Novalis

Der deutsche Orpheus und seine Braut

I.

„Fern ab liegt mir alle Habsucht: aber die blaue Blume
sehn ich mich zu erblicken. Sie liegt mir unaufhörlich
im Sinn, und ich kann nichts anders dichten und denken.“

Selten hat ein Symbol die allgemeine Vorstellung von einem Dichter in solchem Ausmaße bestimmt wie die blaue Blume im Falle von Novalis, der mit bürgerlichem Namen Georg Philipp Friedrich von Hardenberg hieß und am 2. Mai 1772 geboren wurde. Die blaue Blume, nach der den Helden seines 1802 postum erschienenen Romans „Heinrich von Ofterdingen“ träumerisch verlangt, ist nicht nur das bekannteste poetische Bild von Novalis, sondern auch das volkstümlichste Symbol dessen, was wir, unbestimmt genug, Romantik nennen. Novalis ist in die Literaturgeschichte als der Dichter der blauen Blume eingegangen.
Blau ― das ist die Farbe der Elemente Wasser und Luft, das läßt denken an ferne Horizonte und kosmische Sphären, an Zukunft, Wunder und Unendlichkeit, an den gestirnten Schleier der Madonna und die absolute Sehnsucht nach dem utopisch entrückten Ideal: „Dem Traum folgen und nochmals dem Traum folgen und so ewig ― usque ad finem.“ Die berühmte blaue Blume erscheint um so geheimnisvoller, weil sie botanisch unbestimmt bleibt; sie steht für Dichtung, Liebe, Magie, für das Wunderbare schlechthin und die Möglichkeit einer ekstatischen Wirklichkeitserfahrung, die ganz anders ist als unser gewohnter Kontakt zur Welt. „Trägt nicht alles, was uns begeistert, die Farbe der Nacht?“, heißt es in diesem Sinne in der vierten „Hymne an die Nacht“.
Die blaue Blume, nach der Heinrich von Ofterdingen auszieht wie Parzival nach dem Gral, versinnbildlicht des Esoterische und Transparente in Novalis‘ Stil, die visionäre Alltagsferne im Gehalt seiner Poesie, den Tiefsinn seiner Deutung des Universums. Der Quell, an dem er die Wunderblume im Traume findet, ist der Brunnen der Erkenntnis, die Blume ― in ihrem Kelch schwebt ein zartes Mädchenantlitz ― die Liebe als der Urquell der Erkenntnis. Der Ofterdingen-Roman sollte eine Apotheose der Poesie sein. Novalis starb vor der Vollendung dieses Werkes, so daß von der eigentlichen „Erfüllung“ ― wie der zweite Teil heißen sollte ― nur rätselhafte Bruchstücke und Skizzen andeutungsweise Kunde geben. Wie der Roman, blieb das meiste von Novalis Ahnung, Entwurf, Fragment und eben deshalb so vieldeutig, zu verwandelnder Auslegung einladend. Man hat sein Lebenswerk mit einem unvollendeten Dom verglichen, dessen Dreiflügelaltar die „Hymnen an die Nacht“, die „Geistlichen Lieder“ und das geschichtsmystische Manifest „Die Christenheit oder Europa“ bilden, während die naturphilosophische Schrift „Die Lehrlinge zu Sais“ das weite Schiff darstellt und der „Ofterdingen“ die sich mächtig darüber wölbende Decke, die jedoch, nie geschlossen, den Himmel hereinleuchten läßt, den blauen Schleier Sophiens, wie es im Märchen von Eros und Fabel heißt, mit dem der erste Teil des Romans ausklingt.
So haben Symbolik, Melodie und Aura seines dichterischen Werkes, aber auch gewisse Ereignisse im Leben dieses „Frühvollendeten“, insbesondere dessen Liebe zu der kindlichen Sophie von Kühn, den Zugang zu Novalis sowohl eröffnet als auch verbaut. Die Gestalt dieses Zeitgenossen von Hölderlin, Schlegel und Schelling wurde verfälscht zum süßlichen Andachtsbild einer emsigen Gemeinde von Suchern und Süchtigen. Dieser sektiererische Zug zeichnete sich schon zu Lebzeiten des Dichters ab, als Friedrich Schlegel dem Freunde schrieb, er habe vielleicht „Talent zu einem neuen Christus“, dann in Kreisen mancher Konvertiten und Schöngeister wie Otto Heinrich Graf von Loeben und hörte mit Rudolf Steiners Emphase für den „wiedergeborenen Raffael, Elias und Johannes“, den deutschen Seher und Christuskünder noch lange nicht auf. Teuer ist dieser Novalis-Kirche, wie man sie nennen könnte, die Ikone vom blassen, erdenfernen, an Schwindsucht dahinsiechenden Schwärmer mit der kindlichfrommen Miene, vom träumerischen Liebhaber eines todgeweihten adeligen Fräuleins, vom weltflüchtigen und jenseitstrunkenen Mystiker. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Sucht- und Rausch-Welle, die gegenwärtig unter den jungen Menschen Westeuropas und Amerikas grassiert, nach Hermann Hesses „Steppenwolf‘ auch noch Novalis‘ romantische Todeserotik und Mystik der Nacht für sich entdecken wird.
Es wäre nicht der ganze Novalis, der damit in den Blick rückte, jener Novalis, den die neueren Forschungen von Richard Samuel, Heinz Ritter und Gerhard Schulz sowie Thomas Manns bahnbrechende Hinweise in seiner Rede „Von deutscher Republik“ (1922) uns erschlossen haben.
Da ist einmal Friedrich von Hardenberg, der juristisch, kameralistisch und naturwissenschaftlich hervorragend geschulte Verwaltungsbeamte und Manager, der als einziger Romantiker ― wenn man von Franz Baader absieht ― einem nichtliterarischen Beruf nachging und die Schriftstellerei ausdrücklich nur als Nebensache ansah. Briefe, Tagebücher, Memoranden und Gutachten geben Aufschluß über seine rastlose berufliche Aktivität. Sie lassen sein Gefühl für soziale Nöte, sein ausgeprägtes Interesse an wissenschaftlich-technischen Neuerungen erkennen. Nach seinen Universitätsstudien in Jena, Leipzig und Wittenberg zuerst Aktuarius in einem Kreisamt, wurde er 1796 Akzessist bei der kursächsischen Salinenbergwerksverwaltung in Weißenfels und schließlich Mitglied des Salinendirektoriums. Daß Novalis im Bergbau tätig war, ist eine der schönsten Übereinstimmungen zwischen seiner äußeren und inneren Existenz. Es kann keine Rede bei ihm sein von einem Doppelleben zwischen Beruf und Berufung: er suchte und bejahte die tätige Berührung mit der Welt in Arbeit, Forschung und Verwaltung. Stets bewährte sich sein Fleiß, seine Umsicht und Genauigkeit, die Dinge zu überblicken und praktisch zu meistern, mochte es sich um Gutachten über das Vorkommen von Bodenschätzen, Vorschläge für die Verbesserung von Schmelzöfen und Fabrikationsmethoden, Berichte über administrative und personelle Probleme handeln. Hardenberg war überdies auf Veranlassung des weltberühmten Freiberger Mineralogen Abraham Gottlieb Werner, bei dem er 18 Monate studiert hatte, an verantwortlicher Stelle bei der geologischen Erschließung und Kartographierung Sachsens tätig und hat insofern maßgebenden Anteil an der Entdeckung eines der reichsten Braunkohlevorkommen in Deutschland. Seine poetischen und philosophischen Hauptwerke entstanden durchwegs in Zeiten angestrengtester und vorbildlicher beruflicher Arbeit; sie wurden geschrieben von einem jungen Mann, der ununterbrochen in praktischem Kontakt mit der natürlichen, gesellschaftlichen und ökonomischen Wirklichkeit stand und der diese Wirklichkeit nicht nur interpretieren, sondern auch verändern wollte.
Ein Mann, der dies alles geleistet hat, der fast ständig ― meist zu Pferde ― unterwegs war, der immense Konzentration, produktive Vielseitigkeit und nüchterne Rationalität mit einem Enthusiasmus für Metaphysik, Theosophie und Mystik in sich vereinigte, kann denn nicht von so kränklicher Konstitution gewesen sein, wie meistens unterstellt wird. Er muß ein überaus robustes Naturell gehabt haben, um überhaupt eine derartige berufliche Laufbahn einschlagen und eine solche Fülle enzyklopädischer Studien hinterlassen zu können. Es leidet keinen Zweifel, daß er alle Anlagen zu einem genialen Manager aufwies, daß ihm, lebte er heute, die Leitung eines multinationalen Konzerns oder einer Raumfahrtbehörde durchaus zugemutet werden könnte. Novalis hat nichts mit der Idyllik der Biedermeierzeit, sehr viel aber mit dem Zeitalter der Computertechnik, der Kybernetik und der technologischen Langfristplanung zu tun.
„Man muß die ganze Erde wie ein Gut betrachten und von ihr Ökonomie lernen“, dieser Satz stammt ebenso von ihm wie die Prägung „Zukunftslehre“, also Futurologie, und das Postulat, „die Vergangenheit aus der Zukunft“ zu erklären. „Maschinen und chemische Bereitungsarten zu erfinden, ist für den szientifischen Kopf das fruchtbarste Feld“, notierte dieser hochintellektuelle Träumer, und an anderer Stelle: „Wolkenerzeugungsapparate im großen, um Wasser an wasserleere Orte zu bringen.“ Fremd war ihm die Wirtschaftsfeindlichkeit so vieler deutscher Romantiker, wie ein weiteres Fragment beweist: „Der Handelsgeist ist der Geist der Welt. Er ist der großartigste Geist schlechthin. Er setzt alles in Bewegung und verbindet alles. Er weckt Länder und Städte, Nationen und Kunstwerke. Er ist der Geist der Kultur, der Vervollkommnung des Menschengeschlechts.“ Ein halbes Jahrhundert nach Novalis wird Marx im Kommunistischen Manifest in ähnlich hymnischen Worten die weltgeschichtlich revolutionäre Rolle des aufstrebenden Kapitalismus preisen. Es finden sich aber auch sozialistische ― freilich: staatssozialistische ― Ansätze bei diesem vielfach zum reaktionären Monarchisten abgestempelten Aristokraten: „Zur Holzersparung ― gemeinschaftliche Küchen ― gemeinschaftliche Wohngebäude… Die ganze Ökonomie im Staate könnte im großen betrieben werden … Taxation der Arbeiten.“ Und im „Ofterdingen“ läßt Novalis einen alten Bergmann folgendes sagen: „Die Natur will nicht der ausschließliche Besitz eines einzigen sein. Als Eigentum verwandelt sie sich in ein böses Gift, was die Ruhe verscheucht, und die verderbliche Lust, alles in diesen Kreis des Besitzers zu ziehn, mit einem Gefolge von unendlichen Sorgen und wilden Leidenschaften herbeilockt.“ Der Novalis, der aus diesen Sätzen spricht, war es auch, der, wie einem Brief an Friedrich Schlegel zu entnehmen ist, „die Errichtung eines literarischen, republikanischen Ordens ― der durchaus merkantilisch politisch ist― einer echten Kosmopolitenloge“ projektierte. Geplant war so etwas wie ein den Autoren eigener Verlag mit angeschlossener Druckerei und einem Büro in Jena, Hamburg oder der Schweiz. Eine solche übernationale Assoziation sollte nicht zuletzt Schutz vor staatlicher Bevormundung und verlegerischer Abhängigkeit gewähren. Novalis, der dem preußischen Königspaar Friedrich Wilhelm III. und Luise mit seiner Schrift „Glauben und Liebe“ huldigte, war sogar der ganz radikaldemokratische, geradezu proto-marxistische Gedanke nicht fremd, daß es nur „aus Ökonomie“ einen König gebe; müßten wir mit unseren Mitteln weniger haushälterisch umgehen, so wären „wir alle Könige“. Die Marxsche Idee, daß ein entwickelter Stand der Produktivkräfte die Herrschaft eines oder weniger obsolet machen würde, hat Novalis mit seiner freundlichen Utopie einer Republik von Königen bereits vorweggenommen: „Alle Menschen sollen thronfähig werden. Das Erziehungsmittel zu diesem fernen Ziel ist ein König. Er assimiliert sich allmählich die Masse seiner Untertanen. Jeder ist entsprossen aus einem uralten Königsstamm. Aber wie wenige tragen noch das Gepräge dieser Abkunft.“ Zweck des Staates sei es, „den Menschen absolut mächtig ― und nicht absolut schwach ― nicht zum trägsten ― sondern zum tätigsten Wesen zu machen … Die Staaten müssen endlich gewahr werden, daß die Erreichung aller ihrer Zwecke bloß durch Gesamtmaßregeln möglich ist.“
Antonio Gramsci, der bedeutende italienische Marxist, hatte nicht so unrecht, wenn er in einem Artikel aus dem Jahre 1916 Novalis für den Sozialismus reklamierte. Ich würde es freilich vorziehen, die Aktualisierung nicht so weit zu treiben, und den Romantiker statt dessen einen konservativen Revolutionär nennen. Diese dialektische Formel scheint mir die ganze Spannweite des Novalisschen Geistes besser zu charakterisieren als andere, direktere Etikettierungen. Doch bevor wir uns am Schluß diesem Aspekt Hardenbergs zuwenden, sei noch versucht, seine Seelenlandschaft, sein Lebensgefühl wenigstens andeutungsweise zu umreißen.
Das Rätsel von Novalis‘ Dasein liegt nicht zuletzt darin, wie dieser von hellwacher Aufmerksamkeit, grenzenloser intellektueller Neugier und ungemein praktischem Verstand erfüllte Mann zugleich wie nur noch einige seltene homines religiosi ständig in einer Welt des Wunderbaren zu leben vermochte, gleichsam als ein frei in seiner irdischen Verkörperung spielender Geist, der unendlicher Metamorphosen sich lächelnd bewußt ist. Es gibt wohl in jedem Leben ― in dem einen häufiger, dem andern seltener ― bevorzugte Augenblicke, in denen unser gewohnter Kontakt zur Welt und zu uns selbst von einer spontanen, ursprünglicheren und ungetrübteren Wirklichkeitserfahrung außer Kraft gesetzt wird. Die scheinbar undurchdringliche, in langer Gewöhnung erstarrte Realität bricht dann in sich zusammen, ohne jedoch zum Chaos zu werden, sondern eine tiefere, umfassendere und reinere Sicht der Dinge freigebend. Echtes Staunen ist bereits der Anfang eines solchen ekstatischen Moments, in dem sich das wahre Antlitz des Seins zu enthüllen scheint und alles in einem neuen Licht erstrahlt. Selbst wenn wir von der Frage absehen, ob das, was er am Grabe seiner Verlobten erlebte―die dritte Hymne an die Nacht berichtet davon ―, eine Vision genannt werden kann oder nicht, so steht doch außer Zweifel, daß Novalis mit einem eminenten Sinn für das Wunderbare begabt war.
„Es liegt nur an der Schwäche unserer Organe und der Selbstberührung, daß wir uns nicht in einer Feenwelt erblicken. Alle Märchen sind nur Träume von jener heimatlichen Welt, die überall und nirgends ist.“ ― „Die höhere Welt ist uns näher, als wir gewöhnlich denken. Schon hier leben wir in ihr, und wir erblicken sie auf das innigste mit der irdischen Natur verwebt“ ― „Wünsche und Begehrungen sind Flügel. Es gibt Wünsche und Begehrungen, die so wenig dem Zustande unseres irdischen Lebens angemessen sind, daß wir sicher auf einen Zustand schließen können, wo sie zu mächtigen Schwingen werden, auf ein Element, das sie heben wird, und Inseln, wo sie sich niederlassen können.“ ― „Das willkürlichste Vorurteil ist, daß dem Menschen das Vermögen außer sich zu sein, mit Bewußtsein jenseits der Sinne zu sein, versagt sei: Der Mensch vermag in jedem Augenblicke ein übersinnliches Wesen zu sein. Ohne dies wäre er nicht Weltbürger, er wäre ein Tier.“ Dies sind nur einige Beispiele, die bezeugen, wie sehr Novalis mit dem vertraut war, was Robert Musil den „anderen Zustand“ genannt hat. Bemerkenswert sind diese Stellen vor allem insofern, als sie durchwegs nicht auf religiöse Offenbarung zurückgreifen und auch nicht dem Gebrauch von halluzinogenen Drogen zwecks Erzwingung solcher metaphysischer Zustände das Wort reden. Weder Theologie noch Pharmazie bemühend, notiert Novalis vielmehr in bemerkenswert nüchternen Sätzen die möglichen Anlässe jenes wunderbaren Erlebens: „Freilich ist die Besonnenheit, Sichselbstfindung, in diesem Zustande sehr schwer, da er so unaufhörlich, so notwendig mit dem Wechsel unserer übrigen Zustände verbunden ist… Auffallend wird die Erscheinung besonders beim Anblicke mancher menschlichen Gestalten und Gesichter, mancher Mienen, mancher Bewegungen, beim Hören gewisser Worte, beim Lesen gewisser Stellen, bei gewissen Hinsichten auf Leben, Welt und Schicksal. Sehr viele Zufalle, manche Naturereignisse, besonders Jahres- und Tageszeiten, liefern uns solche Erfahrungen. Gewisse Stimmungen sind vorzüglich solchen Offenbarungen günstig. Die meisten sind augenblicklich, wenige verweilend, die wenigsten bleibend. Hier ist viel Unterschied zwischen den Menschen.“ Grundsätzlich vermag alles zum Anlaß solcher tiefen Verwunderung zu werden und uns die über die ganze Erde verstreuten Spuren des Paradieses finden lassen. „Jedes Willkürliche, Zufällige, Individuelle kann unser Weltorgan werden. Ein Gesicht, ein Stern, eine Gegend, ein alter Baum usw. kann Epoche in unserm Innern machen.“
Novalis hat diese und ähnliche Erfahrungen mit seiner Lehre vom „magischen Idealismus“ zu erklären versucht, die Gedanken Fichtes und Schellings aufgreift und radikalisiert. Sie ist gewissermaßen ein Versuch, die archaische Weltbeseelung des Schamanentums mit Hilfe des Instrumentariums der Transzendentalphilosophie zu erneuern. Ihm zufolge ist die dem natürlichen Bewußtsein erscheinende und von den Naturwissenschaften erforschte Natur „eine versteinerte Zauberstadt“, ins Gegenständliche verhexter Geist. Die Natur bedarf eines Gegenzaubers, eines Wortes, das die Kraft hat, den Bann zu brechen und sie in ihr wahres Wesen zu befreien. Dieses die Natur aus ihrer Entfremdung erlösende Wort ist das Wort der Poesie. Für Novalis ist das Märchen „gleichsam der Kanon der Poesie“. Diese Philosophie des magischen Idealismus hat Novalis in seinem Märchen von Rosenblütchen und Hyazinth (in den „Lehrlingen zu Sais“) und der Erzählung Klingsohrs im „Ofterdingen“ niedergelegt, am ergreifendsten aber in jenem apokalyptischen Zaubergedicht:
Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren 
Sind Schlüssel aller Kreaturen, 
Wenn die, so singen oder küssen, 
Mehr als die Tiefgelehrten wissen.
Wenn sich die Welt ins freie Leben 
Und in die Welt wird zurückbegeben, 
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten 
Zu echter Klarheit werden gatten 
Und man in Märchen und Gedichten 
Erkennt die wahren Weltgeschichten, 
Dann fliegt vor einem geheimen Wort 
Das ganze verkehrte Wesen fort.
So märchenhaft und kindlich-schlicht sich diese orphischen Verse auch geben, so ungeheuerlich und maßlos ist doch ihr Anspruch, wenn man sie, im Sinne des magischen Idealismus, als philosophisches Programm nimmt. Doch auch wer jenes Programm für gefährlich hält und im magischen Idealismus nur einen fragwürdigen Rehabilitierungs-versuch archaischer Bewußtseinsformen zu sehen vermag, wird nicht umhin können, in Novalis einen Kronzeugen für die Möglichkeit des Wunderbaren in dieser Welt, für den Wunder-Charakter der Welt überhaupt und für die Möglichkeit eines „anderen Zustandes“ anzuerkennen. All dies hat sein Recht und seine Gültigkeit unabhängig von den philosophischen Begründungen, die Friedrich von Hardenberg dafür gegeben hat. Es handelt sich hier um transzendentale Erfahrungen, die auch eine ganz andere Interpretation zulassen als die des magischen Idealismus. Ihren gültigsten Niederschlag finden sie nicht in philosophischen Doktrinen, sondern in künstlerischen Gebilden, oft in wenigen dichterischen Zeilen, die das Geheimnis des anderen Zustands ebenso ahnen lassen wie jener Frühlingstag, von dem Novalis bedeutungsvoll sagt: „Es sind nicht die bunten Farben, die lustigen Töne und die warme Luft, die uns im Frühling so begeistern. Es ist der stille weissagende Geist unendlicher Hoffnungen, ein Vorgefühl vieler froher Tage, des gedeihlichen Daseins so mannigfaltiger Naturen, die Ahnung höherer ewiger Blüten und Früchte, und die dunkle Sympathie mit der gesellig sich entfaltenden Welt.“
Am 19. März 1797 war Sophie von Kühn gestorben. Erst dieser Tod, der Hardenbergs Glauben an ein gemeinsames Glück im Diesseits zerschlug, hat die schöpferischen Kräfte des damals 25jährigen entbunden und ihm den „geheimnisvollen Weg nach innen“ gewiesen. Zur Erkundung dieses Weges bedurfte es eines neuen Ausdrucksmittels. Es ist das Fragment. Von August an schrieb und sammelte Hardenberg Gedankenblitze, Aphorismen und Apergus, oft antithetisch-dialektisch gefaßt. „Es sind Bruchstücke des fortlaufenden Selbstgesprächs in mir ― Senker… Revolutionären Inhalts scheinen sie mir hinlänglich“, teilt er dann in den Weihnachtstagen 1797 Friedrich Schlegel, dem Freunde, mit. Es handelt sich um jene Fragmente, die 1798 im ersten Stück des .Athenäums“, der programmatischen Zeitschrift der Frühromantik, unter dem harmlos scheinenden Titel „Blütenstaub“ erschienen sind. Ihr Verfasser hatte sich ausbedungen, daß diese Bruchstücke unter der Chiffre Novalis veröffentlicht würden, „welcher Name ein alter Geschlechtsname von mir ist und nicht ganz unpassend“. Hardenberg wählte diesen bereits um 1200 von im Hannoverschen lebenden Vorfahren verwendeten Namen, um den „revolutionären Inhalt“ seiner Fragmente zu unterstreichen. Novalis bedeutet Neuerer, Erneuerer, der Neuland begeht, besät oder auch rodet.
Und in der Tat: neu sind nicht nur Form, Ausdrucksgewalt und Kühnheit seiner Gedankenblitze, sondern auch die Art seines Anspruchs und Selbstverständnisses: „Wir sind auf einer Mission: zur Bildung der Erde sind wir berufen.“
Novalis war ein Revolutionär ― Ludwig Pesch nennt ihn den „sonderbarsten Revolutionär der europäischen Geschichte“ ―, und er hatte auch ein klares Bewußtsein davon. Er verkörpert wie kein anderer den revolutionären Gehalt der romantischen Bewegung. Die Romantik war eine Freiheitsbewegung, mitbewegt von dem säkularen Ereignis der Französischen Revolution und diese in ihren verschiedenen Etappen kritisch begleitend. Auch die Romantik, wie sie in Novalis Gestalt geworden ist, war an der Emanzipation leidenschaftlich interessiert: die Befreiung von Eros, Phantasie und Gefühl, des Individuellen, aber auch des Weiblichen wie des Jugendlich-Kindlichen lag ihr ebenso am Herzen wie die Hinwendung zu den „unteren“ Mächten in Gesellschaft, Kultur und Psyche: zum „Volk“, zu Märchen, Sage, Legende und Volkslied, zum Unbewußten und Archetypischen. Bei
Novalis selbst hat dies alles mit reaktionärer Verfinsterung und Irrationalismus nichts zu tun: er war ein subtiler Denker, Reflexion auf Reflexion türmend, und wagte sich als erster analytisch in Regionen vor, die ein Jahrhundert später von Freud und C. G. Jung wissenschaftlich erforscht, von Joyce und Yeats poetisch erobert wurden.
Und dennoch war dieser Revolutionär zugleich wie kein anderer ein Liebhaber des Uralten, des Unvordenklichen, des Ewig-Gestrigen, Bergmann nicht nur dem bürgerlichen Berufe nach. Novalis wuchs in den vier Jahren seiner dichterischen und denkerischen Entfaltung immer tiefer hinab in die Welt der Überlieferung, in vorgeschichtliche, vorzeitliche Kontinente. In seinem „Ofterdingen“ gedachte er Mittelalter und Antike, Orient und Okzident, Christentum und Heidentum zur Darstellung zu bringen. Er ließ sich ergreifen von dem Reich des Todes und der Toten, wie er auch auf bestürzende, doch wieder nicht unfromme Weise Christus und den Tod ineins zu sehen vermochte. Er wußte um die tiefsten Grundwasser menschlicher Geschichte, die man nicht ungestraft verwahrlosen lassen und vergeuden kann. Er meinte, daß nur dem die Zukunft zu deuten gelingt, der den Schlüssel zu den Krypten der Vergangenheit innehat: „Echt historischer Sinn ist der prophetische Visionssinn ― erklärbar aus dem tiefen unendlichen Zusammenhang der ganzen Welt“ Kern des Christentums war ihm die „Apotheose der Zukunft, dieser eigentlich besseren Welt“, doch gerade in seinem geschichtsphi-losophischen Traktat „Die Christenheit oder Europa“ wendet er sich gegen jene, die Vergangenheit und Zukunft, Fortschritt und Tradition, Geschichte und Übergeschichte trennen wollen: „Beide Teile haben große, notwendige Ansprüche und müssen sie machen, getrieben vom Geiste der Welt und der Menschheit. Beide sind unvertilgbare Mächte der Menschenbrust: hier die Andacht zum Altertum, die Anhänglichkeit an die geschichtliche Verfassung, die Liebe zu den Denkmalen der Altväter und der alten glorreichen Staatsfamilie, und Freude des Gehorsams; dort das entzückende Gefühl der Freiheit, die unbedingte Erwartung mächtiger Wirkungskreise, die Lust am Neuen und Jungen, die zwanglose Berührung mit allen Staatsgenossen, der Stolz auf menschliche Allgemeingültigkeit, die Freude am persönlichen Recht und am Eigentum des Ganzen, und das kraftvolle Bürgergefühl. Keiner hoffe, die anderen zu vernichten, alle Eroberungen wollen hier nichts sagen, denn die innerste Hauptstadt jedes Reiches liegt nicht hinter Erdwällen und läßt sich nicht erstürmen.“
Dies sind die Worte des konservativen Revolutionärs Novalis.
Seine Jünglingsgestalt scheint ferner als ein Gestirn und doch brüderlich nahe wie es ein Klassiker nie sein könnte. Es ist ein Abenteuer, sich in ihn zu vertiefen, ihn zu lesen und zu befragen, mit seinen staunenden Fremdlings-Augen in jenes „innere, äußerst weite und unendliche Weltall“ zu blicken, als dessen Bürger er sich fühlte.
Ist Novalis ein Vorbild? Nein und ja. Nein: da für Menschen seines Schlages das Ofterdingen-Wort gilt, „daß eine besondere Gestirnung dazu gehört, wenn ein Dichter zur Welt kommen soll“; für sie scheinen Laufbahn, Aufgabe und Wirkung von Geburt an vorbestimmt. Ja: da er kein Vergangener und Begrabener ist, sondern Zeitgenosse unserer Zukunft, von der so viele seiner erregenden Texte vibrieren; da es heute mehr denn je darauf ankommt, in einer von „harter“ Wissenschaft und Technik geprägten Welt die „weiche“ Neigung zu den Randzonen des Unerforschten zu kultivieren, die Zukunft zu gestalten und gleichwohl die Erinnerung nicht zu verlieren, revolutionär zu sein und Tradition wenigstens zuzulassen.
Auf dem westdeutschen Germanistentag 1968 wurde die Parole laut: „Macht die blaue Blume rot…“ Sofern damit die herkömmliche Literatur- und Sprachwissenschaft kritisiert wird, sind keine Worte zu verlieren. Novalis selbst freilich ist nicht nur der Dichter der blauen Blume und auch diese steht für mehr denn bloßen Muff von tausend Jahren. Gut wird es erst dann stehen um Deutschland, und dieses wird sich selbst gefunden haben, wenn Karl Marx den Novalis gelesen haben wird ― eine Begegnung übrigens, die in Frankreich bereits vor einem halben Jahrhundert im Surrealismus Ereignis geworden ist. Bis dahin bleibt, verglichen mit seinen bilder- und bildungsstürmerischen Kritikern, Novalis der wahre Revolutionär. Wenn wir seinen Namen zurückrufen, dann als Chiffre für das Abenteuer menschlicher Subjektivität, die gewaltlose Macht schöpferischer Erneuerung und die Möglichkeit sinnvollen Lebens in einer rätselhaft bleibenden Welt.

(1972)

II

Solange wir das Geheimnisvolle gelten
lassen, sind wir gesund; sobald wir
dem Geheimnisvollen ein Ende machen,
geben wir dem Krankhaften Raum.
G. K. Chesterton
Sophie von Kühn (1782 -1797) geistert durch die Literaturgeschichte als Braut des Dichters Novalis, der mit bürgerlichem Namen Friedrich von Hardenberg hieß. Sie war keine von jenen gebildeten oder gar kongenialen Romantiker-Frauen und -Geliebten, zu denen Caroline Böhmer-Schlegel-Schelling, Dorothea Schlegel oder Bettina von Arnim zu zählen sind. Sie hat auch, anders als Karoline von Günderode oder Rahel Varnhagen, außer einigen belanglosen Briefen und Zettelchen mit kurios malträtierter Rechtschreibung nichts Schriftliches hinterlassen. Sie machte sich nicht viel aus Poesie, rauchte hin und wieder Pfeife, trank gern Wein, fürchtete sich vor Gespenstern und glaubte nicht an den christlichen Himmel, sondern an die Seelenwanderungslehre der Inder und Pythagoreer. Sie war ein Kind, solange sie lebte, denn sie wurde nur fünfzehn Jahre und zwei Tage alt. Man hat Sophie von Kühn für einen himmlischen Engel, eine dumme Gans und eine pikante Lolita gehalten. Sie war weder dies noch jenes. Auf jeden Fall war sie aber ein frühreifes und kapriziöses Wesen von elfenhafter Anmut. Alle, die ihr begegnet sind, eingeschlossen Goethe, waren von ihrem Gesicht und ihrer Gestalt angetan.
Vieles an der Verbindung von Novalis und Sophie von Kühn erscheint bis heute rätselhaft. Was konnte sie außer jugendlichem Charme und einer gewissen Drolligkeit dem um zehn Jahre älteren Mann bieten? Muß man nicht an die Miniaturszene von Peter Altenberg denken: „ ,Woran denkst Du, Mädchen?!?‘ ― ,An nichts‘. ― Aus diesem Nichts machen wir unsere tiefsten Lieder‘, sagte der Dichter.“
Kann man das Verhältnis zwischen den beiden, die sich bis zuletzt mit „Sie“ anredeten, überhaupt als „Liebe“ kennzeichnen? Novalis deutete es so; aber was empfand Sophie für ihn? Wir kennen von diesem Mädchen, das zwölf Jahre alt war, als der Dichter ihm begegnete, keine einzige Äußerung, die den Schluß auf eine tiefere seelische Verbundenheit mit ihm zuläßt. Er war ihr, günstigstenfalls, bloß sympathisch.
Für Novalis hingegen bedeutete Sophie die Mitte seines Lebens; von dem Tag an, da er sie kennenlernte, datierte für ihn eine neue Zeitrechnung. Er hat nie im geringsten daran gezweifelt, daß Sophie die für ihn von Ewigkeit her prädestinierte Geliebte sei. Dennoch war er sowenig blind für die Realität, daß er nach bald zweijähriger Bekanntschaft auf einem Tagebuchblatt seine Braut so charakterisieren konnte: „Hang zum kindlichen Spiel.
Ihr Schreck vor der Ehe. ― Herrschsucht. ― Sie will sich nicht durch meine Liebe genieren lassen. ― Meine Liebe drückt sie oft. Sie ist kalt durchgehends. ― Sie läßt sich nicht duzen.“ Er bescheinigt ihr aber auch Anstand, vornehme Zurückhaltung, „Passion für das Schickliche“, Taktgefühl und „unschuldige Treuherzigkeit“, imitatorisches Talent, „Wohltätigkeit“ und faßt schließ lich die widerstreitenden Eindrücke in das allerdings glanzvolle Kompliment zusammen: „Sie will nichts sein, sie ist etwas.“
Dieses zarte, kränkliche und schließlich moribunde Geschöpf, eine letzte Blüte des Rokoko, hat Friedrich von Hardenberg zu dem romantischen Dichter Novalis, dem „deutschen Orpheus“ werden lassen, als der er in die Weltliteratur eingegangen ist. Nicht die lebende Sophie von Kühn war dazu imstande, sondern die tote.

Zwischen dem 8. und 10. März 1797 hatte Novalis seine Braut, die junge Sophie von Kühn, zum letzten Mal in Grüningen besucht Die von einem Leberleiden, zu dem dann noch eine Tuberkulose kam, heimgesuchte Patientin war damals schon seit langem schwerkrank.
Am 19. März 1797 um neun Uhr morgens starb Sophie ― zwei Tage nach ihrem 15. Geburtstag. Zwei Tage später erfährt Novalis vom Tode des Mädchens.
Der erste Brief, in dem er sich auf ihr Ableben bezieht, ist vom 23. März 1797:
„Es ist Abend um mich geworden, während ich noch in die Morgenröte hineinsah. Meine Trauer ist grenzenlos, wie meine Liebe. Drei Jahre ist sie mein stündlicher Gedanke gewesen. Sie allein hat mich an das Leben, an das Land, an meine Beschäftigung gefesselt Mit ihr bin ich von allem getrennt, denn ich habe mich selbst fast nicht mehr. Aber es ist Abend geworden, und es ist mir, als würde ich früh weggehen.“
So Novalis an den in Jena lehrenden Historiker Prof. Dr. Karl Ludwig von Woltmann. Seine Ahnung, daß er „früh weggehen“ würde, hat sich, beinahe auf den Tag, vier Jahre später erfüllt: Novalis starb am 25. März 1801 in Weißenfels, noch keine 29 Jahre
alt.
Am 24. März 1797 schreibt Novalis an Caroline Just, die Nichte des Kreisamtmanns August Coelestin Just, seines Vorgesetzten in Tennstedt:
„Mich selbst hab ich verloren ― die wichtigsten Jahre meines Lebens, wo ich zu mir selbst kam, wo ich zu leben anfing, die muß ich wie ein verbranntes Blatt abreißen ― wenn ich kann. Grüningen, die Wiege meines besseren Selbst, ist mir zur Grabstätte geworden … Wie oft denk ich mir jetzt, daß ein geöffneter Sinn längst ihre Bestimmung für den Himmel hätte ahnden sollen … Sie war zu schön …“
Schon in der Trauer und Wehmut der ersten Tage seines Verlassenseins, die mit dem beginnenden Frühling zusammenfallen, beginnt sich das Bild der kindlich jungen Geliebten zu verklären. Daß sie nicht wirklich tot sei, daß Sophies Seele weiterlebe, ist für Novalis eine Gewißheit, die er nie bezweifelt. Sie selbst hat, wie er etwa ein halbes Jahr vor ihrem Tode notierte, an kein dauerndes Leben der abgeschiedenen Seelen im Himmel, „aber an die Seelenwanderung“ geglaubt.
Novalis erhebt die verstorbene Braut zu seinem Genius, zu seiner Seelenbegleiterin, zu seinem ihm bestimmten Engel. Sein Verlobungsring zeigt außen ein Medaillon der Geliebten: ein sehr feines Gesicht in reinem Profil, mit schmaler Nase, die oben beinahe bruchlos in die Stirne übergeht, knapp geschlossenen Lippen und großen Augen mit langen Wimpern. Es läßt ahnen, was Novalis meinte, als er von der „sittlichen Grazie“, der inneren Anmut dieses holden Wesens sprach. In die Rückseite sind, etwas ungeschickt, die für den Besitzer des Ringes so kennzeichnenden Worte eingepunzt: „Sophia sey mein Schuz-Geist“ „Sophie heißt sie ― Philosophie ist die Seele meines Lebens und der Schlüssel zu meinem eigensten Selbst“, hatte Novalis im vergangenen Sommer Friedrich Schlegel, dem Freund, mit geistreichem Doppelsinn bekannt Philosophie ― Liebe zur Weisheit, Liebe zu einem Mädchen namens Sophie. Nach ihrem Tode vertraut Novalis auf ihren Beistand, auf ihre Winke aus dem Jenseits. Er schreibt in dem Brief an Caroline Just weiter:
„Ihr Bild soll und wird mein besseres Selbst sein ― das Wun derbild, das in meinem Innern von einer ewigen Lampe erleuchtet wird und das mich gewiß retten wird vor so manchen Anfechtungen des Bösen und Unlautern … Sie soll mein Vorbild sein. Um Tote weht der Geist des ewigen Friedens, und dieser Geist der Eintracht, Liebe, Herzensgüte, Sanftheit und Demut soll mich auch umwehen.“
Für sich selbst erhebt er Sophie in eine mystische Dimension. In seinem Herzen errichtet er ihr einen Altar, auf dem ihr Bildnis von einem Ewigen Licht erhellt wird. Was er in einem Gedicht mit der Überschrift „Anfang“ unmittelbar unter dem Eindruck der ersten Begegnung im Spätherbst des Jahres 1794 gesagt hatte:
Einst wird die Menschheit sein, was Sophie mir 
Jetzt ist ― vollendet sittliche Grazie ―
Dann wird ihr höheres Bewußtsein 
Nicht mehr verwechselt mit Dunst des Weines ―
dies gilt, nachdem sie gestorben ist, nun erst recht. Novalis hält inne und wird sich plötzlich bewußt, daß er gar nicht klagen dürfe. Das wäre bloß selbstsüchtig, kleinlich und beschränkt. Er bemerkt dazu in dem Brief vom 24. März 1797 an Caroline Just:
„Sollte nicht jetzt eine ewige Heiterkeit meine Augen und meine Stirn beseelen und himmlischer Enthusiasmus meine Brust erfüllen? Wer bin ich, daß ich so irdisch klage? Sollt‘ ich nicht Gott danken, daß er mir so früh meinen Beruf zur Ewigkeit kund machte? Ist es nicht ein Beruf zur apostolischen Würde? Kann ich im Ernst Sophiens Schicksal beklagen? Ist es nicht ein Vorzug für sie, ist nicht ihr Tod und mein Nachsterben eine Verlobung im höhern Sinn?“
Novalis ist davon überzeugt, daß Sophie nicht nur im Jenseits weiterlebt, sondern sich dort noch geistig-seelisch zu höherer Reife entfaltet. Gott hat sie gleichsam in eine höhere Schule versetzt, wo sie vor der Ansteckung durch irdische Gemeinheit bewahrt wird. Er hingegen müsse, als Mann, noch eine Weile hier auf Erden seine Probezeit tüchtig ableisten. Doch auch er fühlt sich ahnungsvoll zu Großem beauftragt, indem er von seinem „Beruf zur apostolischen Würde“ spricht. Später wird sich Ludwig Tieck erinnern: „Dem geübteren Auge bot Novalis die Erscheinung der Schönheit dar. Der Umriß und der Ausdruck seines Gesichtes kam sehr dem Evangelisten Johannes nahe, wie wir ihn auf der herrlichen Tafel von Albrecht Dürer sehn.“
Friedrich Schlegel versicherte ihm einmal verheißungsvoll: „So wahrsagst und ahndest Du doch mit echtem Geist Gottes, der Geist des Herrn ruht auf Dir, und seine Liebe schlägt in Deinem Herzen. Du bist ein Prophet.“ Was Schlegel damals vielleicht mit halb ironischem Unterton gesagt haben mag, wird nun beginnende Wirklichkeit. Novalis ist zu besonderer Mission bereit. Fühlt er doch, daß die Geliebte nur entrückt wurde, um ihm desto besser bei seinem wahren Beruf nahe sein zu können.
Ähnlich äußert Novalis sich auch in anderen Briefen, die er von Ende März bis etwa Mitte April 1797 an Freunde und Bekannte schreibt, so etwa besonders ergreifend in dem Brief an Sophies ältere Halbschwester, die jung verwitwete Wilhelmine von Thümmel (13. April 1797): „Das Blütenblatt ist nun in die andre Welt hinübergeweht… Ich habe noch einiges zu verrichten ― dann mag die Flamme der Liebe und Sehnsucht auflodern und dem geliebten Schatten die liebende Seele nachsenden … Sie umgibt mich unaufhörlich. Alles, was ich noch tue, tue ich in ihrem Namen. Sie war der Anfang ― sie wird das Ende meines Lebens sein. Ihre Leiden sind mir Wunden, die nur die balsamische Luft einer bessern Welt heilen wird.“
Der Tod der Geliebten ist der Beginn seiner Berufung, die Erweckung Novalis‘ zu der ihm aufgetragenen Sendung, die nur er, niemand sonst, zu erfüllen vermag. Am selben 13. April ― es ist der Gründonnerstag des Jahres 1797 ― schreibt der Dichter an Friedrich Schlegel, den gleichaltrigen Freund:
„Mein Herbst ist da und ich fühle mich so frei, gewöhnlich so kräftig ― es kann noch etwas aus mir werden. Soviel versichre ich Dir heilig,daß es mir ganz klar schon ist, welcher himmlische Zufall ihr Tod gewesen ist: ein Schlüssel zu allem, ein wunderbar schicklicher Schritt… Eine einfache, mächtige Kraft ist in mir zur Besinnung gekommen. Meine Liebe ist zur Flamme geworden, die alles Irdische nachgerade verzehrt… Es ist weit mehr Heilkraft, Ausdauer und Widerstand in meiner Seele, als ich selbst wußte ― eine Heilkraft, die dem Übel die Quelle abgräbt; eine Ausdauer, die die Stunden nicht messen; Widerstand gegen alles, was mein Heiligtum entweihen will.“
Am nächsten Tag ― es ist Karfreitag, 14. April 1797 ― stirbt auch Novalis‘ jüngerer Lieblingsbruder Erasmus von Hardenberg im Alter von nur dreiundzwanzig Jahren. Novalis erfährt davon wohl erst am nächsten Tag, doch immer mehr fühlt er sich beheimatet im Zwischenreich zwischen Lebenden und Toten, als Mittler zwischen Diesseits und Jenseits, als bereits im irdischen Dasein in die Geheimnisse ewiger Nacht Eingeweihter. Er schreibt an Professor Woltmann, der Sophie auf dem Krankenlager besucht hatte, er wolle nicht schwächlich und kleinmütig der Geliebten ins Totenreich folgen, sondern sei bestrebt, die ihm bestimmte Frist mit energischer Tätigkeit zu erfüllen. Dann aber werde er „im vollen Gefühl der Freiheit“ zu ihr kommen: „wie ein Zugvogel“. Er stellt sich die Wiederbegegnung ganz deutlich vor. Es wird wie ein Erwachen sein, das Erdenleben wird als Traum erscheinen:
„Wie entzückt werde ich ihr erzählen, wenn ich nun aufwache, und mich in der alten, längstbekannten Urwelt finde, und sie vor mir steht: Ich träumte von Dir, ich hätte Dich auf der Erde geliebt ― Du glichst Dir auch in der irdischen Gestalt ― Du starbst ― und da währte es noch ein ängstliches Weilchen, da folgte ich dir nach‘.“
Auch Goethe, von dem Novalis einmal sagt, daß er Jetzt der wahre Statthalter des poetischen Geistes auf Erden“ sei, hatte der todkranken Sophie von Kühn, als sie sich vorübergehend in Jena zwecks ärztlicher Behandlung aufhielt, eine kurze Visite gemacht. Der damals fast fünfzigjährige Dichter des „Werther“,der „Iphigenie“ und von „Wilhelm Meisters Lehrjahren“, war von der Anmut des so tapfer leidenden Mädchens bezaubert. Auch daran erinnert sich Novalis in seinem Karfreitagsbrief an Woltmann:
„Goethes Anhänglichkeit an das erhabene Bild Sophieens hat mir ihn lieber gemacht, als alle seine trefflichen Werke. Jetzt habe ich ihn wahrhaft lieb ― er gehört zu meinem Herzen. Ich verhehle Ihnen nicht, daß ich Goethe nicht für den Apostel der Schönheit halten könnte, wenn ihn nicht schon das bloße Bild ergriffen hätte… Ich fühle es zu unwidersprechlich, daß sie eine der edelsten, idealischen Gestalten war, die je auf Erden gewesen sind und sein werden. Die schönsten Menschen müssen ihr ähnlich gewesen sein. Ein Bild von Raffael hat in der Physiognomik die treffendste Ähnlichkeit von ihr, die ich noch fand …“
Doch nicht am Karfreitag, sondern am Ostersonntag, an dem alle Christen die Auferstehung des Herrn feiern, nähert sich Novalis zum ersten Mal dem Grab der Frühverstorbenen.
Am Dienstag nach Ostern ― man schreibt den 18. April 1797 ― beginnt Novalis ein Tagebuch zu schreiben. Es ist der einunddreißigste Tag nach Sophies Tod. Zu jedem Datum fügt der Verfasser des Diariums jeweils eine Zahl hinzu, die anzeigt, wie viele Tage seit dem Hinscheiden der Geliebten verflossen sind. Eine neue Zeitrechnung hat begonnen. Sein Leben gliedert sich in drei Teile. Es erscheint ihm wie ein Triptychon: ein Dreiflügelaltar bild. Eine Tafel zeigt das Leben vom 2. Mai 1772 bis zum 17. November 1794: von der Geburt Novalis‘ bis zu seiner ersten Begegnung mit der damals erst zwölfeinhalb Jahre alten Sophie (die er für älter hielt). Das zweite Bild erfüllt die knappen drei Jahre vom Herbst 1794 bis zum Frühjahrsbeginn 1797, in denen er das Fräulein von Kühn und ihre Familie im Grüninger Schloß bei jeder sich bietenden Gelegenheit besuchte. Der dritte Flügel, der recht eigentlich das zentrale Mittelbild des ganzen Altars darstellt, ist dem Leben nach Sophies Tod gewidmet. Was zu Beginn des entscheidenden dritten Zeitraums Novalis bewegt, beschäftigt, schmerzt und beschwingt, erfahren wir durch sein Tagebuch, das er am einunddreißigsten Tag nach dem Tode der Geliebten beginnt und am hundertzehnten Tag nach ihrem Tode abbricht.
Dieses „Journal“ ist in jeder besseren Novalis-Ausgabe enthalten. Nicht nur die große historisch-kritische Ausgabe des W. Kohlhammer Verlags, Stuttgart, bringt es vollständig im vierten Band („Tagebücher, Briefwechsel, zeitgenössische Zeugnisse“), sondern auch die einbändige Auswahl „Werke und Briefe“, die Alfred Kelletat im Winkler-Verlag, München, herausgebracht hat. Das den Kult der toten Sophie feiernde Tagebuch ist ein einzigartiges Dokument aus der Wendezeit zwischen deutscher Klassik und Romantik. Es ist unvergleichlich, obwohl doch die damalige Epoche geistiger Hochblüte, etwa zwischen 1770 und 1830, überaus mitteilsam und in Herzensdingen sehr geständnisfreudig war. Schwärmerisch zärtliche Seelen von Freunden, Liebenden und Vertrauten ließen ihre geheimsten Gedanken in unzählige Briefe, Tagebücher oder „Confessions“ verströmen. Es war die hohe Zeit einer gelegentlich schon fast etwas exaltierten Innerlichkeit, des feierlichen Überschwangs der Gefühle und der die eigene Subjektivität wie einen vordem unbekannten tropischen Erdteil genießerisch erkundenden Neugier. Es war eine Epoche freundschaftlicher „Herzensergießungen“ (um an den Titel einer Schrift von Heinrich Wackenroder zu erinnern), einer die eigenen intimsten Stimmungen schriftlich festhaltenden und ausgewählten Eingeweihten geschwisterlich mitteilenden Redseligkeit. Die deutsche Briefkultur, die deutsche Lust am Tagebuch stand im Zenit. Es gab ja damals auch noch kein Telefon, kein Radio, kein Fernsehen, keine Eisenbahn, kein Flugzeug, keine Kongresse, Demonstrationen und massentouristischen Unternehmungen. Obwohl die durchschnittliche Lebenserwartung erheblich geringer als heute war, hatten die meisten Leute um 1800 unwahrscheinlich viel Zeit: Zeit für Brieffreundschaften, Zeit zum Lesen, Zeit zum Nachdenken, Zeit zum Musizieren und, wie gesagt, auch Zeit für das Schreiben von Tagebüchern. Es kam damals gar nicht selten vor, daß ein Freundeskreis ein gemeinsames Diarium führte, zu dem abwechselnd jeder etwas beisteuerte. Ebenso war es kein ungewöhnlicher Fall, daß in einem Zirkel seelenverwandter Menschen die privaten Tagebuchaufzeichnungen der einzelnen Mitglieder von Hand zu Hand gingen. Man vertraute denen, die sympathetisch „dazugehörten“; man mußte nicht befürchten, daß innige Bekenntnisse demnächst von sensationsgierigen „Medien“ publik gemacht würden.
Dies alles muß man wissen, um die Singularität von Novalis‘ Tagebuch vor dem allgemeinen kultur- und seelengeschichtlichen Hintergrund würdigen zu können. Es ist nicht nur ein Zeugnis rücksichtsloser Selbstbeobachtung und Gewissenserforschung, sondern auch das Dokument eines über die „letzten Dinge“ meditierenden Philosophen und darüber hinaus die erste Urkunde von Novalis‘ Dichtertum. Von einigen wenigen Versen abgesehen, zu denen ich „Walzer“, „Was paßt, das muß sich runden“ (an Adolph von Selmnitz) und das psalmodierende „Berge jauchzet, Hügel hüpfet“ zähle, verrät keines der vielen Gedichte, die Novalis bis zu Sophie von Kuhns Tod geschrieben hat, den Stempel des Genies, dessen geglückteste lyrische Hervorbringungen mit zum deutschen Anteil an der Weltliteratur gehören. Erst die Briefe, aus denen ich zitiert habe, und vollends das Tagebuch lassen ahnen, daß ihr Verfasser ein begnadeter Dichter war und nicht bloß ein epigonaler Reimeschmied.
Am 13. Mai 1797 ― dem sechsundfünfzigsten Tag seit dem Tode der Braut ― notiert Novalis in sein Diarium, daß er von Friedrich Schlegel einen Brief mit „dem ersten Teil der neuen Shakespeare’schen Übersetzungen“ erhalten habe. Es handelt sich, wie Heinz Ritter ermittelt hat, um „Romeo und Julia“, jene Tragödie, von der jemand einmal gesagt hat, daß an ihr die Liebe selbst mitgedichtet habe. „Nach Tisch ging ich spazieren ― dann Kaffee ― das Wetter trübte sich, erst Gewitter, dann wolkig und stürmisch ― sehr lüstern ― ich fing an, in Shakespeare zu lesen ― ich las mich recht hinein.“ Bis hierher ist es noch eine der üblichen Tagebuchnotizen, in denen Novalis die Bücher, die er gerade liest, und das jeweilige Wetter ebenso gewissenhaft festhält wie die Schwankungen seines körperlichen Befindens und die ihn gelegentlich beunruhigenden erotischen Phantasien. Doch nun folgt unmittelbar die Stelle, an welcher der Fünfundzwanzigjährige, der mit bürgerlichem Namen Friedrich von Hardenberg heißt, zu dem todesseligen, im Tod das Leben, das unsichtbare und gesteigerte „Über-Leben“ eräugenden Dichter und Seher wird: zu dem „Novalis“ als der er in die Geschichte deutscher Poesie eingegangen ist.
Es ist ein Samstagabend, den er in Grüningen verbringt, an dem Ort, wo Sophie aufgewachsen, wo er ihr zum ersten Mal begegnet ist, wo er sie des öfteren besucht hat, wo sie auch gestorben und am 22. März 1797 begraben worden ist. Novalis war schon einigemal auf dem Friedhof gewesen, wo sich die ― seit langem schon eingeebnete ― Grabstelle befand, um dort an die tote Geliebte zu denken. Gestern erst hatte er, wie er genau vermerkt, das Grab Sophies besucht, „wo ich bis um 7 blieb ― und recht innig für mich war, ohne jedoch zu weinen.“ Heute, am Samstag, zieht es ihn wieder zum Kirchhof:
„Abends ging ich zu Sophien. Dort war ich unbeschreiblich freudig ― aufblitzende Enthusiasmusmomente ― das Grab blies ich wie Staub vor mir hin ― Jahrhunderte waren wie Momente ― ihre Nähe war fühlbar ― ich glaubte, sie solle immer vortreten.“ Dieses Erlebnis am Grabe, dem am nächsten Abend abermals „einige wilde Freudenmomente“ folgten, markiert eine entscheidende Wende. Auch wenn es keine „Vision“ von der Art war, wie sie manchen Religionsstiftern, Propheten und Mystikern zuteil wurde, stellt es jedenfalls die Keimzelle von Novalis‘ „Hymnen an die Nacht“ dar. Diese aber sind, neben Rilkes „Sonetten an Orpheus“, das alles überragende Monument dichterischen Totengedenkens und Grenzgängertums zwischen Schattenreich und Oberwelt, das die deutsche Literatur aufweist. Wenngleich durch manche ahnungsvolle Winke vorbereitet, erfuhr Novalis in dem Samstagabenderlebnis vom 13. Mai 1797 auf dem Grüninger Friedhof seine Berufung zum Dichter des Todes, der Toten und des Lebens nach dem Tode, zum Künder der geheimnisvollen Symbiose von Lebenden und Verstorbenen, der Durchlässigkeit der Trennwände zwischen Himmel, Erde und Hades. Eine der letzten Tagebucheintragungen lautet lapidar: „Christus und Sophie“. Sie beschwört den auferstandenen Gottmenschen und das verstorbene Mädchen als Mittler zwischen Diesseits und Jenseits. Und an anderer Stelle: „Ich habe zu Söphchen Religion ― nicht Liebe. Absolute Liebe, vom Herzen unabhängige, auf Glauben gegründete Liebe, ist Religion,“ Dieses Erlebnis blieb einmalig, aber entscheidend. Es hat sich nicht wiederholt, aber unendlich nachgewirkt Es vermittelte Novalis, diesem deutschen Orpheus, die zentrale Inspiration seines ihm noch verbliebenen Lebens. Nur noch knapp vier Jahre blieben ihm, da er bereits am 25. März 1801, fünf Wochen vor seinem 29. Geburtstag, im elterlichen Wohnhaus zu Weißenfels starb ― etwa sechzig Kilometer von Grüningen entfernt. In diesen spärlichen vier Jahren hat Novalis, neben seinem Studium an der Bergakademie Freiberg in Sachsen und den beruflichen Verpflichtungen als Salinen-beamter, all das geleistet und hervorgebracht, wodurch er zu einem Fürsten romantischer Dichtung, Bildung und Philosophie aufgestiegen ist: die „Hymnen an die Nacht“, die „Geistlichen Lieder“, die „Blütenstaub“-Fragmente, die politischen Aphorismen „Glauben und Liebe oder Der König und die Königin“, die visionäre geschichts- und religionsphilosophische Abhandlung „Die Christenheit oder Europa“, die naturmystischen Dialoge der „Lehrlinge zu Sais“, den als kühne Überbietung von Goethes „Wilhelm Meister“ konzipierten, aber Torso gebliebenen Roman „Heinrich von Ofterdingen“, die unzähligen, teilweise erst in den sechziger und siebziger Jahren vollständig veröffentlichten enzyklopädischen Einfälle, Gedankensplitter und Sinnsprüche, bei deren Lektüre man der Äolsharfe eines Magiers, Polyhistors und alle Bereiche der Welt überblickenden Universalisten zu lauschen meint.
Am Grabe Sophies erfuhr er seine Berufung zum Dichter-Seher, dem es gegeben war, in einer völlig neuen Weise „den Sinn des Todes zu fassen“. In seinem kurzen Leben wurde er noch von anderen Menschen, lebenden wie toten, unverkennbar geprägt: durch den Umgang mit Friedrich Schlegel und Ludwig Tieck, durch die Begegnung mit den Philosophen Fichte, Schelling und Baader, durch die Lektüre der Schriften Spinozas, Jakob Böhmes, Frans Hemsterhuis‘, Goethes und anderer. Er hat sich sogar, kaum zwei Jahre nach Sophie von Kuhns Tod, mit der liebenswürdigen und fraulich reiferen Julie von Charpentier (1776 -1811) verlobt. Die Spuren dieser Einflüsse lassen sich allenthalben in Novalis‘ Werk nachweisen: in seiner Lyrik, seinem unvollendeten Dichter-Roman „Heinrich von Ofterdingen“ und den tausend und abertausend Fragmenten zu der von ihm geplanten Enzyklopädie, einer in romantischem Hochflug konzipierten Summe alles Wissens. Dennoch bleibt die Inspiration, die er am Grab zu Grüningen empfing, für Novalis bis zuletzt bestimmend. Die Spuren Sophies begegnen uns in der dritten „Hymne an die Nacht“, in der der Dichter sein im Tagebuch kurz angedeutetes Erlebnis ausführlicher und vor allem ekstatischer besingt und einem umfassenderen heilsgeschichtlichen Zusammenhang eingliedert. Sie finden sich in dem vierten der „Geistlichen Lieder“, das mit den Worten beginnt:
Unter tausend frohen Stunden, 
So im Leben ich gefunden, 
Blieb nur eine mir getreu …
und mit dem beglückenden Gesicht endet, daß Christus Sophie in seine himmlische Obhut genommen hat, wodurch er ― Novalis ―, der anfänglich der Geliebten „nachsterben“ wollte, frei wird zum Wirken auf dieser Erde. Er vermag sich wieder den Freuden der Welt ohne Schuldgefühl hinzugeben. Doch die ständige Verbundenheit mit einem geheimnisvollen Reich, in dem christliche, griechische und germanische Jenseitsvorstellungen mit seinem höchstpersönlichen Sophien-Erlebnis sich zusammen-finden, bleibt ihm eine unerschütterliche Gewißheit. Weitere Spuren der Frühverstorbenen finden sich im Roman „Ofterdingen“, zu Beginn des zweiten (unvollendet gebliebenen) Teils, vor allem aber in dem Märchen, das der weise Klingsor dem jungen Ofterdingen und seiner Braut Mathilde erzählt. Eine Hauptfigur dieses hintergründigen und anspielungs-reichen Märchens ist neben „Eros“, „Fabel“ und „Ginnistan“ die mädchenhaft-vestalische „Sophie“: nicht mehr das schöne Mädchen aus Grüningen, dessen deutsche Rechtschreibung überaus kläglich war und das sich aus Lyrik nicht viel machte, auch nicht die Kind-Braut des Freiherrn von Hardenberg, sondern ein himmlisches, beinahe madonnenhaftes Wesen mit Zügen der göttlichen „Weisheit“. Von ihr heißt es in der Bibel, daß Gott seine Freude daran hat, in Gestalt ihrer geheimnisvollen Schönheit, die schöner als Sonne und Sternbilder ist, bei den Menschen zu wohnen (Sprüche 8,31; Weisheit 7,9-8,2). Bei Novalis sagt diese Sophie: „Die Mutter ist unter uns, ihre Gegenwart wird uns ewig beglücken. Folgt uns in unsere Wohnung, in dem Tempel dort werden wir ewig wohnen, und das Geheimnis der Welt bewahren.“ Fabel aber singt am Schluß des Märchens das Lied vom wiederkehrenden Goldenen Zeitalter der Liebe und des Friedens im Zeichen der hohepriesterlichen Sophie:
Gegründet ist das Reich der Ewigkeit, 
In Lieb‘ und Frieden endigt sich der Streit, 
Vorüberging der lange Traum der Schmerzen, 
Sophie ist ewig Priesterin der Herzen.

Sophie, „ewig Priesterin der Herzen“, ist die letzte, die ätherischste Metamorphose jenes Mädchens, dem der Dichter 1794 zuerst begegnet ist, mit dem er sich verlobte und das nur fünfzehn Jahre und zwei Tage alt wurde. Sophie von Kühn starb am 19. März 1797, also vor 190 Jahren. Über diese Gestalt ist viel gerätselt und auch schon viel geschrieben worden. Sie wurde zu einer Heiligen idealisiert und für eine dumme Trine gehalten. Man hat in ihr ein abgefeimtes Nymphchen mit launenhaften und pikanten Zügen sehen wollen, eine Art von vorweggenommener Lolita (so interessanterweise bereits Wilhelm Dilthey); sie wurde aber auch beschrieben als „überirdisches Wesen“, das sich mit „himmlischer Anmuf unter den Sterblichen bewegt habe (so von Ludwig Tieck, der ihr persönlich nie begegnet ist, sondern nur überschwänglich wiedergab, was andere über sie erzählt hatten). Nun, man kann jetzt beinahe alles vergessen, was bislang über Sophie von Kühn verbreitet worden ist. Ein namhafter Novalis-Forscher, ausgewiesen durch seine Mitarbeit an der historisch-kritischen Gesamtausgabe des Dichter-Philosophen und seine 1967 erschienene Gesamtdarstellung „Der unbekannte Novalis“, hat 1986 ein feines und gründliches Buch mit über dreißig Abbildungen vorgelegt, mit dem verglichen die meisten bisherigen Stellungnahmen zu dem Verhältnis zwischen Novalis und Sophie wie Kolportageliteratur oder akademisches Geraune wirken. Der Verfasser heißt Heinz Ritter. Sein Werk hat den Titel: „Novalis und seine erste Braut: ,Sie war die Seele meines Lebens‘.“
Heinz Ritter ist allen überhaupt noch erreichbaren Fährten nachgegangen. Er hat die durchweg auf dem Gebiet der heutigen DDR liegenden Städte und Ortschaften besucht, die für Novalis und Sophie bedeutungsvoll sind: Weißenfels, Tennstedt, Schlöben und vor allem Grüningen. Er hat im Magdeburger Staatsarchiv insgesamt 48 Folioseiten entdeckt, die von Novalis eigenhändig geschrieben oder signiert sind. Es gelang ihm auf geradezu detektivische Weise, mit Nachkommen der Familie von Kühn förderliche Verbindung aufzunehmen. Auf Umwegen fand er bislang unbekannte oder für endgültig verschollen gehaltene „Reliquien“: ein auf Elfenbein gemaltes und mit 27 Perlen eingerahmtes Rundbildchen, das das einzige authentische Porträt Sophies darstellt; eine Vase mit der Darstellung des Grüninger Schlosses, wie es zur Zeit Novalis‘ aussah; handschriftliche Aufzeichnungen sowohl des Fräuleins von Kühn als auch von ihr nahestehenden Menschen. Trotz all der unumgänglichen und vom Thema her gebotenen Sorgfalt ist Heinz Ritters Buch überhaupt nicht pedantisch geschrieben. Die notwendigen Anmerkungen stehen am Schluß, so daß der wissenschaftlich weniger Interessierte den Band wie einen Roman lesen kann. Er erzählt die merkwürdigste und wohl auch literarisch folgenreichste Liebesgeschichte aus der Zeit der deutschen Frühromantik. Nicht eine erfundene, sondern eine wahre, durch unzählige und teilweise völlig neuentdeckte Lebenszeugnisse urkundlich beglaubigte Liebesgeschichte.
Doch hier stocke ich bereits, weil ich bedaure, daß die neuere deutsche Sprache so wenig Ausdrücke für das hat, worum es in Heinz Ritters Buch geht. Das Mittelalter verfügte hier über einen weit größeren Wortschatz, manche Negerstämme ― so ließ ich mir sagen ― sogar noch heute. Was kann nicht alles „Liebe“ oder „Liebesgeschichte“ bedeuten! Es ist wirklich jammerschade, wie arm unsere Sprache geworden ist, wenn es gilt, das zu kennzeichnen, was Menschen zu anderen Menschen magnetisch hinzieht, was sie entflammt, verzaubert, verbindet, beseligt und ihnen immer wieder als Alibi für die größten Torheiten dient, sie in grundlose Verzweiflung oder auch in wirkliches Unglück lockt
Die Minnesänger und Troubadoure, die deutschen Barock-Poeten und Christoph Martin Wieland, zuletzt einige Romantiker, unter ihnen vor allem Novalis und der frühe Friedrich Schlegel („Lucinde“), verfügten über ein weit reicheres Vokabular, wenn es darauf ankam, etwas zur Sprache zu bringen, das so zart wie eine Kirschblüte oder der schwerelose Hauch eines Lächelns auf einem Spiegel, aber auch ungeheuer wie ein Vulkanausbruch oder Erdbeben sein kann: „Ich will in deinem Herzen leben, in deinem Schöße sterben, und in deinen Augen begraben sein.“
Wie dürftig sind doch die verbalen Ausdrucksformen, mit denen wir uns heute verführen lassen, Huldigungen darbringen, Zuneigungen erwidern und Zärtlichkeiten austauschen. Im Paradies herrschte wahrscheinlich in dieser Hinsicht ein göttlich erleuchteter „Nominalismus“: für jeden glückseligen Augenblick gab es ein eigenes taufrisches Wort Johann Georg Hamann, der „Magus in Norden“, hat sich dies ungefähr so vorgestellt und ebenso, ihm folgend, der alte Goethe, wenn er in „Höheres und Höchstes“ sagt:
Und so möcht ich alle Freunde, 
Jung und alt, in eins versammeln, 
Gar zu gern in deutscher Sprache 
Paradieses-Worte stammeln. 
Doch man horcht nun Dialekten, 
Wie sich Mensch und Engel kosen, 
Der Grammatik, der versteckten, 
Deklinierend Mohn und Rosen.

Mit dieser Einschränkung, die der Autor selbst in etwas anderer Weise zieht, möchte ich trotzdem das Buch von Heinz Ritter als eine wahre Liebesgeschichte ansprechen. Die Geschichte eines Mädchens, fast noch eines Kindes, das dem späteren Dichter geistig überhaupt nicht gewachsen war, ja kaum nachempfinden konnte, was in ihm seelisch vorging. Die Geschichte eines jungen Wesens, von dem Novalis gleichwohl anerkennend sagte: „Sie will nichts sein, sie ist etwas“, und das durch seinen frühen Tod ihn überhaupt erst zum großen Lyriker werden ließ. Die Geschichte einer schicksalhaften Begegnung, von der Novalis selbst bekennt, daß eine Viertelstunde ihn gänzlich verwandelt habe. Die geheimnisvolle Geschichte von Liebe, Tod und Verklärungen der, wie dem Leser erst am Schluß bewußt wird, kein einziges Wort über „Sex“ vorkommt, weil es zwischen den beiden Partnern niemals zu dem gekommen ist, was man heute „intime Kontakte“ oder noch vulgärer nennt Eine Geschichte, die von allem Anfang an zugleich in zwei Welten spielt: in der einen Welt, in der es Rindfleisch, Bohnen, Kartenspiel, Tabakrauchen, Behörden, Ämter und Tratsch gibt; und in einer andern geisterhaften Welt, die sowohl himmlisch-astral als auch unterirdisch-heimelig ist, als deren Symbole die berühmte „Blaue Blume“ gilt und eben die verklärte Sophie.
(1986)