„Mit dem Herzen in der Vergangenheit, mit dem Kopf in der Zukunft!“

Reaktionär statt konservativ? – Ein Beitrag zur „Erschöpfung des Konservatismus“

Reaktionär ist ein Schimpfwort – natürlich – in unseren aufgeklärten, progressiven Zeiten.
Laut Duden heißt reaktionär: überholte gesellschaftliche Verhältnisse gegen Änderungsabsichten reformerischer oder revolutionärer Art zu verteidigen; Reaktion heißt die Gesamtheit der fortschrittsfeindlichen politischen Kräfte.

Der amerikanische Historiker ungarischer Herkunft John Lukacs1 – der sich selbst zuletzt als Reaktionär bezeichnete – meinte, ein Reaktionär sei Patriot, nicht Nationalist. Er bekenne sich zu den Werten des alten Europas, für die z.B. Churchill stand. Er glaube an Geschichte, nicht an Evolution; schließlich verteidige er alle ehrwürdigen Traditionen des Landes, auch wenn diese vielen altertümlich erschienen; technischen Entwicklungen stünde er skeptisch gegenüber. So eine reaktionäre Einstellung führe allerdings in die soziale Isolation. 

Jens Jessen von der Zeit meint, Konservative, Reaktionäre und Neufaschisten seien natürlich der politischen Rechten zuzuschlagen; Konservative könne man als rechts bezeichnen, Reaktionäre als rechtsradikal.

Wie kommt nun ein katholischer Autor und Publizist dazu, gerade jetzt eine „fortschrittsfeindliche“, wohl „rechtsradikale“ Zeitschrift mit dem provokanten Titel „REACTION“ auf den Markt zu bringen.

Ab Dezember 2019 soll zweimal jährlich das Magazin erscheinen, mit dem Alexander Pschera „die Geschichte des reaktionären Denkens in Europa dokumentieren und neu beleben will“.
Ein Magazin für eine konservative Gegenkultur abseits vom republikanischen Mainstream …

Alternative zu den wutschäumenden Diskursangeboten der Rechten

In einem Interview für die katholische Zeitschrift „Die Tagespost“ vom 1. August 2019 begründet Pschera sein Vorhaben folgendermaßen: 

„Zunächst benötigt Europa heute mehr „Reaktion“, Gegen-Aktion, Handlung. Das ist ja auch eine Bedeutung des Titels. Ich habe das Gefühl, wir lassen Europa zu sehr „geschehen“. Wir überlassen es der Bürokratie. Da ist ein Gegensteuern nötig, und zwar nicht durch anti-europäisches Ressentiment, sondern durch die Besinnung auf tiefere und ältere Bedeutungen des europäischen Gedankens. Europa ist ja kein Phantom, keine Fantasmagorie, sondern es ist nicht weniger als unsere 2000-jährige Geschichte. Sie ist zu wertvoll, um sie den Technokraten und Finanzspekulanten zu überlassen. Und hier kommt das „reaktionäre“ Denken ins Spiel, das ja als eine „Reaktion“ auf den Kahlschlag der Französischen Revolution entstand, um die Werte des Christenturns und der Monarchie zu retten. An einem ähnlichen, wenngleich nicht ganz so blutigen Punkt stehen wir heute wieder. Und deshalb der Bezug auf die „Reaction“ der Geschichte.

Wir sprechen alle intelligenten Menschen an, die mit dem Herz in der Vergangenheit, mit dem Kopf aber in der Zukunft leben und die auch außerhalb des Rahmens denken können und wollen, der sich in Europa als absolut darstellt Menschen, deren Fantasie dazu ausreicht sich eine heftige katholische Kirche und ein friedliches, am Wohl der Nationen orientiertes Zusammenleben in Europa vorstellen können. Menschen auch, denen Umgangsformen und Etikette nicht vollständig egal sind und die noch wissen (wollen), warum Stil im Leben entscheidend sein kann. Ich hoffe, dass sich das Projekt „Reaction“ unter diesen Menschen in Mund-zu-Mund-Propaganda verbreitet, weil es eine Alternative darstellt zu den wutschäumenden Diskursangeboten der Rechten.

Begleitend zu dem Magazin existiert bereits ein Blog, auf dem man sich denn über „Reaktionäres“ informieren kann.
In einem Artikel auf diesem Blog schreibt Alexander von Schönburg:

„Die Welt wird auf den Kopf gestellt. Die archetypischen Konzepte der menschlichen Existenz, ja die Sprache selbst sind nicht mehr sicher vor dem Zugriff der Umdeuter und Wirklichkeitsschänder. Wer sich in so einer Welt, in der alles, was einmal galt, von den höchsten Instanzen verworfen wird, wer sich in einer Welt, in der sich der Glaube an die Allmacht des Menschen und die Leugnung des Übernatürlichen verfestigt hat, wer sich in so einer Welt als einen „Konservativen“ bezeichnet, räumt damit ein, den Widerstand aufgegeben zu haben – denn was sollte man von dieser Welt denn „konservieren“. Der Konservative hat sich, von kleineren, kosmetischen Korrekturen abgesehen, mit dem Ist-Zustand abgefunden. Wer sich einen „Reaktionär“ nennt, der mag zwar verzweifelter sein als der Konservative, er hat aber wenigstens nicht resigniert, er „reagiert“ und befindet sich – intellektuell – im Kampfmodus.

Schon Nicolas Gomez Davila, „Verächter der Demokratie und des Pöbels“ bezeichnete sich als Reaktionär, als „Antipode eines Konservativen“, weil es für ihn nichts mehr gab, was zu konservieren sich lohne.


Der Reaktionär als Antwort auf die Krise des Konservatismus?

 Es heißt, mit der gescheiterten „geistig moralischen Wende“, die einst Helmut Kohl ausrufen wollte, ist auch der Konservatismus in Deutschland auf den Hund gekommen. Nicht erst mit Merkel, die bei einer angeblich anfänglich noch annehmbaren  konservativen Position, schließlich letztverbliebene Relikte in der Familienpolitik, Verteidigungspolitik und bei der Zuwanderung aufgegeben hat. Die CDU hat ihre klassischen Positionen wie beispielsweise die Verteidigung der Kernkraft, das Bekenntnis zum allgemeinen Wehrdienst sowie die Opposition zu Mindestlohn und Frauenquote geräumt. Der deutsche Konservatismus hat sich in den vergangenen 40 Jahren in seiner entscheidenden Perspektive verbraucht, nämlich was die Auszeichnung bestimmter Aspekte des Status quo als bewahrenswert angeht. Hinzugekommen ist das Verschwinden von Feindbildern wie dem real existierenden Kommunismus oder Linksterrorismus, die noch in den Achtzigerjahren als negative Integrationskräfte für konservative Milieus und die Union wirkten.
 
Die Diskussion, was ist heute konservativ – genauer, was ist davon noch verblieben – wird aktuell im „Mainstream“ in eher linken Postillen geführt. In der Zeit oder dem Tagesspiegel.

Die Diagnosen dort haben nichts mehr mit dem gemein, was Günter Scholdt2 als Inhalt der konservativen Denk- und Lebensart ansieht: 

„Alles, was täglich auf uns einströmt, ohne zweckoptimistischen Vorauskredit zu prüfen und, wo es sich als untauglich erweist, auch wieder durch Älteres, Bewährtes zu ersetzen. Sie offenbart sich als Frageprinzip, erworben aus einer Grundskepsis gegenüber marktschreierischer Aktualität und dem Glamour des jeweils Neuen. Sie verwahrt sich gegenüber der Anmaßung, anthropologische Gegebenheiten bzw. soziale Konstanzen zu negieren und sich einer Grundeinsicht zu verschließen, die schon vor Jahrtausenden Prediger Salomo festhielt: »Es geschiehet nichts Neues unter der Sonne.«“

Eine Konsequenz daraus wäre denn durchaus die „reaktionäre“, wie von A. Pschera im obigen Zitat begründet.

Außerhalb der eher links-liberalen Diskussionsplattformen findet eine intellektuelle Beschäftigung oder Auseinandersetzung um den Konservativismus natürlich in den „neurechten“ Kreisen statt, für welche z.B. das „Institut für  Staaatspolitik“ in Schnellroda bzw. die Zeitschrift „Sezession“ steht. Betrachtet man die Agenda von „Schnellroda“, wird hier u.a. auch ein Rückgriff auf Gescheitertes gepflegt, wie auf die „Konservative Revolution“3 der Weimarer Zeit. Dabei sind Assoziationen auf „Völkisches“ unausbleiblich.

An publizistischen Organen außerhalb dieses „neurechten“ Kreises – mit “Sezession“ als Publikationsorgan – sind beispielhaft die „Junge Freiheit“, „Cato“, „Tumult“, vielleicht noch „Cicero“ und im Netz der Blog „Philosophia Perennis“, „Jürgen Fritz Blog“ und „Conservo“ zu nennen.

Vergleicht man die Veröffentlichungen und Verlautbarungen untereinander, werden Gräben sichtbar. Erst kürzlich lieferte Philosophia Perennis in einer Auseinandersetzung mit „Schnellroda“ ein Beispiel für persönliche Unverträglichkeiten und Gereiztheiten unter denen, die sich als konservativ bezeichnen.
Solcherart „Gräben“ hat schon Armin Mohler4 genannt und beklagt. Er schreibt:

„Nun ist „schein-“ oder „pseudokonservativ“ nicht das einzige Wort, mit dessen Hilfe sich Konservative von Konservativen abgrenzen wollen. Die Reihe der Trenn-Vokabeln ist recht lang: ideologisch, totalitär, rechts, rechts extrem, links, liberal, liberalkonservativ, faschistisch, nazistisch, reaktionär, Abendländer und so fort. Jeder von uns hat mal einen anderen mit einer dieser Vokabeln vor die Tür zu stellen versucht. … Dann gibt es Unterscheidungen aus dem geographisch-geschichtlichen Bereich; sie sind der Sache nach etwas differenzierter: etwa der Gegensatz von süddeutsch/katholisch und norddeutsch/protestantisch, von fritzisch/kleindeutsch und theresianisch/großdeutsch, oder Bezeichnungen mit so charakteristischem historischem Klang wie nationalliberal oder deutschnational. Auf Vollständigkeit kommt es dabei nicht an.“

Er sieht einen Konflikt zwischen Universalisten und Nominalisten. Ob die von ihm geltend gemachte Hinwendung zur Theorie des Nominalismus („nominalistische Wende“) zu einer Einheit oder Einigkeit führen könnte, sei dahingestellt.

Caspar von Schrenk-Notzing der letzte wirklich große konservative Publizist fragte, „Brauchen Konservative eine Theorie?5. Er meint, die Nachkriegsgeschichte ist charakterisiert durch die Unterordnung des Konservatismus unter die Mitte, sprich des „juste milieu“. Repräsentiert wird dies durch die großen Volksparteien wie die CDU, ÖVP und die Konservative Partei Englands. Was aus denen geworden ist, wissen wir!

Schrenck-Notzing legt drei Merkmale der „konservativer Theorie“ fest:

• das Fehlen einer Lehrtradition

• die Leitvokabel heißt „Wirklichkeit“

• der institutionell-individuelle Doppelcharakter.

Das klingt sehr theoretisch und darauf soll an dieser Stelle auch nicht näher eingegangen werden; dient gewiss aber zum Nachdenken.


Mehr
Gegen-Aktion und Handlung

Zurück zu unserer Anfangsfrage.
Wer will es bezweifeln, dass wir bei dem Zustand unseres Landes und der Gesellschaft mehr „Gegen-Aktion und Handlung“ brauchen. Nicht „Reaktion“ im ursprünglichen Sinn des Wortes, denn die untergehenden konservativen Parteien haben nur auf das just Milieu reagiert, nur Tendenzen aufgenommen und peu a´ peu den Widerstand gegen die Aufhebung und Umwertung ihrer Werte aufgegeben.
So wäre denn eine Neubestimmung von „konservativ“ erforderlich, mit der man das Wort „reaktionär“ umgehen kann.
Vielleicht kann aber durch das neue Magazin – nicht nur allein mit seinem provokanten Titel – ein (weiterer?) Sargnagel gegen das juste milieu geschmiedet werden oder werden zumindest einige Stachel dagegen produziert.

Das konservative Lager braucht wohl tatsächlich eine orientierende Theorie. Und vor allem wieder Persönlichkeiten, welche die Aufgaben glaubhaft umsetzen können, handeln wollen und denen sich dann auch die Menschen anschließen.

Zum Schluss noch einmal ein Rückgriff auf John Lukacs, den „Reaktionär“, mit seiner Sicht auf die Situation in den USA: Es gäbe auf der einen Seite eine Rechte, die die Liberalen mehr hassen, als dass sie die Freiheit liebe, die nationalistisch sei; die glaube, die USA habe das Schicksal, die Welt zu ordnen und auf die Entwicklung von Technologien und Maschinen setze. Und eine andere Rechte, die die Freiheit mehr liebe als sie die Liberalen hasse, die patriotisch sei, an keinen Auftrag Amerikas in der Welt glaube und sich der Pflege der Tradition widme, statt auf technische Innovation zu setzen. Die Pointe: Diese erste Form der Rechten stelle den Fortschritt nicht in Frage, die zweite schon.
Das klingt nicht ganz so manichäisch, wie wir es bei der Polarität zwischen (National-) Liberal und (Völkisch-)Antiliberal hierzulande wahrnehmen müssen. 

Der Reaktionär

_________________________

1 John Lukacs ist zuletzt bekannt geworden durch den Film „Die dunkelste Stunde“, die Filmbiographie Churchills aus dem Jahre 2017, die sich an eines seiner Hauptwerke anlehnt – „Five days in London, May 1940“ (1999) 

2 Günter Scholdt: „Das konservative Prinzip“, 2011 Edition Antaios

3 Armin Mohler bezog in seiner Dissertation „Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932“ den Begriff auf etwa 350 Personen, die er fünf verschiedenen republikfeindlichen und auch zum (geringeren) Teil nationalsozialistischen Gruppen zuordnete.

4 Armin Mohler: „Die nominalistische Wende“ in der Streifzug, 2001 Edition Antaios

5 in Konservative Publizistik 1961bis 2008, Berlin 2011

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