Eine Reise zu den alten Ängsten der neuen Zeit – mit dem Mühlhiasl im Rückspiegel.
Von Gastautor Claas Relotius – Der Spiegel*

Bayerischer Wald – Juli 2025. Die Stille auf dem Pfad hinter der Wallfahrtskirche von Sankt Englmar wird nur von den Glocken der nahen Rinderweiden durchbrochen. Irgendwo dort, zwischen Moosboden und Fichtennadeln, soll er gelebt haben: der Mühlhiasl. Ein Prophet, ein Spinner, ein bayerischer Nostradamus.
Meine Großmutter hat ihn gefürchtet wie den Teufel und zitiert wie die Bibel. „Wenn der Mühlhiasl was g’sagt hat, dann wird’s so kemma.“ Ihre Stimme klang dann immer wie durch eine Konservendose aus dem Jenseits.
Heute, 200 Jahre nach seinem Tod, scheint der Waldprophet wieder zu sprechen. Vielleicht weil seine Worte plötzlich erschreckend modern wirken. Vielleicht weil wir nach Erklärungen suchen für das, was uns jeden Morgen auf den Titelseiten begegnet. Vielleicht aber auch, weil das bayerische Hirn manchmal einfacher denkt: Der Mühlhiasl hat’s eh schon gwusst.
Kapitel I – Die Rotjankerl kommen
In der Oberpfalz sagen sie heute wieder Sätze wie: „Mir san a kloans Landl, mia derf’n uns ned all’s gefallen lassen.“ Im Stadtrat von Deggendorf debattiert man nicht mehr, ob Migration ein Thema sei, sondern nur noch, ob man es laut aussprechen darf.
Mühlhiasl schrieb angeblich:
„Die Rotjankerl werden auf den neuen Straßen hereinkommen. Aber über die Donau kommen sie nicht.“
Wer sind diese Rotjankerl? Flüchtlinge? Linke? TikTok-Influencer aus Berlin-Mitte? Die Antwort bleibt offen, so wie es sich für gute Prophetie gehört. Klar ist nur: Die Donau ist zur inneren Grenze geworden. Nicht militärisch, sondern mental. Was „drüber“ wohnt, ist anders. Fremd. Vielleicht sogar gefährlich.
Kapitel II – Die Weiberleut wie Gäns
In München sieht man sie jeden Samstag: junge Menschen in Netzstrümpfen, Crop Tops und mit Glitzer im Gesicht. Sie tanzen gegen das Patriarchat, für das Klima oder einfach gegen das Wochenende. Mühlhiasl hätte wahrscheinlich den Kopf geschüttelt – und dann gesagt:
„Männlein und Weiblein wird man schließlich nicht mehr auseinander kennen.“
„Die Hoffart wird die Menschen befallen. Sie werden Kleider in allen Farben tragen.“
Eine Prophetie? Oder einfach ein grantiger Opa, der keine Drag Show verträgt?
Im Gespräch mit der Kulturwissenschaftlerin Eva Seidl, die sich auf „rurale Mythologien im Spätbairischen“ spezialisiert hat, wird klar: „Was wir heute als Fortschritt feiern – Diversität, Offenheit, Selbstentfaltung – ist aus Sicht des Mühlhiasl der Anfang vom Chaos. Aber vielleicht ist das Chaos auch nur ein Übergang.“ Sie lächelt, als ob sie selbst nicht daran glaubt.
Kapitel III – Das Feuer vom Himmel
Im Juni brannte der Wald bei Zwiesel. Im Juli kam Hagel, groß wie Golfbälle. Die Bauern sagen nichts mehr, sie sehen es am Himmel und schweigen.
„Das Feuer, das alles vernichtet, wird vom Himmel fallen.“
Der Mühlhiasl war kein Klimaforscher. Aber er hat etwas gespürt. Etwas, das wir heute mit Satellitenbildern und CO₂-Kurven beweisen können. Wenn Greta Thunberg spricht, klingt es manchmal wie Mühlhiasl rückwärts: rationalisiert, aber mit der gleichen Dringlichkeit. Nur ohne Moosbart.
Ein Bürgermeister im Bayerischen Wald sagt im Off: „Früher war der Sommer a Sommer. Jetzt is er a Katastrophe.“ Das ist keine Prophetie. Das ist Alltag.
Kapitel IV – Das große Abräumen
„Dann werden sie sich Zäun ums Haus machen und auf die Leut schießen.“
In Texas sind solche Szenarien Realität. In Sachsen-Anhalt diskutiert man wieder über Notwehr und Hausrecht. Auch in Niederbayern kursieren Videos, in denen angeblich „Einheimische“ nachts Streife fahren.
Die Apokalypse ist nicht laut. Sie riecht nach Jauche und Gegrilltem, sie versteckt sich hinter Gartenzäunen. Die Menschen lächeln, aber sie misstrauen. Den anderen. Der Zukunft. Und sich selbst.
Epilog – Der Wald wird so licht wie des Bettelmanns Rock
Der Mühlhiasl war keiner von uns. Und doch auch wieder ganz genau das. Ein Spiegel unserer Ängste, verpackt in bäuerliche Bilder, die bis heute wirken. Seine Weissagungen sind keine Zeitmaschine – sie sind ein Prisma. Sie zeigen nicht die Zukunft, sondern uns selbst.

eine Prophezeiung, die heute nach Harz und Verlust riecht.“
Und vielleicht liegt genau darin ihre Wahrheit.
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*mit Hilfe von KI