„Frisch geschlagen …“

Ich weiß nicht, was meinen Vater geritten hatte, als er beschloss, diesmal einen Christbaum selbst im Wald zu schlagen. Damals – Ende der Fünfziger, Anfang Dezember.
Es war immer noch kein Weihnachtsbaum im Haus, und die ersten Weihnachtsfeiern standen bereits an: Die Sportler, der Volkschor, die Sudetendeutschen und die Schlesier hätten denn ihre Feiern im Sternsaal, ohne den obligatorischen Christbaum begehen müssen.
Also beschloss mein Vater, diesmal nicht erst über den Huttarsch für den Stern einen Baum zu bestellen, sondern selbst zu Axt oder Säge zu greifen.
Begründung: „Früher haben wir uns den Christbaum immer selbst aus dem Wald geholt. Zwar erst am Tag vor Heiligabend, aber das war Tradition!“
Wollte er wohl die Tradition aus seiner alten Heimat, dem Böhmerwald, wieder aufleben lassen?
Doch wie den Baum transportieren? Vater entschied, mit dem Viehanhänger in den Wald zu fahren – mit demselben, in dem sonst Säue oder Rinder transportiert wurden.
Er hatte sich ein Waldstück hinter Wannberg ausgesucht, am Hang hinunter zum Püttlachtal. Und er behauptete dreist, er kenne den Bauern, dem das Stück gehörte, und der hätte „sicher nichts dagegen“. Dort gäbe es zudem besonders schöne Tannen und Fichten. Ich sollte als Aufpasser mitfahren – und es wäre ja Tradition und ein Abenteuer für mich.
Wieso eigentlich Aufpasser? Und wieso Abenteuer, wenn der Waldbesitzer angeblich Bescheid wusste?
Das Problem begann schon mit der Zufahrt: ein enger Forstweg ohne Parkmöglichkeit tief im Wald. Wie sollte man dort mit dem Gespann wenden? Also stellten wir den Opel samt Anhänger etwas abseits der Straße nach Pottenstein ab.
Es war vier Uhr nachmittags und noch hell, als wir unseren Raubzug begannen. Ich trug den Fuchsschwanz aus der Werkzeugkiste meines Großvaters, er eine Axt.
Die Suche nach einem geeigneten Baum gestaltete sich jedoch schwierig – und mit jedem Schritt wurde es dusterer im Wald. Vater hatte zwar eine alte Wehrmacht-Taschenlampe dabei, die er an einen Knopf seiner Metzgermeister-Jacke geheftet hatte, aber es wurde schließlich doch knapp.
Nach langer Suche entdeckte er eine Fichte, größer als er selbst, wenn auch nicht ganz so kräftig wie erhofft. Er nahm die Säge und „ritze-ratze voller Tücke, in die Fichte eine Lücke“ wurde Hand angelegt.
Ich musste den Baum halten, „damit keine Äste abgeknickt werden!“
Der Stamm erwies sich als dicker und zäher, als das gesuchte „Bäumchen“ vermuten ließ. Vater war schließlich stolz, wirkte aber für mich gleichzeitig so, als würde er überlegen, ob man für Baumschlag ohne Erlaubnis in den Zuchthaus-Advent käme.

Zu Hause wurde der Baum erst mal kritisch beäugt. Er roch nicht nur zart nach Wald, sondern auch noch kräftig nach Viehtransport.
Mutter kommentierte trocken: „Da brauchen wir viel Lametta, sehr viel Lametta!“ Und dazu wurde eine neue Lichterkette beim Elektro-Dennerlein gekauft, wahrscheinlich in der Hoffnung, dass mehr Licht den Baum irgendwie „ethisch“ aufwertet.
Nach stundenlangem Drehen, Zerren und Grübeln stand er schließlich in der Ecke neben dem Klavier. Von der Schokoladenseite betrachtet sah er ganz passabel aus. Von den anderen Seiten … nun ja. Kein Kommentar.
Aber immerhin hatten Sportler, Volkschor, Sudetendeutsche und Schlesier einen Baum – wenn man stattlich als „ungewöhnlich in Form, und Erscheinung“ definierte.
Zum Schluss meinte Vater: „Nächstes Jahr bestellen wir wieder einen – oder zwei – beim Huttarsch.“
Und damit starb die wiederbelebte Böhmerwald-Tradition schneller, als Mutter „Lametta“ hatte rufen können.

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