Vilfredo Pareto

Der „Rechtsintellektuelle“ als Aufklärer

Wer in Deutschland versucht, auf die säkulare Bedeutung Vilfredo Paretos hinzuweisen, muß noch immer von der Tatsache ausgehen, daß hier die Entdeckung dieses Sozialwissenschaftlers, Ideologiekritikers und politischen Denkers noch kaum begonnen hat. Während Pareto in der englischsprechenden Welt seit langem als einer der Gründerväter der modernen Soziologie gilt, scheint er sogar für die wissenschaftlich und philosophisch interessierten Deutschen umsonst gelebt zu haben. Es gibt hier, anders als im Falle von Karl Marx, Sigmund Freud oder auch Edmund Husserl, keine Partei, Gruppe oder Geistesrichtung, die an seine Gedanken anknüpft und seine Methoden weiterentwickelt. Vergebens sieht man sich nach der vollständigen Übersetzung auch nur eines der Hauptwerke Paretos um. Nur zögernd erscheinen über ihn Aufsätze und Monographien. Wo im akademischen Bereich Paretos überhaupt Erwähnung getan wird, sind die Stellungnahmen meist feindselig und gereizt, günstigenfalls zurückhaltend-kühl. Er gilt fast unangefochten als intellektueller Faschist. Die Antipathien, die dieses Wort auslöst, nötigen den, der Pareto gerecht zu werden bemüht ist, beinahe dazu, um Entschuldigung zu bitten. Sie bringen es auch mit sich, daß man bei einem Gespräch über Pareto im allgemeinen nicht einmal dürftige Vorkenntnisse unterstellen kann. Man muß, bevor man zur Sache gelangt, einen ganzen Wall von Gerüchten, Vorurteilen und auch Verleumdungen durchbrechen. Ist doch Pareto nicht nur die politische Integrität und wissenschaftliche Qualifikation, sondern sogar die geistige Gesundheit abgesprochen worden. „Man muß achselzuckend feststellen“, schreibt Leopold von Wiese, „daß die Gesamtheit des Werkes brüchig und ergebnisarm ist“; sein Autor sei ein „Philosoph der Rebarbarisierung“.
Für den Psychiater Franz Alexander ist der italienische Gelehrte ein krasser Fall der Pathologie, ein „unter neurotischen Zwängen stehender dekadenter Aristokrat“. Und von Theodor W. Adorno stammt das böse Wort: „Seit Pareto arrangiert sich positivistische Skepsis mit je bestehender Macht, auch der Mussolinis.“ Man könnte eine lange Liste derartiger Äußerungen von zum Teil sehr bekannten Männern zusammenstellen; doch werfen bereits die drei angeführten genügend Licht auf die Schwierigkeiten, die in deutschen Landen der objektiven Beurteilung eines Mannes entgegenstehen, der stolz von sich sagen konnte: „Ich bin an keine Partei, an keine Religion und an keine Sekte gebunden, daher besitze ich keine vorgefaßten Ideen über die Phänomene. Noch bin ich an irgendein Land gebunden und daher von den patriotischen Vorurteilen frei, die soviel Verheerungen in den Sozialwissenschaften anrichten. Ich verlange, hoffe und fürchte nichts, und deshalb hält mich auch nichts ab, die Wahrheit zu sagen.“
Ich möchte trotz der erwähnten Schwierigkeiten den Versuch wagen, wenigstens in kurzen Linien ein Bild von Pareto zu zeichnen, das etwas anders aussieht als das üblicherweise kolportierte: das Bild eines eminenten politischen Analytikers, Sozialtheoretikers und prognostischen Kopfs, dessen zyklopischer „Trattato di sociologia generale“ mit seinen mehr als 2600 Paragraphen zu den scharfsinnigsten Hervorbringungen menschlichen Denkens über Herrschaft, Ideologie und gesellschaftliches Handeln überhaupt gehört. Da hier nicht der Raum ist, sämtliche Theorien Paretos zu behandeln, muß ich mich darauf beschränken, nach einer biographischen Skizze aus dem Gesamtwerk einige zentrale Themen herauszuheben, die mir besonders aktuell erscheinen.
Vilfredo Pareto wurde am 15. Juli 1848 in Paris geboren. Seine Mutter war eine Französin, sein Vater entstammte einer alten genuesischen Patrizierfamilie, die von Napoleon I. das Adelsprädikat erhalten hatte. Um so erstaunlicher ist die Tatsache, daß Pareto, trotz seiner romanischen Herkunft, seine allerersten wissenschaftlichen Arbeiten, die er als noch nicht Großjähriger vor-legte, mit dem Namen „Fritz Wilfrid Pareto“ signierte. Ebenso wird von Manon Michels-Einaudi berichtet, daß Pareto seine zweite Frau, eine Französin und Parteigängerin der gegen Deutschland gerichteten Entente während des Ersten Weltkriegs, des öfteren mit der ihr ärgerlichen Behauptung neckte, sein „wahrer Name“ sei „Fritz Willy“. Auch seine Dissertation, die gedruckt vorliegt, nennt als Verfasser ausdrücklich: „Fritz Wilfrid Pareto“. Gottfried Eisermann, der wohl beste deutsche Kenner des paretianischen Werks, stellt dazu fest: „Wem bekannt ist, mit welcher Sorgfalt bei akademischen Examina und Promotionen Personalpapiere geprüft werden, wird geneigt sein, hierin den wahren Namen, den die Familie oder er selbst späterhin italianisiert haben mag, zu erblicken. Im Italienischen ist ,Vilfredo‘ jedenfalls ein ungewöhnlicher Vorname.“ Leider ist das standesamtliche Register, in dem Paretos Geburt eingetragen war, schon 1871, während der Unruhen der „Pariser Kommune“, durch Brand vernichtet und später nicht mehr erneuert worden. Auch in der Taufmatrikel der zuständigen Pfarrkirche Saint-Etienne-du-Mont, die in der Nähe der Sorbonne im Quartier Latin liegt, findet sich kein Hinweis auf Paretos Rufnamen. Wurde er überhaupt kirchlich getauft? Wie kam er dazu, in jungen Jahren mit einem deutschen Namen zu unterzeichnen? Weshalb stichelte er seine Frau mit dem in scherzhaftem Tone vorgebrachten Bekenntnis, daß er eigentlich „Fritz Willy“ heiße?
Wir wissen es nicht und werden vermutlich auch niemals genau rekonstruieren können, welche Bewandtnis es damit hat. So findet sich schon zu Beginn von Paretos Leben, das in so hohem Maße der Klarheit der Vernunft und sorgfältiger Beobachtung der Tatsachen gewidmet war, ein anscheinend undurchdringliches Geheimnis. Es ist dies nur eines unter so manchen Rätseln, die sein Werdegang und Werk dem Forscher aufgibt. Erwähnt sei nur noch, daß Pareto trotz des für einen halb italienischen, halb französischen Südländer merkwürdigen germanischen Vornamens mit dem deutschen Geistesleben keine besonders innigen Beziehungen unterhielt. Aus Hegels „Naturphilosophie“ las er gelegentlich in vorgerückter Stunde Freunden vor, um sich und seine Gäste zu schallendem Gelächter über so viel teutonische Tiefsinnigkeit anzuregen. Für Karl Marx‘ geistigen Rang war er empfänglich; doch hinderte ihn sein grimmiger Skeptizismus daran, dessen kommunistische Zukunftsvision zu billigen. Bismarcks realpolitisch nüchterne Eigenart bewunderte er hingegen. Mit etwa elf Jahren kam Pareto aus Frankreich nach Italien. Er studierte am Polytechnikum in Turin und legte 1869 eine Doktorarbeit über die grundlegenden Prinzipien der Theorie der Elastizität fester Körper vor. Nach mehrjähriger Tätigkeit als Ingenieur bei den Römischen Eisenbahnen ließ sich Pareto in Florenz nieder und wurde Generaldirektor einer anderen Eisenbahngesellschaft. Freihandel und Volkssouveränität waren die Ideale des leidenschaftlichen Republikaners; den Militarismus lehnte er zeitlebens ab. 1882 bewarb sich Pareto vergeblich um das Abgeordnetenmandat im Wahlkreis Pistoja-Prato. Ebenso hatte er mit der italienischen Regierung wiederholt Schwierigkeiten, da er deren schutzzöllnerische Politik in Zeitungsartikeln und Reden radikal bekämpfte. In den Mußestunden und insbesondere in vielen schlaflosen Nächten eignete sich der wirtschaftspolitisch interessierte Ingenieur ein enzyklopädisches Wissen an, das die klassische Literatur und Philosophie ebenso umfaßte wie die Werke der Kirchenväter und der großen Historiker. Er las Griechisch und Lateinisch fließend vom Blatt und schrieb eine vergleichende Studie über die Sprache des Apostel Paulus und den attischen Dialekt. Daneben studierte er ausgiebig Religionsgeschichte, Mythenkunde, Rechts- und Kulturgeschichte, Reiseliteratur, ferner die Arbeiten von Comte, Darwin, Buckle, Bain und Spencer. Hinzu kam etwa seit 1890 das Interesse an reiner nationalökonomischer Theorie, insbesondere in der Form, wie sie Leon Walras entwickelt hatte. 1893 wurde Pareto Nachfolger von Walras an der Universität Lausanne. Pareto war damals bereits fünfundvierzig Jahre alt und ein Mann, der bis dahin keine wissenschaftliche Leistung öffentlich vorweisen konnte. Von seiner ungewöhnlichen Bildung und Gelehrsamkeit wußten nur wenige Freunde, Erst 1896 erschien als Frucht seiner Lehrtätigkeit der zweibändige „Cours d’economie politique“, eine glänzende Darstellung der neoklassischen Wirtschaftswissenschaft, in der sich bereits zwei soziologische Kapitel finden. 1902 folgte das ebenfalls zweibändige Werk „Les systemes socialistes“, die vielleicht bis heute vollkommenste und gründlichste Auseinandersetzung mit den sozialistischen Lehren von Platon bis Karl Marx und Friedrich Engels. 1906 erschien das drei Jahre später auch ins Französische übersetzte „Manuale di economia politica“. Diese drei Werke bilden den Ertrag des paretianischen Weges von der reinen, vorgeblich apolitischen, imgrunde jedoch liberalen Wirtschaftstheorie zur Soziologie. Dieser Weg erreichte seinen Abschluß in dem 1916 erschienenen „Trattato di sociologia generale“. Pareto war damals fast siebzig Jahre alt. In den Ereignissen des Ersten Weltkrieges und der darauf folgenden Jahre erblickte er „bellissime prove“, die schönsten Belege für seine theoretisch gewonnenen Erkenntnisse. Im Dezember 1922, also kurz nach der Ernennung Mussolinis zum Ministerpräsidenten, wurde der Pazifist Pareto zum Vertreter Italiens in der Abrüstungskommission des Völkerbundes und im März 1923 zum Senator ernannt. Er starb am 19. August desselben Jahres auf seinem Landsitz in Celigny am Ufer des Genfer Sees, wo er sich im Jahre 1900 niedergelassen hatte.
Was das persönliche Verhältnis Paretos zum Faschismus betrifft, so ist dazu folgendes zu sagen: als er starb, war Mussolini noch nicht einmal ein Jahr an der Macht; seinem Regime fehlten damals noch jene spezifisch totalitären Züge, die später die Bewunderung Hitlers fanden. Mussolini hatte eine Zeitlang Paretos Vorlesungen in Lausanne besucht; er war damals noch radikaler Sozialist und stand in keinen persönlichen Beziehungen zu seinem Lehrer. Daran änderte sich auch nach dem Marsch auf Rom im Oktober 1922 nichts. Pareto selbst war niemals Mitglied der Faschistischen Partei. Er stand der Partei Mussolinis ― den er nach einem berüchtigten Briganten mit Vorliebe „Musolino“ nannte ― bis zur Machtergreifung reserviert, gelegentlich geradezu feindselig gegenüber. Nach der Machtergreifung äußerte er einige anerkennende Worte über das neue Regime, allerdings mit deutlichen Vorbehalten. Diese Vorbehalte liefen darauf hinaus, daß Pareto nur einen pluralistischen, um nicht zu sagen konstitutionellen Faschismus zu akzeptieren bereit war. Er plädierte für eine sowohl starke als auch gemäßigte Regierung und warnte in einem unter der Überschrift „Libertä“ kurz vor seinem Tode publizierten Aufsatz die Faschisten vor kriegerischen Abenteuern und einer Einschränkung der Meinungs-, Presse- und Lehrfreiheit. In diesem Zusammenhang sei noch erwähnt, daß von Pareto, der sein kritisches Instrumentarium vorzüglich an den ideologischen Schleiern der „plutokratischen Demokratien“ Westeuropas erprobte und, wie er sich ausdrückte, hinter „dem Flittergold der humanitären und ethischen Deklamationen“ den Willen zur Macht witterte, dennoch auch folgender Satz stammt: „Die beste Regierung, die heutzutage existiert, und auch die beste von allen, die man bislang beobachten konnte, ist die der Schweiz, besonders in der Form der direkten Demokratie, die sie in den kleinen Kantonen annimmt.“ Dieser Pareto, der so wenig dem verbreiteten Klischee vom Apologeten des Faschismus entspricht, war im Grunde ein Liberaler, der, je älter er wurde, zwar die Ideologie des Liberalismus als Ideologie durchschaute, doch weiterhin als ein Mann mit freiheitlichen Instinkten die institutionellen Errungenschaften der liberalen Epoche ehrte: Meinungs- und Pressefreiheit, Schutz religiöser, ethnischer und politischer Minderheiten, die Idee von „checks and balances“. In ihrem Kern ist die paretianische Sozialtheorie eine Theorie des menschlichen Handelns. Sie unternimmt eine Neubegründung der Soziologie aus einer fundamentalen Theorie und Analyse menschlichen Verhaltens. Die Wirtschaftswissenschaften bilden nur einen Teil dieser Soziologie, da sie sich überwiegend mit den relativ logischen oder, in der Sprache Max Webers, zweckrationalen Handlungen befassen“. Der überwiegende Teil menschlichen Verhaltens hat jedoch nichtlogischen Charakter. Im Mittelpunkt der soziologischen Studien Paretos steht die Analyse nichtlogischer Handlungen und der Nachweis, daß diese unter den menschlichen Tätigkeiten bei weitem vorherrschen. Logisch ist das Verhalten eines Menschen unter folgenden Bedingungen: Motiv seines Handelns ist ein vorsätzlich gefaßtes Ziel; dieses Ziel ist grundsätzlich erreichbar; die angewandten Mittel sind objektiv geeignet, dieses Ziel zu erreichen. Bei einer logischen Handlung stimmt das erreichte Resultat mit dem vom Handelnden verfolgten Zweck überein. Derartige Handlungen finden wir vor allem auf den Gebieten Wirtschaft, Technik und Wissenschaft, zum Teil auch in der Politik und militärischen Strategie. Alle anderen Handlungen nennt Pareto nichtlogisch. Sie haben gemeinsam, daß deren von einem unbeeinflußten Beobachter feststellbares Resultat nicht mit dem vom Handelnden verfolgten Zweck übereinstimmt. Entweder fehlt bei ihnen ein vorsätzlicher Zweck, wie etwa im Falle von Instinkt- und Reflexhandlungen, aber auch von vielen symbolischen oder rituellen Verhaltensweisen. Oder das vom Handelnden angegebene Ziel ist irreal, beziehungsweise menschlicher Kontrolle und Praxis unzugänglich. Oder die vom Handelnden erreichten Ziele stehen in keinem sachlichen Zusammenhang mit den von ihm entwickelten Sinngebungen, Rechtfertigungen oder sonstigen Theorien über die von ihm gesetzte Handlung. Oder die vom Handelnden verwendeten Mittel sind dem an sich durchaus erreichbaren Ziel nicht adäquat, was bei abergläubischen Handlungen der Fall ist, aber auch bei zahlreichen politischen Maßnahmen. In der Antike war der Glaube verbreitet, daß man, um eine glückliche Seefahrt zu haben, vorher einen Hahn opfern müsse. Anarchisten glaubten, die herrschende Klasse durch Attentate beseitigen zu können. Englische Könige übten jahrhundertelang den Brauch der Handauflegung, um dadurch Kranke zu heilen.
Pareto begnügt sich nicht damit, aus der Fülle menschlichen Handelns bestimmte immer wiederkehrende Typen herauszuheben; es geht ihm vielmehr darum, die menschlichen Gesellschaften als interdependente Handlungsgroßsysteme zu rekonstruieren. Auch bedeutet für ihn die Feststellung, eine Handlung sei nichtlogisch, kein negatives Urteil. Strikt unterscheidet er zwischen der Rationalität einer Handlung oder dem Wahrheitsgehalt einer Aussage und dem individuellen oder sozialen Nutzen dieser Aktion oder Theorie. Seine Kritik gilt nur jenen, die sich zwar nichtlogisch verhalten, aber zugleich sich und anderen weismachen wollen, sie handelten logisch. Um mit Pareto zu sprechen: „Der Mensch hat eine so starke Neigung, seinen nichtlogischen Handlungen logische Erklärungen anzufügen, daß ihm alles als Vorwand dient, sich dieser Lieblingsbeschäftigung zu widmen.“ Vielleicht wird schon in diesem Zusammenhang die verbreitete Abneigung gegen den italienischen Analytiker wenigstens teilweise verständlich.
Pareto gehört mit Nietzsche und Freud zu den bedeutendsten Entlarvern der menschlichen Illusionen. So wie die Menschen zu großen Teilen unlogisch handeln, so suchen sie als Theoretiker im allgemeinen nicht die Wahrheit, sondern die Sicherung, Bestätigung und Rechtfertigung vorausgesetzter wertbehafteter Positionen. Sie werden in einem weit größeren Ausmaß, als sie zuzugeben bereit sind, nicht durch rationale Erkenntnisse und Überlegungen, sondern durch Gefühle, Leidenschaften und Triebe in ihrem Sinnen und Trachten bestimmt Mit Recht stellt Carl Brinkmann fest: „Paretos Soziologie ist der rational-exakte Aufweis der irrationalen Tiefendimension allen sozialen Verhaltens.“
Pareto unterscheidet zwischen „Residuen“, den wenigstens zum Teil instinktiven und emotional getönten Konstanten und Grundmustern menschlichen Handelns, und „Derivationen“, den wechselnden verbalen Maskeraden primärer Bedürfnisse, Wertungen und Verhaltensweisen. Im einzelnen untersucht er die Residuen der Kombination, der Persistenz der Aggregate, des Ausdrucks von Gefühlen durch äußere Akte, der Soziabilität, der Integrität und der Sexualität. Die bedeutendste Rolle spielen in seiner Sozialtheorie die beiden ersten Residuen: das Residuum der Kombination, das die Wurzel aller Neuerungen, des Fortschritts in Wissenschaft und Technik sowie einen wesentlichen Faktor aller entwickelten Zivilisationen bildet, und das Residuum der Persistenz der Aggregate, das man etwa als konservatives Prinzip der sozialen Trägheit und Konformität charakterisieren könnte.
Wie bei den Residuen, den relativ wenig veränderlichen Wurzeln menschlicher Verhaltens- und Ausdrucksweisen, unterscheidet Pareto auch bei den Derivationen, den variableren Behauptungen, Aussagen, Theorien und Ideologien, die menschliches Handeln interpretieren, rechtfertigen und verhüllen, verschiedene Gruppen. Die erste bilden die Derivationen der einfachen Behauptung. Zu ihnen gehören etwa die meisten Sprichwörter und apodiktische Feststellungen, die sich auf bestimmte Tabus beziehen: „Das darf man nicht!“ oder „Der Kluge gibt nach!“

Die zweite Klasse umfaßt die Derivationen der Autorität. Dazu Pareto: „Die Griechen fanden alles bei Homer, die Römer bei Vergil, die Italiener vieles bei Dante. Ganz bekannt ist der Fall der Bibel und der Evangelien, Man könnte schwer sagen, was man hier nicht gefunden hätte. Man hat aus ihnen zahlreiche Lehren, auch widersprüchliche, entnommen und mit gleicher Leichtigkeit das jeweilige Für und Wider bewiesen.“ Daß Pareto auch andere Autoritäten kennt, an die bestimmte Derivationen anknüpfen, um unabhängig davon bestehende Residuen zu rechtfertigen, geht aus den folgenden Sätzen hervor: „Das Automobil genießt den Schutz des Fortschritts, der nahezu ein Gott ist, wie das Käuzchen in Athen den Schutz der Göttin Athene genoß. Die Gläubigen des Fortschritts müssen das Auto respektieren, wie die Athener das Käuzchen respektierten. In unserer Zeit, in der die Demokratie triumphiert, würde das Auto geächtet werden, wenn es nicht den Schutz des Fortschritts genösse, da es hauptsächlich von reichen oder wenigstens wohlhabenden Leuten benützt wird, und die Kinder der Proletarier oder auch manche erwachsenen Proletarier umbringt. Es nimmt den Kindern der Armen die Möglichkeit, auf den Straßen zu spielen, und füllt die Häuser der armen Bauern und Dorfbewohner mit Staub. Alles das wird dank des Schutzes des Gottes Fortschritt ertragen… Man geht sogar soweit, diejenigen, die das Auto nicht bewundern, so zu behandeln, wie man in früheren Zeiten die Ketzer behandelte 16.“ Diese Ausführungen wurden vor etwa sechzig Jahren niedergeschrieben. Dasselbe gilt für die Sätze über das Ansehen des „Kapital“ von Karl Marx: „Die wenigsten deutschen Sozialisten haben es gelesen, selten wie weiße Raben sind die, die es verstanden haben können. Aber die subtilen und dunklen Untersuchungen des Buches wurden von außen bewundert und verschafften ihm Autorität. Diese Bewunderung bestimmte die Form der Derivation…“
Was hätte wohl Pareto zu dem folgenden Satz gesagt, der sich in einer 1973 veröffentlichten Marburger Habilitationsschrift findet: „Die marxistische Theorie der ,Geschichte‘ ist wahr nicht kraft theoretischer Stringenz; sie ist wahr, weil sie die Partei des Fortschritts nicht nur ergreift, sondern in der Arbeiterklasse als ihre Grundlage weiß“? Er hätte dieser „Theorie“ wohl einen Ehrenplatz in seiner Galerie der Derivationen der Behauptung und der Autorität zugewiesen.
Die dritte Gruppe von Derivationen wird schließlich gebildet durch die Übereinstimmung mit Gefühlen oder absoluten Prinzipien. Dazu gehören etwa die meisten Berufungen auf metaphysische Ideen oder die Hypostasierungen von aus dem menschlichen Zusammenleben sich ergebenden Ideenkomplexen wie zum Beispiel: „Wille der Nation“, „Volksgeist“, „wahre Bedürfnisse“, „Bestimmung des Menschen“, „historische Notwendigkeit“, „Gemeinwohl“, „Natur der Sache“, „öffentliches Interesse“. Spinoza sagte: „Wenn zwei gleichartige Individuen sich miteinander verbinden, dann bilden sie ein Individuum, welches zweimal mächtiger ist, als jedes einzelne es früher war. Es gibt also nichts Nützlicheres für den Menschen als den Menschen selbst.“ Gilt das auch, wendet Pareto ein, wenn es sich um zwei sehr Hungrige mit geringen Nahrungsvorräten oder um zwei Männer handelt, die um die Gunst desselben Mädchens wetteifern?
Zur vierten Gruppe von Derivationen gehören alle „Beweise durch Worte“, die „prove verbali“, wie Pareto sie nennt. Diese Derivationen spielen bei Politikern und Advokaten naturgemäß eine wichtige Rolle. Bereits die antike Rhetorik liefert dafür gute Beispiele, so etwa Aristoteles: „Wenn man eine Sache begünstigen will, dann muß man die Metaphern aus dem Besten, was es gibt, entnehmen; wenn man schaden will, aus dem Schlechtesten. Orest erschlug Klytämnestra und ihren Buhlen Aigisthos. Für die Erinnyen war Orest der Mörder seiner Mutter, für Pallas Athene hingegen der Rächer seines Vaters. In ähnlicher Weise nennt man ein und denselben Vorgang Standhaftigkeit oder Verstocktheit, Expropriation oder Raub, Exekution oder Mord, internationale Hilfsaktion für ein bedrohtes Land oder imperialistische Aggression, Emanzipation oder Anarchie. Pareto erwähnt in diesem Zusammenhang das Schicksal von Worten wie „Freiheit“, „Freidenker“, „Humanität“ und gewisse pazifistische Derivationen, die darauf hinauslaufen, daß internationale Streitigkeiten durch Verhandlungen gelöst werden sollen, ausgenommen den Fall, daß es für ein Land vorteilhafter sei, die Streitfrage durch militärischen Einsatz zu lösen. Er kommt auch darauf zu sprechen, daß ein Wort allein schon dadurch eine völlig verschiedene Bedeutung erhalten kann, indem man ihm ein Beiwort hinzufügt: „ Man unterscheidet dann die wahre Freiheit von der einfachen Freiheit, und zuweilen ist die erstgenannte genau das Gegenteil von der zweiten.“ So hat jede Zeit ihre Modeworte, von denen niemand weiß, was sie genau besagen; klar ist nur, daß sie eine bestimmte Sache, Haltung oder Maßnahme entweder strahlend oder düster erscheinen lassen sollen. Solche Lichtvokabeln sind heute beispielsweise: kritisch, emanzipatorisch, sozial, demokratisch, ökologisch, dialektisch, revolutionär; ihnen gegenüber stehen Adjektive wie: reaktionär, autoritär, repressiv, positivistisch, konservativ, statisch, formell, unreflektiert. An der äußersten Grenze erweisen sich diese Derivationen als bloße „musica di vocabuli“, als reine Wortmusik. Für Pareto haben die meisten politischen, moralphilosophischen und naturrechtlichen Aussagen den Charakter von Derivationen, von Scheinbegründungen oder Scheinrechtfertigungen jeweils schon stillschweigend vorausgesetzter oder erwünschter Einstellungen. Ihre Sophistik ist keinesweigs immer leicht zu durchschauen und die Tatsache, daß noch heute sonst durchaus intelligente und liebenswerte Zeitgenossen den Namen Pareto nicht ohne Entrüstung hören können, erklärt sich wohl auch dadurch, daß niemand sich beliebt macht, der den Menschen zu zeigen beansprucht, wie unlogisch sie sich sogar im Gewände der Aufklärung verhalten.
Die wissenschaftliche Nullität der Derivationen ist für Pareto auch dadurch erwiesen, daß ein und diesselbe in den Dienst völlig verschiedener moralisch-politischer Ziele gesetzt werden kann. So hat man mit naturrechtlichen Argumenten sowohl die Notwendigkeit des Privateigentums als auch die seiner kommunistischen Abschaffung erweisen wollen. Ähnlich wurde die Methode der Dialektik nacheinander dazu benutzt, die preußische Monarchie, die kommunistische Diktatur, die Weltrevolution und den faschistischen Führerstaat als notwendig, vernünftig, fortschrittlich und legitim auszuweisen. Umgekehrt erkannte Pareto nicht minder, daß ein und dasselbe Residuum mit einander widersprechenden Derivationen gerechtfertigt zu werden vermag: „Ein Chinese, ein Mohammedaner, ein calvinistischer Christ, ein Katholik, ein Kantianer, ein Hegelianer, ein Materialist lehnen alle gleicherweise das Stehlen ab, aber jeder gibt für sein Verhalten eine unterschiedliche Begründung. Es sind Derivationen, die ein Residuum, das in allen vorhanden ist, mit einer Schlußfolgerung verknüpfen, die sie alle akzeptieren.“
Soweit Paretos Lehre von den Derivationen, die er mit einem gewissen grimmigen Vergnügen an „linken“ Mythen erläutert: an einer Gleichheitsdoktrin, die hinterrücks doch wieder neue Hierarchien einführt, indem sie alle gleich, einige aber gleicher sein läßt; einem Internationalismus, der imperialistische Großmachtpolitik tarnt; einem selektiven Humanismus, hinter dessen Wortschleiern die Messer zu Bluthochzeiten gewetzt werden. Diese Beispiele sollten freilich nicht dafür blind machen, daß Paretos ideologiekritische Derivationenlehre sich ebensogut gegen „rechte“ oder konservative Doktrinen anwenden läßt, und es ist kaum anzunehmen, daß der Verfasser des „Trattato“, hätte er länger gelebt, die hegelianischen, biologistischen und rassenmystischen Derivationen deutscher und italienischer Faschisten oder Nationalsozialisten wie Gentile, Bottai, Evola, Steding, Krieck und Larenz verschont haben würde.
Eine als vorwissenschaftlich angesehene Lehre besagt, daß die menschliche Gesellschaft mit ihren hierarchischen Strukturen und Klassenverhältnissen eine Folge der individuellen Verschiedenartigkeit, der ungleichen Verteilung von Fähigkeiten, Neigungen und Talenten sei. Dies gelte vor allem im Hinblick auf die Begabung, Macht auszuüben, zu herrschen, zu organisieren, zu verwalten und große Massen mitzureißen. Viele seien dazu bestimmt, beherrscht zu werden, wenige nur, zu herrschen. Ich brauche nicht zu erwähnen, daß diese Lehre, die, in unterschiedlicher Formulierung, von Heraklit, Platon, Aristoteles, Thomas von Aquino und auch noch Voltaire vertreten wurde, heute als schlechthin reaktionär gilt. Sie befindet sich auf dem Rückzug vor einer anderen Lehre, die mit dem Namen Marx verknüpft ist. Marx hat niemals beansprucht, die Existenz der Klassen und ihren Kampf untereinander entdeckt zu haben. Mit Recht weist er in seinem berühmt gewordenen Brief an Joseph Weydemeyer vom 5. März 1852 darauf hin, daß bürgerliche Gelehrte längst vor ihm die Geschichte des Kampfes der Klassen und die „ökonomische Anatomie“ derselben dargestellt haben. Sein Verdienst bestehe bloß darin, schreibt Marx in dem gleichen Brief, nachgewiesen zu haben, „daß die Existenz der Klassen bloß an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Produktion gebunden ist; 2. daß der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt; 3. daß diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bildet.. “ Mit anderen Worten: im Blick auf die Vergangenheit urteilt Marx nicht anders als „bürgerliche“ Forscher oder „rechte“ Ideologen. Ausbeutung, Herrschaft, Ungleichheit und Klassenantagonismus sind für ihn nichts Zufälliges, sondern die Konstituenten der bisherigen Geschichte und der Motor des kulturellen
Fortschritts, wie dies Marxens Mitstreiter und Freund Friedrich Engels ungerührt im „Anti-Dühring“ ausgesprochen hat: „Wir sollten nie vergessen, daß unsere ganze ökonomische, politische
und intellektuelle Entwicklung einen Zustand zur Voraussetzung hat, in dem die Sklaverei ebenso notwendig wie allgemein anerkannt war. In diesem Sinne sind wir berechtigt zu sagen:
Ohne antike Sklaverei kein moderner Sozialismus.“ Nicht in seiner Deutung der Vergangenheit, sondern nur im Hinblick auf die Zukunft ist also der Marxismus eine linke Theorie, indem er
annimmt, daß der Klassenkampf zur proletarischen Weltrevolution und diese schließlich zur klassenlosen Gesellschaft der Freien und Gleichen ohne Herrschaft, Entfremdung und Repression führen werde. Mittels einer gegenüber Hegel revolutionär umgewendeten Dialektik gelingt es Marx sozusagen, eine rechte Vergangenheitsschau mit einer linken Zukunftsvision zu verbinden.
Dieser Exkurs soll dazu beitragen, die Eigenart der Klassentheorie Paretos, seine Lehre von den politischen und sozialen Eliten zu verdeutlichen. Vorauszuschicken ist, daß der italienische Soziologe den Begriff Elite völlig wertfrei, ohne moralische Nebentöne, definiert. Elite besagt bloß, daß sowohl in der Gesamtgesellschaft als auch in jedem ihrer Untersysteme einige wenige eine Macht über ihresgleichen besitzen, die in keiner Proportion zu ihrer Zahl (und gewöhnlich auch nicht zu ihren Verdiensten) steht. Eine Minorität fällt Entscheidungen, die alle betreffen. An dieser Tatsache könne eine parlamentarische Demokratie ebensowenig ändern wie ein Sozialismus mit noch so menschlichem Antlitz. Es verwundert nicht, daß eine solche Lehre sowohl östlich wie westlich des Eisernen Vorhangs wenig beliebt ist. Sie gilt als zynisch, menschenverächterisch und machiavellistisch. Es scheint jedoch, daß sie die Wirklichkeit besser beschreibt als die Theorien von der Volkssouveränität oder der klassenlosen Gesellschaft. Keineswegs war Pareto deshalb ein Mann, der die „Unterprivilegierten“ verachtete oder sich über die Qualitäten der herrschenden Klassen fromme Illusionen machte. Die Weltgeschichte war ihm ein Friedhof von Eliten, und er sah keine Gründe, die zu der Vermutung berechtigten, daß in Zukunft das „oligarchische Faktum“, wie man es nennen könnte, eine geringere Rolle als früher spielen würde. Im Gegensatz zu Marx leugnete Pareto nicht nur die Möglichkeit einer klassenlosen Gesellschaft; er kritisierte auch dessen Reduktion aller sozialen Konflikte auf den Gegensatz von Kapitalisten und Arbeiterschaft. Er unterschied zum Beispiel zwischen Kapitalisten und Unternehmern und meinte, daß die letzteren in der Regel mit den Arbeitern durchaus auch gemeinsame Ökonomische Interessen haben. Pareto liefert keine Rezepte für eine utopische Gesellschaft, die von einer vertikalen Gliederung frei ist. Doch immerhin sagt er deutlich, wie eine funktionsfähige Gesellschaft beschaffen sein muß. Er betont die Notwendigkeit einer relativ freien Zirkulation zwischen den Klassen, also der Chance, daß fähige Elemente aus den Unterklassen in die Elite aufsteigen. Eine herrschende Klasse, die humanitäre Derivationen kultiviere, zugleich aber sich abschließe, bedeute ein Maximum an gesellschaftlicher Labilität Die abnehmende Stärke einer politischen Elite lasse keineswegs eine Abnahme ihrer Neigung zu Gewalttätigkeit erwarten. Pareto unterscheidet scharf zwischen Stärke und Gewalt, zwischen funktional notwendiger Macht und willkürlicher Brutalität, die oft ein Zeichen von innerer Schwäche sei. Zusammenfassend können wir Paretos diesbezügliche Ansichten etwa so formulieren: Klassen sind kein historisch-transitorisches Phänomen, sondern notwendige Elemente einer jeden möglichen Gesellschaft. Ihre Entstehung und Wirksamkeit hängt zwar mit Verhältnissen der Ökonomie zusammen, doch vermögen diese allein die vertikale Gliederung der Gesellschaften nicht hinreichend zu erklären. Hinzu kommt die Autonomie menschlichen Machtstrebens und die sich immer aufs neue stellende funktionelle Notwendigkeit von Autoritäten und Kompetenzen, um größere Kollektive überhaupt zu lebensfähigen Systemen organisieren zu können. Herrschende und nichtherrschende Klassen sind insofern keine Folge ökonomischer Ausbeutung, sondern ein politisch-organisatorisches Phänomen, das eine allgemeinmenschliche Wurzel hat. Pareto ist zwar nicht so weit gegangen, konkrete Klassenverhältnisse rassenbiologisch abzuleiten, doch spielen in seinen Analysen psychologische bzw. sozialpsychologische Überlegungen eine erhebliche Rolle. Verschiedene Klassen weisen nach ihm eine verschiedene Verteilung von Residuen auf, und die Individuen unterscheiden sich nun einmal stark voneinander in ihrem Wunsch und ihrer Fähigkeit zu herrschen. Der Kampf um die Macht ist für ihn weder ein Kampf aller gegen alle noch ein Kampf zwischen einer winzigen Elite und einer unterdrückten Masse. Er ist vielmehr in der Regel ein Kampf zwischen zwei konkurrierenden Minderheiten: einer bereits herrschenden, die möglicherweise geschwächt, verbraucht und zu einem Einsatz von Zwangsmitteln unfähig ist, und einer herrschsüchtigen, die die ihr noch fehlende Macht mit Hilfe von demokratischen Derivationen zu ergreifen sucht.
Ich breche an dieser Stelle ab im Bewußtsein, wie wenig diese kargen Andeutungen einen Begriff von dem analytischen Scharfsinn und der Fülle an historischen Belegen zu vermitteln vermögen, mit denen Pareto unter Verzicht auf Appelle und Propaganda seine illusionslose Elitentheorie entwickelt. Ohne Schönfärberei zeigt er, wie regiert wurde und wird; mit welchen Methoden Staaten gegründet, erhalten und zerstört werden; wie hinter sich wandelnden Fassaden konstante Formen von Ausbeutung und Bewirtschaftung von Menschen durch Menschen wieder- kehren; aufweiche Weisen überlieferte Klassenverhältnisse unterminiert und revolutionäre Kräfte in bestehende Systeme integriert werden; in welchem Ausmaß List, Betrug, Gerissenheit, Korruption und Propaganda neben den gröberen Mitteln Gewalt, Krieg, Plünderung und Mord die politische Geschichte prägen. In solchen düsteren Abschnitten erreichte Pareto eine faszinierende Größe, wie sie unter Sozialwissenschaftlern sehr selten anzutreffen ist. Er wirkt dann stärker als Machiavelli und Nietzsche, zwei ihm in manchen Zügen verwandte Denker, weil er auch dann noch eine gewisse nüchterne Beherrschtheit, eine aristokratische Distanz gegenüber Entrüstung oder Apologie behält, wo ein Thomas Macaulay nicht umhin konnte zu sagen: „Die Prinzipien der Politik sind derart, daß ein Straßenräuber erröten würde, sie seinen Spießgesellen auch nur anzudeuten.“
Dennoch hat dieser gnadenlose Analytiker menschlicher Illusionen, dem zumindest im reifen Alter religiöse Bedürfnisse unbekannt geblieben sein dürften, offen ausgesprochen, daß große Politik niemals nur an Interessen und materieller Gewalt sich orientieren könne. Ebenso bedeutsam erscheint ihm das, was er, wie schon vor ihm Tocqueville, „les croyances“ nennt, also elementare Glaubungen ― wenn dieses ungewöhnliche Wort erlaubt ist ―, die nicht logisch abgeleitet und auch nicht auszudefinieren sind, auf die aber ein Volk nur um den Preis der Würdelosigkeit und Dekadenz verzichten könne: „Es gibt in der Geschichte kein großes, starkes und erfolggewohntes Volk“, heißt es in einer 1911 erschienenen Schrift, „bei dem man nicht in der Tiefe wirksame Gefühle fände, die sich in einem Ideal, einer Religion, einem Mythos oder einem Glauben offenbaren. Jedes Volk, in dem diese Gefühle schwächer werden, befindet sich auf dem Weg der Dekadenz. Sehr viele kleine Völker sind groß geworden, weil sie den Glauben an sich selbst besaßen. Ein Volk, das diesen Glauben verliert, ist dem Untergang nahe .. .Nichts ist im Leben der Völker so praktisch wie das Ideal.“ Die Kehrseite zu der in diesen Worten sich ausdrückenden Einstellung bildet Paretos Urteil über sein Hauptwerk: „Wenn ich wüßte, daß mein ,Trattato‘ viel gelesen würde, schriebe ich ihn nicht.“ Denn ― „welches Gewicht werden experimentelle Wahrheiten an dem Tage haben, an dem die Heere angesichts des Todes aufmarschieren?“
Man hat den, der dies schrieb, politisch, moralisch und wissenschaftlich geächtet. Zynismus, Amoralismus, Elitismus und vor allem Faschismus sind die wichtigsten der ihm zugeschriebenen Ruchlosigkeiten. Diese Schelten werden in deutschen Landen seit Jahrzehnten ungeprüft wiederholt, und so gilt von Pareto auch heute noch Audens Wort über den unglücklichen Dichter Weinheber: „Die Jungen verdammen dich ungelesen.“ Wer sich mit dem vielgetadelten, doch wenig studierten Autor wirklich beschäftigt hat, wird freilich von ihm kaum mehr loskommen. Einmal ist Paretos Lehre, wie Raymond Aron betont, „eine Theorie der Manifestation der menschlichen Natur im sozialen Leben“. In ihrem Mittelpunkt steht der Mensch als ein handelndes Wesen, das, getrieben von Interessen, Leidenschaften und Glaubungen, sich niemals damit begnügt, einfach nur etwas zu tun, sondern immer auch Formeln der nachträglichen Rationalisierung und Legitimation, der Selbsttröstung und des Aufschwungs zu idealen Zielen produziert. Als anthropologischer Skeptiker hatte Pareto für die Utopie einer klassenlosen Gesellschaft oder eine als totale Selbstbestimmung verstandene Demokratie nur ein Lächeln übrig. Gleichwohl ist es unzulässig, in Pareto deshalb einen Faschisten, einen Lobredner unkontrollierter elitärer Gewalt und Menschenverachtung sehen zu wollen. An Wahrheit, strenger und nüchterner Wahrheit, interessiert, war er bemüht, die Sozialwissenschaften von der Stufe der Alchemie auf die einer empirisch-rationalen Disziplin zu heben. Es fehlt ihm jeder utopische Impuls, aber dafür sind ihm, gleichsam nebenher, einige erstaunlich treffsichere Prognosen über den künftigen Verlauf des zivilisatorisch-gesellschaftlichen Prozesses gelungen. Es mangelt ihm am deutschen Sinn fürs Absolute, doch nicht am lateinischen Sinn für das Maß und die Grenze, für das Bleibende, sich Wiederholende und Typische im geschichtlichen Wandel.
Pareto, der Sohn eines Italieners und einer Französin, ist dem Geist des Mediterranen verpflichtet, der griechisch-römischen Idee des Seins gegenüber dem Werden. Er geht davon aus, daß es unter der unendlichen Mannigfaltigkeit historischer Ereignisse ein relativ konstantes Element gibt: die condition humaine. So ist Paretos Soziologie mehr als ein Fach neben anderen; ein kaum ausschöpfbares Arsenal menschlicher Selbsterkenntnis. Wer seinen monumentalen „Trattato“ liest, durchschreitet einen Palast mit Festsälen, die von antikischer Heiterkeit erfüllt sind, aber auch mit unterirdischen Verliesen, wo einige verdrängte Themen einer ernst zu nehmenden politischen Philosophie und Anthropologie ihrer Entdeckung harren. „Vieles ist ungeheuer und nichts ungeheurer als der Mensch?“