Gotland

Insel der Gotik und der Götter 
Europäischer Norden zwischen Germanentum und Christentum

Wer einmal auf Gotland war, wer vielleicht sogar das Glück hatte, dort etliche Wochen verbringen zu dürfen, der weiß, was eine Insel ist: nicht nur ein rings von Wasser umgebenes Stück Land, sondern auch ein unverwechselbarer Seelenzustand, eine bestimmte Traumwelt, ein lebendiger Mythos.
Zu einer Insel hat man, wenn man sie wirklich als Insel erleben will, mit dem Schiff zu fahren: von einer Festlandküste über den Zwischenraum des Meeres bis zum Ufer des rundherum von Fluten umwogten Eilandes.
So ist es auch, wenn man nach Gotland kommt. Jedenfalls war es so, als ich vor vielen Jahren dorthin fuhr. Es gab überhaupt keine Flugverbindung. Unvergeßlich ist mir die hochgestimmte Stunde, da ich mich der Insel näherte und die Türme, Stadtmauern und Ruinen der Hauptstadt Visby (Wisby) sich langsam aus den blauen Wassern erheben sah.
Obwohl das schon lange her ist ― so vergangen, daß ich versucht bin zu sagen, daß es in einem früheren, längst abgelebten Leben geschah ―, spüre ich noch heute dieses zitternde Staunen, diese Mischung von vorfreudiger Ungeduld, phantasierender Erregung und leisem Zögern, die mich beim Betreten Gotlands und auch noch während der allerersten Streifzüge erfüllten. Sollte ich wieder einmal zum Opfer meiner Einbildungskraft werden, würde die Begegnung mit der insularen Realität meine bebende Erwartungsseligkeit als reine Illusion hämisch bloßstellen, als täuschendes Trugbild, das mich gauklerisch gefoppt hatte? Nun, jeder kennt solche Erfahrungen, die einem das flaue Gefühl vermitteln, genarrt und von den Dingen im Stich gelassen worden zu sein, etwas in der Wirklichkeit vergeblich gesucht zu haben, was sie recht eigentlich gar nicht schenken kann. Vor allem phantasiebegabte Menschen werden von derartigen ernüchternden Brüskierungen immer wieder heimgesucht, und ich war jedenfalls damals, wenn ich auf jene Zeiten zurückblicke, gewiß das, was weniger wohlwollende Bekannte einen unverbesserlichen jungen Romantiker oder überspannten Traumwandler nannten.
Doch es kann dahingestellt bleiben, ob ich mit schwärmerischen Erwartungen nach Gotland kam oder nicht; sobald ich wieder Boden unter den Füßen spürte, wurde in mir von Tag zu Tag, ja von Stunde zu Stunde, die beglückende und durch nichts zu erschütternde Gewißheit wach: Hier bin ich willkommen, zur richtigen Zeit am richtigen Ort vor Anker gegangen und in einem Stück Welt gelandet, das geradezu auf mich gewartet zu haben scheint, um mir seine Wunder zu enthüllen.
Etwas ähnliches habe ich, einige Jahre später, viel weiter im Süden Europas, noch einmal mit gleich eindringlicher Beschwingung verspürt, auf den Dalmatien vorgelagerten Inseln Korcula und MljeL Nur daß ich mich an der Adria, wie nie zuvor, in die kreisrunde, in sich selige Welt einer verklärten Antike zurückversetzt fühlte und mit einem Schlag die frühen Griechen ― von Homer bis Heraklit und Pythagoras ― in ihrem innersten Wesen sympathetisch verstehen konnte.
Auf Gotland wurde mir die Wirklichkeit des germanischen Mythos offenbar. Ich spürte: das ist heiliger Boden. Auch nach vielen Jahrhunderten, in denen der eine Schöpfergott der Bibel dort angebetet wurde, sind die seit langem zu Götzen und Gespenstern herabgewürdigten Götter der Frühzeit nicht ganz tot.
Gotland ― Gottesland, Land der Götter, aus der Ostsee aufragende Erde, die von dereinstigen Theophanien gleichsam radioaktiv ist… Wo in alten Kirchen Christus nicht so sehr als der gefolterte und geschächtete Schmerzensmann, sondern als über Leid, Qual und Tod triumphierender „Pantokrator“ erscheint: nicht als geschlachtetes Gotteslamm, sondern als die Sternen- und Planetensphären lenkender Allherrscher,., Wo er sogar als Märtyrer noch ein König ist… Wo allenthalben das Sonnenkreuz als Siegeszeichen und Verheißung seine Stelle hat: auf Friedhöfen, in Krypten, auf Lettnern, Fresken und Altären … Die Vereinigung von Kreis und Kreuz, ein kosmosfreundliches, ein heliotropisches, ein „Sonnenchristentum“ ankündigend, das in anderen Gegenden des Abendlandes ― von Irland abgesehen ― unbekannt, vergessen, mit Feuer, Schwert und Kirchenzucht bekämpft worden ist… Gotländisch ist der die Sonnenscheibe mit seinen ausgestreckten Armen vierteilende Christus, der Kosmokrator, Kyrios („Herr“) und Beweger der sieben Planetensphären, umgeben von den Tierkreiszeichen und den geheimnisvollen Wesen, welche die vier Evangelisten versinnbildlichen … Leid, Qual und Schmerz der Welt aufgehoben in das leuchtende Gold des Mittagslichts und die seligen Umläufe der Gestirne … Christus als jüngerer Bruder Apollons und Baldurs. Nicht Vernichter, sondern Verbündeter, Statthalter oder Wiedergeburt germanischer und griechischer Götter, wenngleich sie, zumindest für ein Weltalter, an Strahlkraft übertreffend.. .Christentum nicht ausschließende Verneinung des Heidentums, sondern dessen Aureole, Arche und Kuppel, die Spuren und Zeichen des Mythos erhellend, bergend und überwölbend, wenigstens einen Äon lang, bis ein verjüngtes Menschengeschlecht wieder, den Göttern geziemend, zu beten versteht, bis die weissagenden Worte des deutschen Dichters Stefan George beglückende Wirklichkeit geworden sind:
Die jugend ruft die Götter auf.. Erstandne 
Wie Ewige nach des Tages fülle.. Lenker 
Im sturmgewölk gibt Dem des heitren himmels 
Das zepter und verschiebt den Längsten Winter. 
Der an dem Baum des Heiles hing warf ab 
Die blässe blasser Seelen – dem Zerstückten 
Im glut-rausch gleich .. Apollo lehnt geheim 
An Baldur: ,Eine weile währt noch nacht – 
Doch diesmal kommt von Osten nicht das licht.‘
Der kampf entschied sich schon auf Sternen: Sieger 
Bleibt wer das schutzbild birgt in seinen marken 
Und Herr der Zukunft wer sich wandeln kann.

Doch mit diesen Gedanken, die Schultheologen wie Fachhistorikern gewiß abenteuerlich vorkommen, greife ich vor, überwältigt von den Erinnerungen an längst vergangene Inseltage auf Gotland. Ahnt man, was sie mir bedeuten, was mir damals als Möglichkeit dämmerte?
Solche magische Erfahrungen im je eigenen Licht bestimmter Inseln ― Zypern, Rhodos, Korcula, Venedig und nicht zuletzt auch Gotland ― sind recht eigentlich zeitlos. Auf sie trifft erhellend das rätselhaft scheinende Wort Meister Eckharts: „Nimm die Zeit weg, und der Abend ist Morgen.“ Eben deshalb weiß ich aber auch, daß „epochale“ und „luminöse“ Erlebnisse wie diese sich nicht beliebig wiederholen lassen. Sie verdanken sich ganz bestimmten Konstellationen, die unwiederbringlich sind. Sie sind, mehr als alles andere, Geschenke im reinsten Sinn des Wortes, sowohl unter beglückendem als auch unter wehmütigem Vorzeichen recht eigentlich umsonst. Ein mittelalterlicher Gnadentheologe würde hier vielleicht von „gratiae gratis datae“ sprechen, zumindest von einer irdisch-seelischen Entsprechung dazu. Deshalb habe ich mich bis heute gescheut, jene Plätze und Stätten nochmals zu besuchen, auch wenn die Erinnerung an sie unvermindert deutlich durch meine Gedanken und Träume geistert.
Anlaß zu dieser kleinen Confession ist ein sehr schönes und reich bebildertes Buch, das mich einige Tage und Nächte lang in einer Weise gepackt und ergriffen hat, wie dies Gedrucktes und Illustriertes nicht oft zu bewirken vermag: Uwe Lemke: Gotland. Insel der Götterschiffe. (Verlag Urachhaus, Stuttgart 1986)
Der Band versetzte mich urplötzlich in meine gotländische Glückszeit. Nicht ohne Grund vermute ich, daß dem mir bislang völlig unbekannt gewesenen Schriftsteller Uwe Lemke einmal auf dieser Insel ähnliches widerfahren ist. Darüber kann man unmittelbar kaum anders als bloß andeutungsweise schreiben, so wie dies Heraklit (Fragment 93) von der weissagenden Priesterin des Apollon von Delphi sagt: „Sie spricht nicht aus, sie verbirgt nicht, sondern sie gibt ein Zeichen.“
Gotland muß ja auch dann in vieler Hinsicht als einmalig an gesehen werden, wenn man meine Begeisterung nicht teilen oder den Behauptungen und Vermutungen des Verfassers bloß mit Vorbehalten folgen kann oder will. Schon geographisch ist Gotland einzigartig. Mit einer Länge von etwa 150 Kilometern und bis zu 45 Kilometer breit, ist es, 90 Kilometer von der schwedischen Küste entfernt, die größte Insel der Ostsee. Überwiegend sehr flach, weil die meisten Erhebungen kaum mehr als 20 bis 30 Meter hoch sind, fällt Gotland im Westen mit schroffen Felswänden ― „Klinte“ genannt ― und vereinzelten Kalksäulen zum Meer ab. Obwohl steinig, ist der Boden fruchtbar. Die Witterung ist ungewöhnlich mild, sogar im Januar sind Temperaturen unter null Grad Celsius sehr selten.
Kein Wunder, daß in einem solchen Klima neben den im Norden üblichen Birken und Kiefern auch Kastanien, Walnußbäume und einige zur Mediterranflora zählende Pflanzen, so eine bestimmte Knabenkrautart, vorzüglich gedeihen. Vereinzelt wird sogar noch die Weinrebe angebaut Unvergeßlich sind mir die vielen blühenden Blumen, die im Sommer jeden Wegrand leuchtend säumen: Wilder Mohn, Wegwarte, Natternkopf, Knabenkraut, Karthäusernelke, Kornrade und viele andere. Ganze Wiesen sind, vor allem im Juni, von wildwachsenden Orchideen bedeckt, die in etwa dem bei uns schon so selten gewordenen Frauenschuh oder auch der Helmorchis ähneln. Bis in die Zeit novemberlichen Totengedenkens, manchmal sogar bis zum Weihnachtsfest, schwebt über den malerischen, von Steinmauern und Hecken geschützten Gärten Visbys der Duft unzähliger Rosenblüten.
Auch sonst ist in Gotland alles etwas anders als erwartet. Dies gilt auch für die Sprache. Obwohl die Insel nach fast dreihundertjähriger Dänenherrschaft (1361 – 1645) seit 1645 wieder zu Schweden gehört, stellt das Gotländische oder „Gutnische“ (wie es manchmal genannt wird) ein ziemlich selbständiges, von der amtlichen schwedischen Reichssprache stark abweichendes nordgermanisches Idiom dar. Die Mundart hat, anders als das Schwedische, die alten Zwielaute, wie ei und au, bis heute bewahrt und läßt deutlich starke dänische und niederdeutsche Einflüsse erkennen.
Bereits der Mythos weiß von Gotland Wunderbares zu berichten. Nach alter Überlieferung war es nämlich im Frühlicht der Zeiten eine Zauberinsel, die bei Tage in der See versank, um sich nachtsüber aus den Wasserfluten zu erheben. Als aber ein Mann namens Tjelvar das Eiland entdeckt und auf es Feuer gebracht hatte, sank Gotland nie mehr unter den Meeresspiegel.
Schon in vorgeschichtlicher Zeit lag die Insel im Schnittpunkt verschiedener Kulturen: der Kultur der eurasischen Jäger- und Fischervölker und der südskandinavischen Megalithkultur. In der Bronzezeit unterhielt das Inselvolk Beziehungen zu den Völkerschaften und Stämmen, die in Dänemark, Mittelschweden und an der Bernsteinküste Ostpreußens lebten. Möglicherweise ist Gotland neben Südschweden auch die Urheimat der Goten, die um die Zeit von Christi Geburt unter ihrem König Berig auf Schiffen auswanderten, um sich im Gebiet der unteren Weichsel niederzulassen. Von dort zogen sie dann Ende des zweiten Jahrhunderts weiter in die Ukraine und ans Schwarze Meer, wo sie sich in die beiden Stammesgruppen der Ost- und Westgoten teilten, deren weitere Entwicklung im wesentlichen getrennt verlief.
Doch unabhängig davon, wo immer der ursprüngliche Wohnsitz dieses Volkes genau lokalisiert werden mag, auf jeden Fall ist Gotland ein Eldorado für Archäologen, Prähistoriker und insbesondere für alle, die an ausdrucksvollen Denkmälern, Zeugnissen und Spuren des frühen Germanentums interessiert sind. Man muß weder ein wissenschaftlicher Sachverständiger noch ein Gotenschwärmer wie der Franzose Gerard de Sede sein, um von dieser Insel verzaubert und gefesselt werden zu können. Sie ist ein einziges Archiv und Schatzhaus nordeuropäischer Frühgeschichte. Ein großes Gräberfeld, das bei Västerbjers entdeckt wurde, ist jungsteinzeitlicher Herkunft; an ergreifende Formen spätbronzezeitlichen Totenkults erinnern steinerne Grabmale oder Weihestätten, die großen Schiffen gleichen. Bei Vallhagar entdeckte man eine ganze Siedlung mit Friedhof aus der Völkerwanderungszeit. Aus dem späteren ersten nachchristlichen Jahrtausend stammen unzählige Hortfunde: thesaurierte Münzen, darunter auch viele römische, ferner Arm- und Halsreifen, goldene Schmuckscheiben (Brakteaten), Sattelbeschläge und Zaumzeug, Spangen, Ringe, Schnallen und andere aus Edelmetall gefertigte Ziergegenstände, die sich in dieser Form nirgendwo sonst nachweisen lassen.
Hier bereits zeigt sich, was bei den Bildsteinen und Kultgeräten ganz offenbar wird: die Menschen dieser Ostseeinsel waren in der Vorzeit ― und, wie bereits erwäh nt, auch im Mittelalter ― erheblich bildfähiger, bildfreudiger und bildbegeisterter als das gesamte übrige, eher einem bildasketischen Puritanismus huldigende Skandinavien, Es ist gleichsam so, als hätten sie mit dem Dichter Ludwig Derleth gedacht: „Nur in Bildern lebt sich’s schön.“
Auf den frühesten Bildsteinen herrschen noch geometrische Motive vor: Spiralen, Kreise, Wirbel, auch die Swastika taucht auf. Häufig begegnen wir dann mastlosen Schiffen mit hohen, geschwungenen Steven, Rudern, Steuerruder und Zeltaufbau. Die Gotländer waren seit alters tüchtige Seefahrer, denn immer wieder treffen wir nicht nur auf kultische Steinsetzungen in Schiffsform, sondern auch auf Bildwerke, die Schiffe darstellen.
Aber das ist längst noch nicht alles. Da gibt es auf Steindenk mälern Strahlenkreise, in deren Innern schlingenartige Gebilde rotieren,-die geheimnisvoll zwischen Kreis und Kreuz schwingen; ornamental stilisierte Tausendfüßler, Schlangen und Drachen; geflügelte Dämonen und Engelwesen; schließlich auch figu-rative Kampfspiele, Umzüge und kultische Feste, Darbringungen von Opfern, weihevolle Begehungen und Bälle werfende Kinder.
So zeigt der Bildstein von Klinte oben einen triumphal in Walhall einreitenden Krieger, gefolgt von einer schwebenden Gestalt mit Siegeskranz; rechts erwartet den Helden eine Walküre, um ihm in einem Hörn den Willkommenstrunk anzubieten. Wie in Dürers berühmtem Bild von Ritter, Tod und Teufel fehlt auch der treueste Begleiter des Menschen nicht: der Hund. Etwas größer als die anderen Figuren, läuft er dem Heros zu Roß eilig voraus. Das Tier scheint die Aufnahme in der gastlichen Walhall kaum erwarten zu können. Ungeduldig und freudig wedelnd, schnuppert es schon die duftenden Speisen, von denen auch es verköstigt zu werden hofft. Eine kämpferische Szene fehlt nicht. Sie stellt entweder den Waffengang dar, bei dem der Heros den Tod fand, oder eines jener kurzweiligen Turniere, mit denen sich die Seligen in Walhall ergötzen. Darunter sehen wir ein Schiff, das offenbar weitere im Kampf Gefallene in Odins Reich fährt. Ganz unten sind wieder Begebenheiten der Heldensage dargestellt, vermutlich Gunnar in der Schlangengrube, und dann noch ein Angriff auf einen Hof mit Vieh und Giebelhäusern.
Doch dies alles muß man gesehen haben. Man muß, wie Uwe Lemke sehr eindringlich betont, die Überreste gotländischer Frühzeit und der altgermanischen Asen-Religion meditativ auf sich wirken lassen, ja sich ihrer magischen Faszination wenigstens zeitweilig vorbehaltlos preisgeben können, um die Fülle geometrischer Zeichen und figürlicher Darstellungen aufnehmen und in die Resonanz ihrer Symbolik sich einschwingen zu können. Die vielen und guten Abbildungen des Bandes „Gotland“ geben auch demjenigen eine Gelegenheit dazu, der die Insel nicht selber bereist hat oder sich nach langer Zeit wieder ihren Zauber vergegenwärtigen will.
Wie sehr dieses Land mitten in der Ostsee ein Mittelpunkt weitgespannter Verbindungen war, beweisen, wie bereits angedeutet, die reichen Münzfunde von der Zeit der Römer (die niemals die Insel betreten hatten) bis zur Epoche der Wikinger und der Hanse. Uwe Lemke stellt fest: „Von der Bedeutung des damaligen gotländischen Handels kann man sich eine Vorstellung bilden, wenn man bedenkt, daß fünf Siebtel aller in Skandinavien gefundenen römischen Silbermünzen und etwa die Hälfte aller Goldmünzen auf Gotland aus der Erde hervorgeholt worden sind.“
Im hohen Mittelalter war Visby ― die einzige Stadt der Insel ― ein mächtiges Mitglied der Hanse. Das gotländische Gemeinwesen beherrschte vorübergehend den gesamten Ostseehandel, bis es im Laufe des dreizehnten Jahrhunderts seinen Vorrang an das aufstrebende Lübeck verlor. Die monumentale St.-Marien-Kirche zu Visby diente einst als Gotteshaus deutscher Kauffahrer.
Damals unterhielt die schwedische Insel lebhafte Beziehungen bis weit nach Rußland und darüber hinaus in den Orient Hier fehlte jener gewisse nordische Mief, an dem später große skandinavische Dichter wie Ibsen, Strindberg und Hamsun entsetzlich leiden mußten. Der machtvolle Odem unermeßlicher ozeanischer Weiten durchwehte die Stadt Visby, in deren Gassen man um 1200 die Sprachen verschiedenster Völker vernehmen konnte. Noch heute kann der sich in die Geschichte der Insel vertiefende, ihre Überrest^ andächtig betrachtende und sie mit historischer Einbildungskraft liebevoll belebende Besucher dem Weltatem früherer Zeitalter lauschen.
Mit dem Zauberstab des Eros zur Vergangenheit ergänzen sich die Denkmäler und Funde zum Bild einer meerumrauschten Republik, die keinen König hatte, weil jeder Bauer, Seefahrer oder Handelsherr sich selber als König fühlte und achtete.
Kennzeichnend für ihre Geistesart ist eine Anekdote. Als der westfränkische König Karl III. der Einfältige (893 bis 923) mit den ihm kriegerisch zusetzenden Wikingern verhandeln wollte, bat er ihren Herrscher zu sich. Darauf erhielt er die lapidare Antwort, wahrlich würdig, in Stein gemeißelt zu werden: „Wir haben keinen Herrn. Wir sind alle gleich.“
Das ist ein unverfälschtes Zeugnis des Ethos der Wikinger, wie es auch von den Inwohnern Gotlands eifersüchtig gehütet wurde. Jeder Vorgesetzte ist ein Feind. Herrschaft gilt nicht, weil jeder Freie auf seinem Grund und Boden ein Herr ist. Anerkannt wird nur persönliche Autorität und, in Notzeiten, die kommissarische Befehlsgewalt eines dazu ausdrücklich vom Thing bevollmächtigten Führers, Präfekten oder Herzogs, die vorübergehende Übertragung der Regierung an ein ausgezeichnetes Individuum, die zeitweilige „Diktatur“ im klassisch-römischen Sinne um willen der Erhaltung der Freiheit gegen Angriffe von außen.
Eben weil die Gotländer so selbstbewußt und hochgemut waren, konnten sie furchtlos auch noch das Entlegenste und Fremdeste wahrnehmen, achten und gelten lassen, handle es sich nun um Gedanken, Überlieferungen und Güter aus Nowgorod, Kiew, Byzanz, Rom oder dem islamischen Morgenland. Gotland war keine Provinz im abschätzigen Sinn des Wortes, sondern ein weltoffenes und weltfreundliches Bürgerwesen, das nicht nur in merkantiler Hinsicht in großen Maßstäben dachte.
Dessenungeachtet wurden die Gotländer trotz ihrer außerordentlich weiten kommerziellen Beziehungen bis hin zum Bosporus, zum Schwarzen Meer, nach Bagdad und zur Levante keine charakterlos lavierenden „Kosmopoliten“, die ihre Treue zur angestammten Eigenart verrieten. Im Gegenteil: obwohl ihre wirtschaftlichen Kontakte so weiträumig waren, hielten sie unbeirrt an ältesten Überlieferungen auch dann noch fest, als ringsumher schon neue Zeiten angebrochen zu sein schienen.
Sie segelten mit ihren Kaufmannswaren in christliche Länder, und waren immer noch „Heiden „. Anderswo hatte sich schon die Königsmacht gegenüber dem Adel durchgesetzt, aber auf Gotland war jeder sein eigener Herr und das Thing ein Parlament von lauter Aristokraten, die zwar persönliche Vorzüge und Autorität bereitwillig anerkannten, aber sich jeder endgültigen Herrschaft eines einzelnen widersetzten.
Die Gotländer wohnten inmitten einer kriegerischen Welt auf einer Insel des Friedens, auf der man keine Blutrache kannte und von der niemals bewaffnete Angriffe auf andere Länder ausgingen, obwohl doch die Goten, die (möglicherweise von diesem Eiland) im Laufe der Jahrhunderte nach Mittel-, Ost- und Südeuropa vordrangen, das Weltreich der Röm.er einstmals gestürzt hatten. Es war, wie sich von selbst versteht, ein unsentimentaler Friede, der Gotland auszeichnete. Kein verzärtelter Lämmerfriede, kein „pazifistischer“ Friede, sondern der Friede eines gerüsteten Geschlechts heroischer Einzelgänger, von denen jeder grundsätzlich unabhängig, unkommandiert und souverän sein wollte. Es war der herbe und herrische Friede von Bauern, die auf ihrer Scholle in Ruhe gelassen zu werden wünschten und denen bereits ein Dorf mit zusammengeballter Bewohnerschaft so verhaßt war wie einem eingefleischten Zivilisten die preußische Kaserne. Deshalb siedelte sich jeder an einer andern Stelle an, wo er keinen Nachbarn sehen und hören konnte, umgeben von Wald, Wildnis und Meergeruch; jeder mehr oder minder autark, jeder Ackerbürger ein kleiner Staat für sich. Es war der auf ausgeprägtem Rechtsbewußtsein beruhende Friede welterfahrener und weltkluger Seefahrer und Kaufleute, die trotz ihrer weiten Reisen im Grunde ihres Herzens weiterhin Bauern blieben.
Ähnlich verhielten sie sich, als das Christentum in Gotland vorzudringen begann. Keineswegs wurden aus den gestählten Schwertbrüdern nun frömmlerische Betschwestern, die sich pfäffischem Regiment duckmäuserisch unterwarfen. Im Grunde blieben sie, was sie waren. Feierlich hält die wohl im vierzehnten Jahrhundert niedergeschriebene „Guta-Saga“ fest: „Sie nahmen da allgemein das Christentum mit ihrem eigenen Willen, ohne gezwungen zu sein, keiner zwang sie zum Christentum.“ Der Christus, dem sie nun anstelle Odins oder Baldurs die Treue gelobten, war ihnen weder ein Opferlamm für erlösungsbedürftige Sünder, noch ein in absoluter Erdenferne waltender Pascha, vor dem der einzelne, sich armselig, nichtswürdig und verworfen fühlend, unterwürfigst den ihn demütigenden Fußfall ausführt: „Hier liegt vor Deiner Majestät im Staub die Christenschar.“ Der Christus der Gotländer glich dem altsächsischen Heliand, einem Tod und Teufel heldenmütig trotzenden Herzog inmitten eines auserlesenen, ihm ritterlich Gefolgschaft leistenden Männerbundes. Sorgsam begrenzten die stets auf ihre Selbständigkeit bedachten Gotländer die Rechte des Bischofs. Er sollte nur alle drei Jahre mit einer kleinen Priesterschar kommen, um Kirchen und Altäre zu weihen. Dafür erhielt er eine angemessene Entschädigung, aber auch nicht mehr: „drei Mahlzeiten bei jeder Kirchweihe, dazu drei Mark; bei einer Altarweihe eine Mahlzeit mit zwölf Öre, wenn nur ein Altar geweiht werden soll; wenn aber beide ungeweiht sind, Altar und Kirche zusammen, so sollen beide geweiht werden für drei Mahlzeiten und drei Markstücke“ (zit. bei Uwe Lemke, S. 66).
Im übrigen betrieb jeder Einheimische sein Christentum in eigener Regie. Es herrschte spirituelle Selbstverwaltung, weitestgehende religiöse Autonomie. Jede Sippe bildete nun eine selbständige christliche Kultgemeinde. Größere Höfe verfügten meist über eigene, dem Zugriff des Bischofs entzogene Eigenkirchen und Kapellen aus Holz („Stabkirchen“) mit Taufbecken und Altar aus Stein. Jeder Familienvater war so etwas wie Hauspriester, Vorsteher einer eigenen christlichen Gemeinde, Abt eines ihm höchstpersönlich anvertrauten „Ordens“ oder Konvents, die als unverletzlich galten wie sonst nur der den Gesetzen des Aufenthaltslandes nicht unterworfene Botschafter.
Nein, Gotland war um die letzte Jahrtausendwende alles andere als ein vergessener Winkel, wo engstirnig spießige Hinterwäldler hausten. Jahr für Jahr entdecken die Nachkommen jener Menschen, wenn sie ihre Äcker mit dem Pflug durchfurchen, neue Schätze aus fernsten Vergangenheiten. Manchmal fördern sie kiloweise Silber und auch Gold, gemünztes und unge-münztes, zu Tage. Planmäßige Grabungen unter der Leitung wissenschaftlich ausgebildeter Archäologen ergänzen die Zufallsfunde. Hinzu kommen ständig überraschende Entdeckungen in Kirchen. Immer wieder stoßen Kunstwissenschaftler und Restauratoren bei der topographischen Erfassung oder Wiederherstellung mittelalterlicher Gotteshäuser auf hinter allmählich bröslig gewordenem Kalkverputz versteckte Wandmalereien.
Unter christlicher Emblematik und Legende lassen sich, wie bei den zahlreichen mit Runeninschriften versehenen Grabsteinen, weit ursprünglichere Überlieferungen nachweisen. Das Evangelium hat den germanischen Mythos nicht plötzlich und vor allem nicht spurlos verdrängen können. Glaubwürdigen Chroniken ist zu entnehmen, daß auf Gotland, wie in ganz Skandinavien, noch Jahrhunderte nach dem Einzug des Christentums die früheren Götter nach althergebrachter Weise verehrt wurden ― zum Entsetzen unduldsamer Bischöfe und Missionare, die im germanischen Kult bloß teuflische Götzendienerei zu erblicken vermochten.
Man opferte vielfach weiterhin dem speerschwingenden und auf achtfüßigem Roß im Sturmwind durch die Welt reitenden Kriegsgott Odin, der die Gefallenen nach Walhall brachte. Wenn man ihn nicht mehr namentlich nannte, so lebte er dennoch als „Wilder Jäger“ mit seinem brausenden Gefolge in der schaudernden Ahnung des Volkes fort. Lange zog sich die Götterdämmerung hin. Die Fähigkeit, den ekstatischen Weltenwanderer Odin und sein Wütenheer zu schauen, ließ sich nicht mit einer Taufe tilgen. Er erschien weiterhin am Abend oder in der Nacht Wenn die Bauern schwarze Hunde sahen, sagten sie ahnungsvoll: „Odin kommt!“ Manchmal ersetzte man den göttlichen Namen durch einen ähnlich klingenden, gelegentlich auch verballhornten christlichen Heiligennamen. An Stelle Odins wurde etwa „St. Olle“ oder sogar der heilige Olav angerufen, doch gemeint war der nämliche germanische Gott.
Erst die Reformation, die in Schweden unter dem vormaligen Reichsverweser (1521)und schließlich (1523) zum Königgewählten Gustav I. Eriksson Wasa 1527 eingeführt wurde, beseitigte den größten Teil dieser mythischen Hinterlassenschaft. Aber nach wie vor hält gotländische Überlieferung, die man nicht als platten Aberglauben abtun kann, eine ganze Reihe von Orten für germanische Opferstätten, wo heute noch Geheimnisvolles sich ereignen könne: Tingstäde, Vallstena, Bro, Torsburg, Sandear-veklint, Grötlingbo, Eskelhem, Atlingbo, Ala, Gunfjaun und Bara.
In dem zuletzt genannten Ort steht die Ruine einer im dreizehnten Jahrhundert errichteten Kirche. Von ihr weiß Uwe Lemke, sich auf die schwedische Geschichtsschreiberin Octavia Carlen berufend, folgende Sage zu berichten: Das in der Nähe des Bara-Berges erbaute Gotteshaus wurde ständig von Trollen (Kobolden, Unholden, neckischen und schadenfrohen Quälgeistern) belästigt, entweiht und schließlich zerstört. Sie.empfanden es als die alten Götter beleidigende Emporkömmlingin. Denn der Platz, auf dem es steht, war einst ein heidnischem Kult gewidmeter Ort gewesen. Auf dem Berg stand eine als heilig verehrte Esche, die den Weltbaum Yggdrasil darstellte und sommers wie winters grünte; am Fuße der Erhebung aber sprudelte eine wohltätige Quelle. In dieser nordischen Idylle feierte in alten Zeiten der Jünglingskönig Yngve Frey Hochzeit mit der schönen Gerd Gymesdotter (Gerd ist im Altnordischen kein Männer-, sondern ein Frauenname; in dem zur Edda gehörenden „Skinir-lied“ heißt Gerd die Riesentochter und Erdgöttin, die mit dem Fruchtbarkeitsgott Freyr vermählt ist). Das ganze Abendland stand noch im Banne des schreckenerregenden Untergangs der Stadt Konstantinopel und damit des Oströmisch-Byzantinischen Reiches durch die siegreichen Türken (29. Mai 1453), als im Jahre 1454 der gotländische Edle Ivar Axelsson Tort die Bara-Esche ausgraben und innerhalb der Mauern des Schlosses Wys-tuom einpflanzen ließ. Doch der von seinem ursprünglichen Ort frevlerisch entfernte Baum verdorrte alsbald und brachte denen von Wystuom durch lange Jahre nur Unglück.
Dies ist eine von unzähligen Sagen, Legenden und Gespenstergeschichten, deren etliche ich selbst vor vielen Jahren auf der Insel von mir liebgewordenen Einheimischen vernahm. Auch wenn sie bisweilen nicht ohne ironisches Augenzwinkern vorgetragen wurden, so schwang trotzdem im Tonfall die nicht immer direkt ausgesprochene Hamlet-Sentenz (1. Aufzug, 5. Szene) mit:
Horatio, im Himmel und auf Erden 
Gibt’s viel mehr Dinge, als die Weltweisheit 
Sich träumen läßt.
Nicht alle waren vergleichsweise so harmlos gruslig wie die eben erwähnte Überlieferung. An diesem Punkt angekommen, muß ich endlich eine furchtbare Sache zur Sprache bringen, die man nicht übergehen darf, wenn von altnordischer Religion ernstlich die Rede ist. Dies Furchtbare heißt Menschenopfer.
Ratlos und erschreckt stehen wir Heutigen vor dieser Erscheinung im sakralen Raum. Die meisten von uns yermögen darin nur eine grauenhafte, durch nichts zu rechtfertigende Venrrung oder Perversion kultischen Opferdienstes zu erblicken. Es versteht sich von selbst, daß es im Rahmen dieses bescheidenen Hinweises auf Gotland völlig unmöglich ist, auch nur die elementarsten Voraussetzungen dieses furchtbaren Phänomens zu erörtern. Schon der Versuch dazu wäre ein leichtfertiges Unterfangen. Aber ebensowenig ist es möglich, darüber wie über eine bloße folkloristische Verschrobenheit hinwegzugehen. Hier, wenn jemals, gilt es, des abgründigen Wortes Hegels (Phänomenologie des Geistes, Vorrede) eingedenk zu sein: „Der Tod ist das Furchtbarste, und das Tote festzuhalten, das, was die größte Kraft erfordert… Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes.“ Der Geist, so Hegel, ist nur dann eine Macht, wenn er „dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt.“
Ich erinnere an die religionswissenschaftlich bestens erhärtete Tatsache, daß bei archaischen Jägervölkern nicht nur Tiere anstelle menschlicher Opfer, wie später noch im Falle Isaaks und Iphigenies, dargebracht, sondern auch Menschen stellvertretend für Tiere geopfert wurden.
In der kultisch-sakralen Gleichwertigkeit der Opfer enthüllt sich mit unüberbietbarem Ernst der Glaube an eine „mystische Solidarität“ zwischen Mensch und Tier, an den einen Blutkreislauf, der alles Leben durchströmt. Nicht nur die Germanen, auch die Kelten vollzogen ― wie sowohl literarisch als auch archäologisch bezeugt ist ― Menschenopfer, um bloß diese beiden uns Europäern am nächsten stehenden Völker zu erwähnen. Während die keltischen Druiden den zum Opfer erkorenen Menschen enthaupteten, aufspießten oder mit Pfeilen durchbohrten, widmeten die germanischen Männerbünde der „Berserker“ (wörtlich: „Krieger in der Hülle von Bären“) dem Kriegs- und Totengott Odin-Wotan vorzugsweise Menschenopfer durch rituell erfolgendes Erhängen.
Bei den über siebenhundert bisher gefundenen Moorleichen handelt es sich überwiegend um nach altgermanischem Rechtsbrauch (vgl. Tacitus: Germania, cap. 12) sakral Hingerichtete. Jahrhundertelang haben sich vom altnordischen Mythos faszinierte Altertumsforscher danach gesehnt, einmal einem unverfälschten Germanen von Angesicht zu Angesicht begegnen zu dürfen, ähnlich wie dies den Liebhabern altägyptischer Kultur durch die in den Pyramiden der Pharaonen entdeckten Mumien möglich war und ist. Um so größer war die Überraschung, als Dänen 1948 im jütländischen Moor von Tollund die Leiche eines fast völlig unverwesten Mannes fanden. Sein Antlitz ist so wunderbar erhalten, als ob es das eines Schläfers sei, der im nächsten Augenblick die Augen aufschlagen und den Betrachter anschauen könnte. Der schwedische Historiker Eric Graf Oxenstierna faßt seinen persönlichen Eindruck in die Worte zusammen (Die Nordgermanen. Stuttgart 1957, S. 22, dort auch zwei eindrucksvolle Photographien auf den Bildtafeln 11 und 12):
„Welch feines Gesicht der Ruhe! Wir können seine willensfesten Lippen studieren, die kräftige Nase, jede Runzel um seine Augen und in seiner Stirn. Ein gutaussehender, intelligenter Mann, ein Hans-Christian-Andersen-Gesicht! Sein Körper war so ausgezeichnet konserviert, daß die Dänen den Mageninhalt haben untersuchen können. Und es zeigte sich, daß seine letzte Mahlzeit aus einem Brei bestand, in dem die gewöhnlichen Getreidesorten (vor allem Gerste und Hafer) zur Verwendung kamen, ebenso Dotter und Hanf, darüber hinaus aber Samen von sämtlichen Unkrautsorten außer Disteln: Knöterich, weißem Gänsefuß, Spörgel, Ackerveilchen, Hohlzahn und vereinzelten Körnern anderer Arten.“
Dieser Mann von Tollund mit den friedvollen Zügen und der Lederhaube auf dem Kopf ist ein Mooropfer, die höchste und grausamste Gabe, die eine germanische Kultgemeinde der Gottheit darbieten konnte. Denn um seinen Hals war eine Schlinge gelegt, die man erst etwa eintausendachthundert Jahre nach eingetretenem Tode behutsam entfernte. Der trotz geschlossener Lider wie in eine uns verborgene Wirklichkeit ehrfürchtig gelassen blickende Mann ist ein Gehenkter. Er ist auf rituelle Weise hingerichtet, erwürgt, stranguliert worden. Den durch Beimengung vieler Unkrautsamen bitteren Brei, den man in seinem Magen fand, hat das Opfer bereits zwölf bis vierundzwanzig Stunden vor der Erhängung eingenommen. Es war seine Henkersmahlzeit
Ein furchtbarer, gewaltsamer und gräßlicher Tod! Doch eine beinah schon unirdische Ruhe liegt auf dem klugen Gesicht des Erdrosselten: die Verklärung eines Friedens, wie ihn nur ein huldvoller Gott seinem Liebling zu schenken vermag.
Der Gehängte von Tollund ist, wie gesagt, nicht die einzige, aber eine der am besten erhaltenen Moorleichen. Die Umstände seiner Opferung können wir uns mit quälender Genauigkeit vergegenwärtigen, wenn wir im Rüge nach Gotland zurückkehren. Dort fand man in Lärbro einen Bildstein aus dem achten nachchristlichen Jahrhundert, der nun im Garten des Hembygdmusset in Bunge aufgestellt ist. In dem Buch von Uwe Lemke ist seine Vorderseite auf Seite 42 (Abb. 19) vollständig abgebildet, während eine gezeichnete Vergrößerung der uns hier angehenden Szene auf Tafel 76 (oben) des Buches von Graf Oxenstierna gebracht wird. Das norddänische Jütland, wo die weitestgehend unverweste Leiche des Mannes von Tollund, und die schwedische Insel Gotland, wo der Bildstein von Lärbro entdeckt wurde, sind in der Luftlinie kaum mehr als sechshundert Kilometer getrennt. Beide skandinavischen Landschaften sind von denselben oder zumindest eng verwandten germanischen Stämmen besiedelt und dadurch bis auf den heutigen Taggeschichts-wirksam geprägt worden. Ihre Sprachen gehören einer Familie an. Deshalb ist es zulässig, den Leichnam aus dem dänischen Sumpf mit dem dritten Bildstreifen von oben auf dem Stein im nordgot-ländischen Heimatmuseum von Bunge in Verbindung zu bringen. Das Denkmal zeigt eine Opferszene, wie sie ähnlich an dem Unbekannten vollzogen wurde: eine kultische Hinrichtung durch Erhängen. Links steht ein Mann mit einem kreisrunden Schild auf dem Arm und einer um den Hals gebundenen Schlinge, deren anderes Ende an einem niedergebeugten Baumstamm befestigt ist. Seine Laubkrone ragt wie eine gespenstische Hand gen Himmel. Der Stamm kreuzt sich mit einem zweiten Baum. Rechts halten drei schwerbewaffnete Riesen mit erhobenen Schwertern die Wache; ein vierter, der ihnen voranschreitet, hält einen gefesselten Vogel, der einem Falken gleicht, in der Hand. Es handelt sich wohl um einen Opferpriester, der, umgeben von den gerüsteten Hütern des Tempelhains, das Tier gleichzeitig mit dem Menschen am Baum dem Gott darbringen wird. Vor ihm machen sich noch zwei untergeordnete Diener, sozusagen Ministranten oder Leviten, an einem Altar zu schaffen. Der Höhepunkt des mörderischen Sakrifiziums steht unmittelbar bevor. Im nächsten Augenblick sollen die Stricke, die die beiden Bäume kreuzweise zusammenzwingen, von den gottesdienstlichen Scharfrichtern durchhauen werden. Der gewaltsam niedergebogene Baumstamm wird in seine natürliche Stellung zurückschnellen. Dadurch wird die Schlinge um die Gurgel des Opfers plötzlich enger und enger werden. Der Körper wird durch die Wucht der Bewegung des sich wieder aufrichtenden Baumes in die Luft geschleudert werden. Der Gott Odin, dessen Todesvogel, der Rabe, vom Himmel herniederstürzt, hat ein Menschenopfer erhalten. Hernach wird die Leiche des Strangulierten im Moor versenkt werden, ähnlich wie es auch dem schönen Mädchen widerfuhr, das man, wenn ich mich recht erinnere, in den frühen dreißiger Jahren in einem dänischen Moor, unweit dem Leichnam eines jungen Mannes, gefunden hat. Auf ihr Bild stieß ich, als ich noch zur Schule ging, in einem alten Jahrgang der österreichischen Kulturzeitschrift „Der getreue Eckart“, den ich auf dem Dachboden eines dürftigen Mühlviertier Kleinbauernhauses aufgestöbert hatte. Leider kann ich diesen reich illustrierten Band, der damals die Wonne eines ganzen verregneten Sommers bildete, nicht mehr finden.
Das unbekannte jütländische Rotkäppchen; der Mann von Tollund; der Gehenkte auf dem Bildstein in Bunge; auch der im Britischen Museum zu London ausgestellte „LindowMan“, der vor kurzem von einem Torfstecher in Ceshire ans Tageslicht gezogen wurde und dem, weil ihnen dies mangels sonstiger Kenntnisse überaus wichtig erschien, emsige Gerichtsmediziner einwandfrei attestierten, daß er zu Lebzeiten an Würmern (sowohl Trichuris trichiura als auch Ascaris lumbricoides) gelitten habe ― ich kann mir nicht recht vorstellen, daß sie alle, wie Ta-citus annimmt, nur in etwas gehobenerer Form gelynchte Drückeberger, Verräter, Deserteure und Sodomiten gewesen seien. Ihre noblen Gesichter sprechen dagegen.
Man sollte neben den Registratoren von Unkrautsamen und schmarotzerischen Fadenwürmern auch einige erfahrene, taktvolle und intuitiver Wahrnehmung fähige Physiognomiker heranziehen, wenn demnächst wieder Hängeopfer aus Mooren geborgen werden. Andernfalls wäre es besser, man ließe den Toten Germaniens ihre unverweste Ruhe im Sumpf. Nicht nur weil massenhafte Entdeckungen dieser Art Baulandpreise und Mieten in den Fundorten völlig durcheinanderbringen können. Die Berufung auf wissenschaftliche Interessen oder die volkspädagogische Notwendigkeit neuer Museen kann nicht all und jedes rechtfertigen. Dieser Dreh wird doch auch bei vivisezierenden Tierversuchen oder den natürlichen Haushalt belastenden chemischen Großbetrieben mit gutem Grund bestritten. Warum soll dies nicht auch für die Toten gelten? Sie sind ja gar nicht so tot wie manche banausische Magen- und Darmdurchwühler in ihrer arroganten Munterkeit. Aber auch Leichen und deren noch so unscheinbare Überreste, wie man sie in Beinhäusern ähnlich dem im Gewölbe der St. Oswaldkapelle im Schwarzwald (an der Straße zwischen Himmelreich und Hinterzarten) oder in den vergoldeten Reliquiaren mancher Klöster mit frommem Schauer aufbewahrt ― auch sie sind mehr als Abfall, Müll und Dünger.
Es tut mir leid, daß ich in diesem Punkt einem Mann widersprechen muß, dem ich sonst in allem, was er sagt, zu folgen trachte. Ich meine Heraklits Fragment 96: „Leichen verdienen mehr als Mist, daß man sie wegwirft.“ In dieser apodiktischen Strenge stimmt das einfach nicht. Hier halte ich mich, entgegen Heraklit, ganz entschieden an Antigone. Überall redet man davon, daß mehr „Ehrfurcht vor dem Leben“ nottue. Einverstanden, obwohl ja nicht einmal das Leben immer und überall der Güter höchstes ist. Was taugt eine Ehrfurcht vor dem Leben, der keine entsprechende Ehrfurcht vor der Vergangenheit, vor den Toten, vor den „Ewiggestrigen“ schwesterlich beigesellt ist? Wenn irgendjemand auf einem unserer Friedhöfe einen Blumenstock stiehlt, wird er als grabschänderischer Dieb behandelt Handelt es sich aber um jahrtausendealte Totengaben oder Mumien, dann gilt alles als erlaubt, sofern man ein gelehrtes Interesse vorheucheln kann. Weite Teile der Archäologie sind doch nichts anderes als szientifisch verbrämte Sakrilege, nekrophile Tempelschändungen.
Ratlos und erschreckt stehen wir Nachgeborenen vor der Erscheinung des Menschenopfers, wie es offenbar auch in Got-land, wenigstens vereinzelt, den Göttern dargebracht wurde. Es gilt, diesem Rätsel ins Antlitz zu blicken, wie es sich uns zeigt in den geheimnisvollen und ehrfurchtgebietenden Gesichtszügen des Mannes von Tollund und auf der kultischen Szene des Bildsteins in Bunge. Wir haben es hinzunehmen als eine Möglichkeit des Menschen, sofern in dessen Leben etwas hineinwirkt, was nicht-menschlich ist: göttlich oder dämonisch. Es ist also in einem etwas anderen Sinne anzuerkennen, als E. M. Cioran es süffisant tut, wenn er sagt: „Die Zeit, Komplizin der Vertilger, macht die Moral zunichte. Wer nimmt heute Nebukadnezar noch etwas übel?“ Eine solche Sicht des Furchtbaren, wie ich sie hier zu gewinnen versuche, bewahrt vor fahrlässigen Verallgemeinerungen, besserwisserischen Unterstellungen und anachronistischen Weitungen, die der Sache unangemessen sind, weil sie bloß der gespreizten Eitelkeit des sich „up to date“ wähnenden Spätzeitlers entspringen. Es ist schlechthin aberwitzig, die germanischen Opferkulte auf eine Stufe mit den späteren Hexenverfolgungen, Inquisitionsprozessen oder gar Auschwitz zu stellen. Sie sind auch so furchtbar genug, wenn man die fachmännische Aussage eines so universal gebildeten Religionswissenschaftlers wie Mircea Eliade (Geschichte der religiösen Ideen, Bd. 2, Freiburg i. Br. 1979, S. 136) bedenkt:
„Aber in allen traditionellen Gesellschaften war das Menschenopfer durch einen kosmologischen und eschatologischen Symbolismus von besonderer Kraft und Komplexität bedeutungsvoll, was seine Beständigkeit bei den alten Germanen, den Geto-Dakern (auf dem Balkan), den Kelten und den Römern erklärt (die es im übrigen erst im Jahre 97 v. Chr. verboten haben). Dieses blutige Ritual deutet keineswegs auf die intellektuelle Unterlegenheit oder geistige Armut der Bevölkerung hin, die es praktiziert. Um nur ein einziges Beispiel zu nennen: Die Ngadju Dayak auf Borneo, die eine der geschlossensten und höchststehenden Theologien der Religionsgeschichte ausgearbeitet, haben, waren Kopfjäger (wie die Kelten) und vollzogen Menschenopfer.“
Und noch eines: die massenhaftesten und grauenvollsten Menschenopfer, die gar keine mehr waren, sondern maschinell vorgenommene „Liquidierungen“, wurden in unserem Jahrhundert keineswegs von götterfrommen Priestern ins Werk gesetzt, sondern von Funktionären und ihren Apparaten. Es ist verächtlich, vom Standpunkt einer hedonistischen und säkularisierten Menschheitsmoral die heiligen Mooropfer der Germanen selbstgefällig abzuurteilen, wenn eben diese vorgeblich humanitäre Haltung es duldet, daß Lebendiges millionenfach seiner Würde beraubt und sinnlos vertilgt wird, vielfach im Namen philanthropischer Utopien. Das Menschenopfer kann in einer ganz anders gearteten Kultur, die wir uns freilich kaum mehr vorzustellen wagen, ein die menschliche Existenz hoch über alle Banalität seichten Daseins ins Ewige hinausreißendes Bekenntnis der Tat sein. In einer völlig heiligen Ordnung ohne menschlich, allzumenschliche Beimengung würde ein Gott nur dann ein Menschenopfer fordern, wenn eine bestimmte Seele ihm ohnehin von Anbeginn zugehört, von ihm auserwählt und mit ihm eines Wesens. Aus den Physiognomien der Moorleichen, derer hier gedacht wird, spricht nicht eine Verfassung von Angst, Schrecken und Zerknirschung, sondern weit eher eine feierliche Erhobenheit, fast eine freudige Gefaßtheit im Sinne des von Nietzsche gerühmten „Amor fati“, der Liebe zum schicksalhaft Unausweichlichen und Notwendigen, die ein Privileg menschlicher Größe und höher als alle Lust sozialstaatlich konzessionierter „Selbstverwirklichung“ ist.
Mit diesen Bemerkungen erreichen wir erst die archäologischer Neugier, musealer Nostalgie und touristischer Kurzweil unzugängliche Dimension der Insel Gotland, wie sie von Uwe Lemke in seinem großartigen Buch vergegenwärtigt wird. Es ist auch dann ein überaus packendes Lese- und Schau-Erlebnis, wenn man nicht sämtliche Deutungen des, wie er selber zugibt, von Rudolf Steiner beeinflußten Verfassers zu teilen vermag. Was mich betrifft, so komme ich aus ganz anderen geistigen Bezirken. Ich fühle mich weniger dem doch etwas schillernden Begründer der Anthroposophie innerlich verbunden, als vielmehr Denkern und Forschern wie Georges Dumezil, Mircea Eliade, Julius Evola, Rene Guenon, Frithjof Schuon und, nicht zuletzt den drei Deutschen Walter F. Otto, Leopold Ziegler und Werner Müller. Es spricht jedoch für den anthroposophisch inspirierten Autor des Gotland-Buches, daß er mich trotz seines ganz anderen Ausgangspunktes zu fesseln vermochte wie schon seit langem kein Schriftsteller mehr. Uwe Lemke kommt nicht gestelzt daher. Er erweist sich als überaus feinfühliger und einfühlsamer Betrachter eines mythisch geprägten Menschentums, das trotz der Christianisierung Skandinaviens, offen oder auch getarnt, jahrhundertelang weiter seinen gewohnten Weg ging. Seine Spuren sind auch heute noch da und sie sprechen nach wie vor wesensverwandte Menschen an.
Das Christentum gelangte, wie überall im Norden Europas, auf verschiedenen Wegen nach Gotland: von den Britischen Inseln vor allem durch die iro-schottischen Mönche und zum Teil über Friesland; aus Niederdeutschland (vor allem Corvey an der Weser) durch Missionare vom Schlage des Bremer Bischofs Ansgar; der Legende nach auch aus Norwegen durch den von seinem eigenen Volk vertriebenen König Olaf den Heiligen; und aus Rußland durch die vielfältigen und innigen Wikinger-Beziehungen zur orthodoxen Stadtrepublik Nowgorod am Wolchow, von der der Normanne Rurik ― der Gründer der ersten russischen Dynastie ― 859 Besitz ergriffen hatte. Geschichtskundige Deutsche werden erstaunt sein, wenn sie in Gotland, das nie zum alten übernationalen, jedoch im Kern immer mitteleuropäisch-deutschen „Heiligen Reich“ gehört hat, auf die weitverbreitete Verehrung eines deutschen Herrschers treffen, der niemals auf der Insel gewesen ist Es handelt sich um den letzten Sachsenkaiser, der von 1002 bis 1024 regierte und in dem von ihm gestifteten Bamberger Dom beigesetzt ist: Kaiser Heinrich IL der Heilige. Seine Gestalt begegnet uns nicht nur an der Adamspforte des Doms zu Bamberg, sondern auch auf dem großen Fresko an der Nordwand der Kirche von Vamlingbo im Süden Gotlands.
Es zeigt den Kaiser mit Krone und roter Bettdecke auf seinem Sterbelager, um das fünf Priester geschart sind. Doch nicht die Kleriker reichen dem Monarchen den Kelch des Sakraments, sondern Heinrich übergibt ihnen das Trinkgefäß mit der linken Hand, während er die rechte mit aufgerecktem Zeigefinger belehrend oder auch beschwörend erhebt. Der umfangreichere Teil des Wandgemäldes stellt den Erzengel Michael mit der Seelenwaage dar. In der einen Schale befindet sich, abermals mit Krone, der deutsche Kaiser; die andere wird von Teufeln und Dämonen mit Gewichten beschwert und nach Kräften hinuntergedrückt. Doch Michael scheint entschlossen, diesem wilden Treiben augenblicklich ein Ende zu bereiten. Beherzt und majestätisch zugleich greift er in das verworrene Geschehen ein. Lässig packt er mit den Fingerspitzen einer Hand die mächtige Seelenwaage, in der andern aber hält er einen Kelch: denselben, den der sterbende Herrscher den Geistlichen gegeben hatte. Unter ihm, etwa in der Mitte zwischen den beiden Waagschalen, steht der von Heinrich zeitlebens besonders verehrte Märtyrer-Heilige Laurentius, der wieder einen Kelch berührt. Laurentius wird ihn offenbar Heinrich zurückgeben, indem erden Pokal in dessen Waagschale legt, die dadurch das rechte Gewicht bekommt. Es findet also ein Kreislauf des Kelches statt.
Das symbolträchtige Fresko läßt manche Auslegungen zu. Das Kelch-Motiv drückt den Anspruch des Kaisers nach voller „reichskirchlicher“ Hoheit, ja nach sazerdotaler und hohepriesterlicher Würde aus. Man kann es jedenfalls so deuten, daß der weltliche Herrscher gleichberechtigt mit dem geweihten Priester am vollen und ungeschmälerten Mysterium von Brot und Wein feiernd und genießend teilhaben will. Der Erzengel Michael ist aber in christlicher Überlieferung nicht nur Seelenwaagemeister und himmlischer Reichsfeldmarschall gegen die Heerscharen Satans, sondern gilt auch seit alters als besonderer Schutzpatron der Deutschen. Er ist der den Deutschen zugeordnete Völkerengel. Der Legende nach griff der heilige Michael im Jahre 955 in die Schlacht auf dem Lechfeld bei Augsburg ein, um dem von Kaiser Otto I. geführten Reichsheer den Siegüber die damals noch heidnischen Ungarn zu sichern. Aus dem herrscherlichen Engel, dessen Bild auf den Bannern und Standarten mittelalterlicher Kriegsscharen prangte, wurde schließlich seit der Reformationszeit der „deutsche Michel“, die komische Figur des gutmütigen, aber auch etwas einfältigen und linkischen Deutschen mit der Zipfelmütze.
Kaiser Heinrich II. starb am 13. Juli 1024 in Grona bei Göttingen. Im Jahre 1146 auf Betreiben des ihm dankbaren Bistums Bamberg heiliggesprochen, gedenkt die Kirche seiner jährlich am 13. (in Bamberg), sonst am 15. Juli. Am 10. August feiert die Kirche das Fest des Märtyrers Laurentius. Wie dem Erzengel Michael schrieben mittelalterliche Deutsche auch diesem Heiligen einen wunderbaren Beitrag zum Sieg über die Ungarn auf dem Lechfeld bei, weil die Schlacht am Laurentiustag des Jahres 955 stattfand. Sternschnuppen, die in den Nächten um diesen Tag im August fallen, heißen bekanntlich Laurentius-Tränen. Zu den vielen Legenden, die sich um ihn ranken, gehört auch diejenige, auf die das gotländische Fresko anspielt: jeden Freitag steigt er vom Himmel ins Fegefeuer herab, um eine Seele zu befreien. Das Fest des heiligen Erzengels, den man in gewisser Weise als eine Art von christlichem Gegenstück zum germanischen Odin-Wotan ansehen kann, ist alljährlich am 29. September. Dieses Datum gilt seit Jahrhunderten als Liefer-, Zahlungs-, Abgabe-, Los- und Wettertag.
So erinnert das Fresko in dem Dörflein Vamlingbo, das künstlerisch weniger kostbare Entsprechungen in weiteren gotländischen Gotteshäusern hat (so in Ganthem und Sanda), an drei Tage im Heiligenkalender in drei aufeinanderfolgenden Monaten: 13. (15.) Juli (Kaiser Heinrich II.), 10. August (Laurentius) und 29. September (Michael). Es erinnert darüber hinaus an den Erzengel, der als Totenrichter und Seelenbegleiter sowie als streitbarer und siegreicher Anführer himmlischer Heerscharen am meisten imstande war, nach vollzogener Christianisierung den germanischen Odin zu ersetzen. Es erinnert desgleichen an die mystische Überzeugung vieler Generationen, daß selbstbewußte, geschichtsmächtige und ihr Maß kennende Völker mehr als biologische Zufallsprodukte sind, daß sie vielmehr auch, für „Effulgurationen“ („Herausblitzungen“) aus dem Bereich des Göttlichen Empfängliche, Seelenlandschaften und Geisterbünde darstellen. Jedes Volk hat seinen Engel, das deutsche sogar den Erzengel Michael. Das ist, wenn man so wÜl, der mythische oder legendenhafte Ausdruck dieser metaphysischen Überzeugung, die von verschwiegenen Eingeweihten immer noch wie ein Kronschatz gehütet wird.
Es ist schon merkwürdig, daß man auf Gotland so viele und unerwartete Erinnerungen an das alte mitteleuropäisch-deutsche „Heilige Reich“ und einen seiner Kaiser entdecken kann. Keine schwedische Provinz ist so reich an mittelalterlicher Architektur wie diese Insel. Gotland ist auch recht eigentlich ein Land der Gotik. Man hat es die „Insel der hundert Kirchen“ genannt. Ich begnüge mich damit, nur eine Auswahl von Gotteshäusern zu erwähnen, die mich besonders beeindruckt haben, insbesondere dann, wenn ein einsamer Orgelspieler darin ein Stück von Bach oder Jean Gilles spielt und eine stimmbegnadete Sopranistin vom Range einer Jenny Lind oder Tamara Hert-Gasteiner dazu singt. Es sind dies die St. Marienkirche zu Visby; die geradezu kathedralischen Kirchen in Dalhem, Lau, Öja, Stenkyra, Tingstäde und Vamlingbo; dann die Kirchen von Anga, Barlingbo, Bro, Ekeby, Eskelhem, Fide, Fröjel, Gammelgarn, Ganthem, Garde, Grötlingbo, Hablingbo, Havdhem, Hör-sne, Lokrume, Lye, Lummelunda, Martebo, Rone, Rute, Sanda, Silte, Stanga, Tofta und Vänge; schließlich nenne ich noch die monumentalen Überreste des einstigen Zisterzienserklosters zu Roma und die Ruinen der Kirchen St. Clemens, St Göran, St. Lars, St. Karin und St. Nikolaus in Visby.
Es ist auffällig, daß nach dem Ausklingen der Gotik, dieses Kunststils voller Wucht und Geheimnis, der in seinen sublimsten Ausprägungen die holdeste Zartheit von Rose, Lilie und Enzian erlangt (F. Schuon), so gut wie überhaupt keine belangvollen Kulturdenkmäler auf Gotland errichtet worden sind. Die jüngsten seiner sakralen Bauten sind somit über ein halbes Jahrtausend alt. Man mag darin einen bedauerlichen grundlegenden Bruch und bis ins Herz treffenden Verlust an Lebenskraft und Schöpfergeist erblicken. Doch sogar dann gilt sinngemäß das Wort Werner Müllers: „Der Mangel äußerer Zeugnisse kann nicht als Erweis völligen Fehlens gelten. Seelisch bewegte Zeiten fassen die Urbilder mit der unmittelbaren Frische eines erneuten Anfangs, und sie sind es, die als Renaissancen die Nachrichtenkette dort weiterführen, wo sie, oft Jahrhunderte zuvor, abgerissen sind.“ (Werner Müller: Kreis und Kreuz. Untersuchungen zur sakralen Siedlung bei Italikern und Germanen. Berlin 1938, S. 112 f.) Auch langdauernde Unterbrechungen einer Tradition beweisen bloß einen Mangel oder Fehl (wie das seit dem achtzehnten Jahrhundert leider fast ausgestorbene deutsche Wort heißt, während es im Schwedischen und Dänischen weiterlebt).
Es ist nicht von vornherein auszuschließen, daß eines Tages Delphi in Griechenland wieder ein Ort wird, zu dem Apollonver-ehrer pilgern, und daß die Eleusinischen Mysterien erneut gefeiert werden. Vielleicht liegt über den verlassenen Trümmern der Tempel ein Zauber, der gelöst werden kann. Möglicherweise ist die alte Welt der Götter, Helden und ihrer Propheten nur vorübergehend gelähmt. Dies ist auch die Vision eines Dichters:
Mit dem Haupt, dem hörnerschweren, 
Nickt den Takt der große Pan. 
Langsam kommt die Zeit heran, 
Da die Götter wiederkehren.
Was in Hellas nicht grundsätzlich ausgeschlossen ist, gilt auch für die heidnisch-christliche Wunderinsel Gotland. Planen, machen und organisieren läßt sich natürlich nichts, wenn es um ewige Dinge geht. Sogar direktes Wollen wäre bereits ein Fehl. Aber eine Wiedergeburt der Äsen ist zumindest denkbar. Wir können dafür eine gewisse Bereitschaft, Empfänglichkeit und Sensibilität entwickeln. Wir können warten, ohne zu er-warten. Wir wissen nicht, ob Christus-Pantokrator oder Odin-Wotan auf Gotland wiederkehren wird, um von den leeren Kirchen oder längst unbenutzten Opferstätten erneut Besitz zu ergreifen. Warum sollte nicht für beide Raum genug da sein, so wie es auch Stefan George ahnungsvoll geschaut hat? Ist es denn so unvorstellbar und keiner Erörterung wert, daß künftig einzelne Gruppen von Gotländern, so wie sie vor einem Jahrtausend freiwillig das Christentum angenommen haben, allmählich zu den früheren Göttern zurückkehren? Gibt es nicht in ganz Europa und, noch weit mehr, in Asien, insbesondere im islamischen Raum, mannigfache Zeichen einer solchen „Re-volution“ im ursprünglichen Sinn des Wortes? Denn Revolution bedeutet wörtlich: Rückwälzung, Zurückbewegung zu den Anfängen, auch Wieder-Holung und Zurückführen.
Es ist gar nicht nötig, nach Iran oder auf den neuen „Indianis-mus“ in Nordamerika zu blicken; das unterirdische Beben läßt mittlerweile auch die Kirchen Europas erzittern. Manche wollen zurück zur römischen Kirche des Konzils von Trient (und gelten deshalb als konservative „Traditionalisten“); andere schwärmen von der Urkirche, ohne sich die Folgen eines solchen Rückschritts klar zu machen (und halten sich selbst für „progressiv“); wieder andere erwarten eine Wiederkehr der Mystik, der Gralsritter, Albigenser, Rosenkreuzer oder auch des Totemismus.
Es ist noch nicht entschieden, mit welchem Christentum oder welchen Christentümern in absehbarer Zukunft zu rechnen sein wird. Vielleicht wird nur eine kleine bedrängte Schar in Katakomben dem Nazarener die Treue halten. Möglicherweise werden die alten Riten in sektenähnlichen und staatlich nicht anerkannten Konventikeln zelebriert werden. Der große Abfall spielt sich doch vor unseren Augen ab. Wir leben im Zeitalter der Abtrünnigkeit und des Treubruchs, wir leben aber auch im Jahrhundert der immer wieder gescheiterten revolutionären Rückgriffe auf Urältestes und „Ewig-Gestriges“.
Vieles wäre weniger verhängnisvoll verlaufen, wenn derartige Versuche nur in kleinen und kleinsten Gruppen ordensähnlicher Art oder gleichsam in „Klöstern auf Zeit“ stattgefunden hätten. Es wäre dann möglich gewesen, den Gehalt und die Konsequenzen „alternativer“ Daseinsentwürfe ohne Massaker und ideologischen Zwang zu erproben. Die Idee eines „experimentellen Lebens“ steht als steinerner Gast im geistigen Raum. Ihr können sich naturgemäß nur elitäre Verbindungen oder phantasievolle und risikobereite Einzelgänger widmen. Könnte nicht auch die Ostseeinsel Gotland eine Zitadelle möglicher Wieder-Holung und Rückbesinnung auf Ursprüngliches werden? Ich selbst habe von dort Ansässigen gesprächsweise erfahren, daß manche Kreise der Inselbevölkerung diese Frage bejahen. Sie berufen sich dabei auf eine alte Prophezeiung, die auch Uwe Lemke (Seite 132) erwähnt. Noch ist nichts entschieden.Nach wie vor leben wir in einem metaphysischen „Interregnum“, wie Armin Mohler dieses Zwischenzeitalter nennt, in dem alte Gefüge zerbrochen, neue Synthesen aber noch nicht sichtbar sind.
Doch kehren wir abschließend zurück zu der schwedischen Ostseeinsel. Man sollte nicht den Vorzug der gegenwärtigen Situation verkennen: ohne von späteren Werken minderer Substanz und Formreife verschüttet worden zu sein, kann der aufmerksame Besucher Gotlands dort die reiche Vergangenheit mehr als eines Jahrtausends noch im Reinzustand auf sich wirken lassen und ihr Fluidum einatmen. Die Bereitschaft dazu kann das
schöne Buch von Uwe Lemke erwecken, läutern und kenntnis reich ausrüsten. Die letzte Einsicht und Zusammenschau kann natürlich auch das gelungenste Buch nicht bieten. Schließlich lesen ja auch die Götter nicht, obwohl es heilige Bücher gibt: die Thora, die Evangelien, die Veden, das Tao-te-king, den Koran und andere. Die alles begründende und abschließende Erkenntnis ereignet sich auf nich Miterarischer Ebene. Dies gilt insbesondere für die Welt der als dauernde Lebensmächte verstandenen Götter. Der von einer Frau entzückte, sie begehrende und umarmende Mann weiß mehr von Aphrodite und Freyja als noch so gelehrte Altphilologen und Nordisten. In einer ihren Garten pflegenden Greisin waltet mehr vom Wesen der Göttin Demeter als in einem weiblichen Snob, der sich, weil es eben gerade „in“ ist, mit Mythologie oder Mutterrechtstheorien befaßt. Und so ist es in allem, worauf es entscheidend ankommt,
„Weil die, so singen oder küssen, 
Mehr als die Tiefgelehrten wissen.“
Novalis
Diese „Erkenntnis“ (griechisch: Gnosis) eigenen Ranges wird in einem Bereich jenseits aller Buchstaben, Begründungen und Beweise gewonnen. Sie beginnt mit unserer Bereitschaft, die Augen zu öffnen und auf den geheimnisvollen Zuspruch der uns umgreifenden Wirklichkeit zu hören. Sie wächst mit einer geschulten Einbildungskraft, die ja keineswegs nur „fabuliert“, sondern auch durch ihre projektive Dynamik früher verschlossene Sphären dem Erkennen öffnet. Sie vollendet sich täglich, nächtlich, stündlich und jeden Augenblick im Rhythmus von Systole und Diastole unseres sehnsüchtigen Herzens. Dazu wäre noch manches zu sagen. Doch, wie Hans Christian Andersen am Ende seiner Märchen zu sagen pflegt, „dies ist wieder eine andere Geschichte“.

(1986)