von heute, die in Katastrophen, Niedergängen und Krisen aufgewachsen sei, den Optimismus und das Weltvertrauen zu schildern, „die uns junge Menschen seit jener Jahrhundertwende beseelten“. Vierzig Jahre Frieden hätten den wirtschaftlichen Organismus der Länder gekräftigt, „die Technik den Rhythmus des Lebens beschwingt, die wissenschaftlichen Entdeckungen den Geist jener Generation stolz gemacht; ein Aufschwung begann, der in allen Ländern unseres Europa fast gleichmäßig zu fühlen war“. Eine wunderbare Unbesorgtheit sei damit über die Welt gekommen, schreibt Zweig weiter und fragt:
„Was sollte diesen Aufstieg unterbrechen, was den Elan hemmen, der aus seinem eigenen Schwung immer neue Kräfte zog? Nie war Europa stärker, reicher, schöner, nie glaubte es inniger an eine noch bessere Zukunft, niemand außer ein paar schon verhutzelten Greisen klagte wie vordem um die ,gute alte Zeit‘“.
Stefan Zweig schildert sein Jahrhundert mit all den lieb gewonnenen Dingen, die langsam zerfallen und demontiert werden. Er meldet sich als Zeitzeuge zu Wort, der belegt, wie es einmal war und wie es nie wieder werden kann. Seine Erinnerungen sind ein melancholischer Abgesang auf eine glanzvolle Vergangenheit, die in seinen Augen unwiederbringlich verloren scheint: „Wir haben uns (…) die dümmste Epoche der Weltgeschichte für unser kurzes Leben ausgesucht“, schrieb er in einem Brief. Sein Selbstmord 1942 dürfte nicht zuletzt eine Konsequenz dieser Enttäuschung gewesen sein.
Auch ich bin in eine Zeit des Friedens und eine Zeit des Aufbruchs hinein geboren worden und aufgewachsen. Drei Jahre nach der zweiten Jahrhundertkatastrophe des zurückliegenden Säkulums.
1945 war Deutschland nahezu vollkommen zerstört. Es gab Millionen von Entwurzelten: Ausgebombte, Heimatvertriebene und Flüchtlinge, wegen der Rasse oder politischen Gesinnung Verfolgte; Menschen, die sich jetzt auf dem Gebiet des Restes des »Reiches« sammelten. Den Rest, den die Sieger dem deutschen Volk noch zugestanden hatten.
Jahrhundertealte Siedlungs- und Wohngebiete im Osten Deutschlands und in Mittel- und Osteuropa waren unwiederbringlich verloren. Die Städte im Rumpfdeutschland waren Ruinenlandschaften. Von einer Infrastruktur konnte man nicht mehr zu sprechen – sie war schier komplett ausradiert. Die Versorgung mit Lebensmitteln und den sonst zum Überleben notwendigen Gütern war auf dem Boden liegend und es kam in den Jahren 1946 bis 1947 zu erneut todbringenden Hungerkatastrophen.
Dann 1948: Währungsreform und Beginn eines nie erwarteten Wirtschafts- und Lebenswunders in dem Teil des Deutschlands, in dem ich Großwerden durfte. Zuwege gebracht hat dies die Generation unserer, meiner Eltern und Großeltern; gleichwohl eine Generation, „die in Katastrophen, Niedergängen und Krisen aufgewachsen“ war. Wir, die mit der »Gnade der späten Geburt« gesegneten, haben von deren Arbeit und Leistungen Nutzen gezogen. Und waren freilich damit auch aufgerufen, dies auszubauen und Bewahrenswertes zu bewahren. Das ist meine Überzeugung geworden.
Ich – wir – haben mehr als 70 Jahre des Friedens erlebt, die – wie auch Zweig es für seine Zeit formulierte – „den wirtschaftlichen Organismus der Länder gekräftigt, (die Technik) den Rhythmus des Lebens beschwingt, die wissenschaftlichen Entdeckungen den Geist jener Generation stolz gemacht; ein Aufschwung begann, der in allen Ländern unseres Europa fast gleichmäßig zu fühlen war“.
Aber die von Zweig beschworene „wunderbare Unbesorgtheit“ war nicht über die Welt gekommen. Wir erlebten zwar keinen heißen, aber doch den stets als bedrohlich empfundenen „Kalten Krieg“. Bis denn auch dieser unserer so glücklichen Generation 1989 zum guten Schluss nahezu im Taumel abhandenkam.
Ich bin von dieser Zeit der 50er und 60er Jahre am stärksten geprägt worden. Natürlich zuallererst von meiner Familie und dem Umfeld, in das diese Heimatvertriebenen und anfänglich entwurzelt scheinenden Menschen kamen. Ich fühlte mich von Anfang an eingewurzelt in dieser fälligen neuen Heimat. Dazu in der Geschichte meiner Familie und der meines Landes, das man „deutsch“ bezeichnet: ja, „von der Etsch bis an den Belt“.
„Wenn man nicht verwurzelt ist in seiner Geschichte – auch der persönlichen Geschichte und der Familiengeschichte. Was ist denn dann da?“
Johannes Paul II. schrieb in seinem „Brief an die Familien“:
„Unter diesen zahlreichen Wegen ist die Familie der erste und der wichtigste. Ein gemeinsamer Weg und doch ein eigener, einzigartiger und unwiederholbarer Weg, so wie jeder Mensch unwiederholbar ist; ein Weg, von dem kein Mensch sich lossagen kann. In der Tat kommt er normalerweise innerhalb einer Familie zur Welt, weshalb man sagen kann, daß er ihr seine Existenz als Mensch verdankt. Fehlt die Familie, so entsteht in der Person, die in die Welt eintritt, eine bedenkliche und schmerzliche Lücke, die in der Folge auf dem ganzen Leben lasten wird.“
Für mich gibt es das, was Nietzsche In seinem Essay „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ erwähnt: „das Wohlgefühl des Baumes an seinen Wurzeln“.
Ich kann mich nicht mit Stefan Zweig messen, aber auch ich möchte „meine Welt“ beschreiben, mit „all den lieb gewonnenen Dingen, die langsam zerfallen und demontiert werden“.
Ich habe intensiv berührende Brüche in meinem Leben und in „meiner Welt“ erlebt und möchte sie auch ergründen:
Wie kam es zu dieser Zerrüttung unserer einst so hoffnungsfroh stimmenden Demokratie, deren Abgleiten in erneut zu befürchtende, totalitaristische politische Strukturen in den letzten zwei Jahrzehnten.
Wie kam es zu diesem eingreifenden und als negativ empfundenen Wandel in »meiner« Medizin und der Wissenschaft, die meinem Beruf als Arzt zu prägen haben.
Warum das Verschwinden von Charakter, Bildung, Vertrauenswürdigkeit nicht nur bei den sogenannten Eliten, auf offener Bühne in der Gesellschaft.
Prägend war für mich aber in diesen Zusammenhängen die Verantwortung, Kinder groß zu ziehen. Daran zu arbeiten, ihnen gleichwohl den Weg in eine bessere Welt zu bereiten!
Ob das gelang, müssen die schlussendlich beurteilen.
Und dann – nicht richtig geglaubt nach mehr als 70 Jahren Frieden – wieder ein Krieg auf europäischem Boden.
Wir haben uns nicht – wie Stefan Zweig meint – die dümmste Epoche der Zeitgeschichte ausgesucht, sondern eine, die unvergleichlich mehr Veränderungen im Globalen, im Technischen und Wissenschaftlichen, im Sozialen, wie in den individuellen Anforderungen, erbracht hat, als in den vorausgehenden Jahrhunderten. Meine Generation hat Besonderes erlebt und mitgestalten können, den kein Land und kein Volk wie das unsere: Ob nur zum Besten, für eine noch bessere Zukunft“? Oder war vordem die alte Zeit besser, wie ein vielleicht schon bald „verhutzelter Greis“ meint.
Ich habe kein „Epos“ im Auge, wie Stefan Zweig mit seinen Erinnerungen. Das wäre vermessen. Mit dem mir eher gemäßen Format der „Chronik“, dazu unprätentiöse Erzählungen oder Aufsätze, will ich es versuchen. Aber die einzelnen Teile sollten sich aber doch zu einem aussagekräftigen Ganzen fügen, das „meine Welt« und mich als darin eingebettete Person darstellen mag.
Bevor ich in meine Schilderungen einsteige, noch eine Aussage von Karl Jaspers, dessen Denken mich oft tonangebend begleitet hat.
»Unser Muße können wir nicht besser verwenden, als mit den Herrlichkeiten der Vergangenheit vertraut zu werden und vertraut zu bleiben und das Unheil zu sehen, in dem alles zugrunde ging. Was wir als gegenwärtig erfahren, verstehen wir besser im Spiegel der Geschichte. Was die Geschichte überliefert, wird uns lebendig in unserem eigenen Zeitalter. Unser Leben geht voran in der wechselseitigen Erhellung von Vergangenheit und Gegenwart.«*
Ich will damit an dieser Stelle einen Dank aussprechen: an meine Lehrer – ich hatte in der Erinnerung nur gute Lehrer; an kluge Freunde und Kollegen, die ich in meinem Leben hatte – und auch »Chefs«; an meine Eltern und Großeltern; an alle, die mich mit dem vertraut machten, was in dem obigen Zitat ausgedrückt werden soll. Und mich zu dem machten, was aus mir geworden ist.
- Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Piper Verlag München, 1966