Augustinus

Seelenfriede und Gottesstaat

Das eigentliche, einzige und tiefste Thema der
Welt- und Menschengeschichte, dem alle übrigen
untergeordnet sind, bleibt der Konflikt des
Unglaubens und Glaubens.
Alle Epochen, in welchen der Glaube herrscht,
unter welcher Gestalt er auch wolle, sind glänzend,
herzerhebend und fruchtbar für Mitwelt und Nachwelt
Alle Epochen dagegen, in welchen der Unglaube,
in welcher Form es sei, einen kümmerlichen Sieg behauptet,
und wenn sie auch einen Augenblick
mit einem Scheinglanze prahlen sollten,
verschwinden vor der Nachwelt,
weil sich niemand gern mit Erkenntnis
des Unfruchtbaren abqälen mag.

Goethe:
Noten und Abhandlungen
zu besserem Verständnis
des West-östlichen Divans

Man sollte einmal eine Weltgeschichte der Bekehrungen schreiben, insbesondere die geschichtliehe Entfaltung Europas unter dem Gesichtspunkt der Konversion betrachten.
Am Beginn müßte die Bekehrung des Paulus stehen, die plötzliche Umwandlung des heftigen Christenverfolgers zum glühenden Missionar des Christentums. Paulus hat die christliche Botschaft nach Europa getragen; ihm hat es das Christentum zu verdanken, daß es keine spätjüdische Sekte geblieben ist.
Die nach Paulus bedeutsamste Konversion fand im Jahre 312 statt, als Konstantin vor den Toren Roms seine Soldaten das Christus-Monogramm auf die Feldzeichen heften ließ und Maxentius besiegte, der ihm die Herrschaft streitig gemacht hatte. Die Folge war das Mailänder Toleranzedikt von 313, das die Christenverfolgungen beendete und schließlich die Erhebung des Christentums zur Religion des Römischen Reiches. Aus dem als staatsfeindlich angesehenen Glauben wurde das religiöse Fundament des Staates, aus der Kirche der Märtyrer eine privilegierte Kirche. Ob Konstantin, wie eine fromme Legende berichtet, göttlicher Traumweisung folgte ― „In diesem Zeichen wirst du siegen“ ―; ob er, wie Jacob Burckhardt meint, den neuen Glauben als kühler politischer Rechner annahm und förderte: ohne die Bekehrung dieses Herrschers wäre die Geschichte des Imperium Roma-num, des Christentums und damit auch Europas völlig anders verlaufen.
Die dritte Bekehrung, die das geistig-religiöse Antlitz des Abend landes entscheidend geprägt hat, ist die des Augustinus. Er selbst hat sie in seinen autobiographischen „Confessiones“ geschildert Im Jahr 386 erhält Augustinus, der kein geborener Europäer ist, sondern ein in Tagaste ― der heute algerischen Stadt Souk Ahras ― geborener Nordafrikaner, den Besuch eines afrikanischen Landsmanns. Er heißt Ponticianus und ist Mitglied der kaiserlichen Beamtenschaft des Römischen Reiches. Ponticianus war bereits Christ. Auf dem Spieltisch Augustinus‘ findet er nicht ohne Überraschung eine Abschrift der Briefe des heiligen Paulus. Er berichtet ihm daraufhin von den ägyptischen Einsiedlermönchen und von Antonius, der mit zwanzig Jahren unter dem Eindruck der Worte Christi an den reichen Jüngling: „Verkaufe alles, was du hast; gib den Erlös den Armen; dann komm‘ und folge mir nach; so wirst du einen Schatz im Himmelreich haben!“ (Matthäus 19, 21) seinen Besitz verteilte und sich in ein leeres Felsengrab zurückzog, um dort ganz Gott zu leben.
Augustinus war damals durch Ambrosius mit dem Christentum bereits bekannt, doch den entschlossenen Bruch mit seiner bisherigen Lebensweise scheute er. Eine vorteilhafte Ehe, eine höhere Beamtenlaufbahn standen lockend vor ihm; zugleich erfüllten ihn mehr und mehr Zweifel, Widerwille und Ekel vor seinem Tun und Treiben. Die Geschichte von dem Eremiten und Asketen Antonius war ihm neu. Sie bewies ihm, daß radikaler Weltverzicht nicht nur in längst vergangenen Zeitaltern möglich war, sondern auch fast noch zu Augustinus‘ Lebzeit von begnadeten Einzelgängern gelebt wurde. Antonius war 356 gestorben, als Augustinus sein zweites Lebensjahr erreicht hatte. Im Gespräch mit Ponticianus erfährt Augustinus, daß Antonius nicht ohne Nachfolger geblieben sei. Der Gast erzählt ihm, daß zwei ihm bekannte Beamte ihrer Karriere entsagt hätten, um nach dem Beispiel des Antonius sich nur noch dem unverderblichen Schatz himmlischer Seligkeit zu widmen. Er selbst, Ponticianus, sei allerdings zu solcher Abkehr von irdischem Treiben nicht imstande gewesen; unter Tränen in den Kaiserpalast zurückgekehrt, setzte er sein altgewohntes Leben fort.
Dieser Bericht erschüttert Augustinus. Er zwingt ihn, mit sich selbst ins Gericht zu gehen und eine tiefgreifende Entscheidung zu fällen. Nachdem der Besucher weggegangen war, schreit er seinen zurückgebliebenen Freund Alypius an: „Hast du es gehört? Ungebildete Leute stehen auf und reißen das Himmelreich an sich, und wir mit unserem Wissen und unserer Bildung treiben uns in Fleisch und Blut herum?“ Augustinus stürzt aus dem Zimmer, eilt in den angrenzenden Garten, wirft sich unter einem Feigenbaum auf den Boden, fühlt sich als Kampfplatz radikal entgegengesetzter Verheißungen und Lebensformen und läßt schließlich einem „Strom von Tränen“ freien Lauf. Schluchzend ruft er aus: „Herr, wie lange noch? Wie lange noch? Warum soll diese Stunde nicht das Ende meiner Schande bedeuten?“
Da vernimmt er, wie eine Antwort auf seine verzweifelte Frage, aus dem Nachbarhaus die Stimme eines Kindes ― er weiß nicht zu sagen, ob es ein Knabe oder ein Mädchen ist ―,*die in singendem Tone mehrmals die Aufforderung wiederholt: „tolle lege, tolle lege“ ― „Nimm und lies, nimm und lies.“ Augustinus denkt einen Augenblick, daß dieser Ruf zu irgendeinem Kinderpsiel gehören könne; doch er entsinnt sich nicht, jemals von dergleichen gehört zu haben.
Er erhebt sich vom Boden, kehrt zu dem Platz zurück, wo sich Alypius aufhält und stößt dort auf die liegen gelassenen Briefe des Apostels Paulus: „Ich griff nach ihnen, öffnete sie und las für mich das Kapitel, auf das ich zuerst meine Augen richtete.“ Es sind die Zeilen des Römerbriefs: „Nicht in Schmausereien und Trinkgelagen, nicht in Schlafkammern und Unzucht, nicht in Zank und Neid, sondern ziehet den Herrn Jesum Christum an und pflegt nicht des Fleisches und in Lüsten.“ Augustinus faßt diese Worte als eine an ihn persönlich gerichtete göttliche Weisung auf: „Ich wollte nicht weiterlesen, es war auch nicht nötig, denn bei dem Schluß dieses Satzes strömte das Licht der Gewißheit in mein Herz, und alle Zweifel der Finsternis verschwanden.“
Die Jahrzehnte von Kaiser Konstantin dem Großen bis zum Tode des Heiligen Augustinus am 28. August 430 sind das große Zeitalter der antiken Christenheit. Aus einer mit vielen anderen Kulten sich befehdenden und immer wieder grausam verfolgten Sekte entfaltete sich schnell eine das ganze Reich überwölbende Kirche. Aus den Katakomben erhob sich eine hierarchisch verfaßte Hochreligion, gestärkt durch umfangreiche Schenkungen, zu einer Macht von eigenem Gewicht neben Kaiser, Heer und Verwaltung. Es entstehen damals die ersten monumentalen Gotteshäuser des neu anerkannten und bald auch privilegierten Erlösungsglaubens, etwa die Lateranbasilika in Rom und die Heiliggrabkirche zu Jerusalem. Aus der ecclesia pressa wird eine ecclesia triumphans. Die Christusdarstellungen des Zeitalters zeigen nicht den gemarterten Heiland, sondern den siegreichen, herrscherlichen, in himmlischer Glorie thronenden Gottessohn. Das Kreuz ist kein Zeichen der Qual und der Schmach, sondern Sinnbild königlicher Erhöhung und Verherrlichung.
Vor diesem Hintergrund müssen wir auch Augustinus sehen. Er ist der größte Lehrer der noch ungeteilten Christenheit; keiner der Kirchenväter des byzantinischen Ostens kommt ihm gleich (ausgenommen Origenes ― aber der wurde ja postum als Ketzer verurteilt); und selbst der ranghöchste unter den doctores ecclesiae des abendländischen Mittelalters, Thomas von Aquin, überragt ihn nur in der Energie logischer Systematik, nicht aber an schöpferischer Vielfalt und religiöser Genialität. Von diesem venerabilis inceptor, der eine Überfülle von Gedanken, Haltungen und Glaubensweisen erprobt, formuliert, zusammengebracht und bis ins Äußerste gesteigert hat, gilt in einem ausgezeichneten Sinne das Wort seiner „Bekenntnisse“: „grande profundum est ipse homo“, ein unendlicher Abgrund ist der Mensch. Er ist schöpferischer Erbe der Antike und Stifter der geistigen Fundamente des christlichen Mittelalters. Auf dem Massiv seiner Theologie ruhte über ein Jahrtausend lang die Dogmatik der katholischen Kirche. Kaum ein Glaubenssatz der kirchlichen Lehre läßt sich ohne Rückgang auf Augustinus erläutern. Die ganze mittelalterliche Dogmengeschichte ist eine Geschichte des Augustinismus und der Auseinandersetzung mit der Autorität des Augustinus. Er hatte den Boden bereitet, auf dem dann Anselm von Canterbury, Bonaventura, Albertus Magnus und Thomas ihre philosophisch-theologischen Systeme errichten konnten. Er ist eine unvergleichliche complexio oppositorum, und eben deshalb kann man an diesem Konvertiten nicht nur studieren, was christlich-mittelalterliche Katholizität bedeutet, sondern überdies noch die Quellen des reformatorischen wie des gegenre-formatorischen Christentums finden. Augustinus ― das bedeutet nicht nur Scholastik und Mystik, Mönchtum und Papstkirche, sondern auch: Luther und Calvin, Jansenismus und Port-Royal, Pascal und Kierkegaard.
Darüber hinaus ist Augustinus das Paradigma einer großen, allverwandelnden Bekehrung, in der einem Suchenden, Zweifelnden, Verzweifelnden ein nicht zu erschütternder Glaube verliehen wird. Wer wissen will, was Konversion bedeutet, der versenke sich in das Leben und in die Schriften dieses leidenschaftlichen, rastlosen, erst nach langem Suchen und Fragen christlich gewordenen Vaters der abendländischen Kirche, der seiner Herkunft nach kein Europäer ist, sondern ein lateinisch gebildeter Afrikaner, unter dessen Vorfahren sich möglicherweise auch Berber und Punier, also Nachkommen der von den Römern gnadenlos zerstörten phönizischen Kolonie Karthago, befinden. Immerhin schrieb Augustinus eine Verteidigung der punischen Sprache, die damals noch in der ungebildeten, das heißt: nicht romanisierten Bevölkerung Nordafrikas verbreitet war. Ihm übelwollende Zeitgenossen nannten ihn einen „punischen Philosophaster“. Von Sallust her war ihm der Gedanke vertraut, daß Rom noch für die Vernichtung Karthagos werde büßen müssen ― Rom, dessen Ursprung mit einem Brudermord zusammenfällt; Rom „das zweite Babylon“; Rom, dessen Schattenseiten nur ein Außenseiter, Fremder und Abkömmling unterjochter Völker mit solch grimmiger Freude hervorheben kann. Soviel ihm, dem Bewunderer Ciceros und Vergils, auch Rom bedeuten mochte; so sehr ihn auch die Plünderung der Hauptstadt des Weltreiches durch Alarichs westgotische Scharen erschüttert hatte, niemand vor ihm hat das Imperium so grundsätzlich entgöttert, profaniert und bestenfalls als Notbehelf angesehen wie dieser Künder des „Gottesstaates“, von dem der britische Historiker Christopher Dawson sagt, daß er in erster Linie Afrikaner, erst in zweiter Römer gewesen ist: „Himmel und Erde werden vergehen, was ist es dann Besonderes, wenn auch das Römische Reich einmal vergeht?“
Das lateinische Christentum, die römische Kirche des Abendlandes erhebt sich auf afrikanischem Grunde. Der größte Teil der frühchristlichen Theologie und Apologetik in lateinischer Sprache stammt von Afrikanern, von Nachfahren der einst durch die Legionen Roms niedergezwungenen Völkerschaften des punisch-numidisch-libyschen Raumes, die sich trotz jahrhundertelanger Latinisierung ihre Eigenart zu bewahren verstanden. Die theologischen und organisatorischen Fundamente der abendländischen Kirche wurden in Nordafrika geschaffen, in einem Gebiet, das seit seiner Eroberung durch den Islam, gut zweihundertfünfzig Jahre nach Augustinus‘ Tod, überhaupt nicht mehr christlich ist Mit Ausnahme von Ambrosius, der einer der ersten staatstragenden Familien Roms entstammt und dem Dalmatiner Hieronymus sind alle herausragenden Theologen, Schriftsteller und Kirchenmänner in den ersten Jahrhunderte« des westlichen Christentums Afrikaner: Cyprian von Karthago, Lactantius, Ter-tullian, Donatus, wahrscheinlich auch Commodianus, vor allem aber Augustinus, der nicht umsonst bei der Lektüre Vergils die heißesten Tränen über den Versen weinte, die den Freitod der von Aeneas, dem Ahnherrn römischer Weltherrschaft, schmählich verlassenen Karthagerkönigin Dido besingen …
Augustinus hat uns über zweihundert Briefe, die zum Teil den Charakter von Abhandlungen haben, fast tausend Predigten und über hundert größere Schriften hinterlassen: Auslegungen der Evangelien und anderer Teile der Bibel, metaphysische Trak-
täte über die Dreifaltigkeit Gottes, Kommentare und Leitfäden für Seelsorger, Polemiken gegen die Manichäer, Arianer, Dona-tisten, Pelagianer und andere Ketzer, Auseinandersetzungen mit moralischen Fragen wie Ehe, Jungfräulichkeit und Arbeit, Vorlesungen über den Schöpfungsbericht des Alten Testaments und schließlich noch die sogenannten „Retractiones“, in denen er, chronologisch vorgehend, seine eigenen Werke ergänzt, verbessert und erläutert. Er äußerte sich über das Wesen des Glücks, Probleme des Kalenders und die Weissagekunst der Dämonen, die Vorherbestimmung des Menschen, die Auferstehung von den Toten, den freien Willen und die Schönheit der Musik, über den Ursprung der Seele, die Tugend der Geduld und die Deutung von Symbolen, über die Enthaltsamkeit, das Buch Hiob, die Briefe des Paulus und Ursprung wie Ziel der Weltgeschichte.
Es bedürfte eines langen mönchischen Lebens, all das zu lesen, was dieser zwischen jubelndem Lobpreis Gottes und düsterer Weltverachtung, mystischem Aufschwung und fanatischer Unduldsamkeit, dialektischer Kühnheit und künstlerischem Raffinement schwankende Priester, Bischof und Heilige geschrieben und diktiert hat. Schon Augustinus‘ Schüler und Biograph Pos-sidius meinte, daß es wahrscheinlich niemand gäbe, der fähig wäre, alles zu bewältigen, was Augustinus uns hinterlassen hat.
Doch zwei seiner Werke, die wohl am meisten den unbestritte nen Rang Augustinus‘ in der Geistesgeschichte des Abendlandes begründet haben und nur mit dem Christentum selbst untergehen können, sollte jeder nachdenkliche Europäer gelesen haben, nicht in einem Zug, sondern in immer erneutem Durchblättern, Sichversenken und Ergreifenlassen. Diese beiden Werke sind die „Confessiones“, seine für die Psychologie des religiösen Menschen nicht nur der Spätantike so aufschlußreiche Lebensbeichte, und die monumentale Schrift über die „Civitas Dei“, den Gottesstaat.
Die „Confessiones“ entstanden etwa um 398, also etwa zwölf Jahre nach der Mailänder Bekehrung. Augustinus war zur Zeit der Niederschrift bereits Bischof von Hippo Regius nahe bei Karthago. Er stand in der Mitte seines Lebens. Die Bekenntnisse sind auf den ersten Blick die Autobiographie eines Philosophen, der den Neuplatonikern viel verdankt und überdies eine Zeitlang der manichäischen Gnosis angehangen hat. Neun der insgesamt dreizehn Bücher behandeln seinen Lebensweg bis zum Tode der Mutter in Ostia, kurz vor dem Abschied von Italien; eines legt im Bewußtsein, „daß in jedem Menschen etwas ist, was des Menschen Geist nicht weiß,“ den erreichten Stand seiner christlichen Existenz dar; und drei sind dem Schöpfungsbericht am Anfang des Alten Testaments gewidmet. Doch Selbstbeobachtung, Selbstenthüllung und Selbstkritik sind eingeschmolzen in ein einziges Gebet. Eigene Schwäche, Schuld und Blöße überstrahlt der hymnische Lobpreis Gottes und seiner Gnade. Erinnerung, Sündenbekenntnis und Reflexion sind verwoben in einen Dialog mit Gott, der ununterbrochen angesprochen, gefragt, verherrlicht wird: „Und doch laß mich reden, mich, Staub und Asche! Laß mich dennoch reden! Denn sieh, zu deiner Barmherzigkeit rede ich, nicht zu einem Menschen, der meiner spottet.“ ― „Du, Herr, hast uns auf dich hin geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir.“
Mit dieser Bekenntnisschrift, die Selbstanklage und Gotteslob zugleich ist, beginnt eine neue Epoche menschlicher Selbsterfahrung: das Abenteuer gottergriffener Subjektivität. Deus et anima, Gott und die Seele ― dies sind die beiden Pole, um die sich sein Denken bewegt: die Bewegung nach innen und der Aufschwung nach oben. Psychologie und Theologie, Selbstergrün-dung und Gottergründung gehen ineinander über. Die „Confes-siones“ sind ein Manifest der Wende ins Innere: „Da gehn die Menschen hin, und staunend sehn sie nach den. Bergesgipfeln, den Meeresfluten ohne Grenzen, dem breiten Strom gewaltiger Flüsse, dem endlos weiten Rund des Ozeans und dem Lauf der Sterne, sich selber aber sehn sie nicht und sehn sich ohne Staunen.“ Der Mensch kann nicht hoffen, Gott zu finden, wenn er sich nicht selbst findet. Augustinus kennt und beklagt den Drang vor sich selbst zu fliehen ins Äußerliche, Oberflächliche und Wesenlose. Das Motiv der Entfremdung, des Verfallenseins an das „Man“ ist eine zentrale Kategorie der augustinischen Lehre vom Menschen. Sein kategorischer Imperativ wendet sich gegen diese ständige Versuchung: „Gehe nicht nach draußen, kehre in dich selber ein; im inneren Menschen wohnt die Wahrheit; und wenn du deine Natur in ihrer Wandelbarkeit erkannt hast, überschreite auch dich selbst“ ― transcende et te ipsum.
Augustinus habe „in der Religion die Religion entdeckt“, be merkt geistreich Adolf von Harnack; und ein anderer protestantischer Theologe, Hans von Campenhausen, umschreibt die durch die „Confessiones“ eingeleitete Wende mit den Worten: „Der Mensch wird hier seinem eigentlichen Wesen nach auf Gott und damit auf ein Unendliches außerhalb seiner selbst bezogen; damit ist die alte, ,klassische‘ Geschlossenheit des Menschenbildes verlassen. Der Mensch wird im Angesicht Gottes und seiner wirklichen Bestimmung seiner ,Uneigentlichkeit‘ und hoffnungslosen Zwiespältigkeit inne; damit ist die alte Bestimmung des Menschen als Vernunftwesen, dem nur einige sinnliche .Leidenschaften‘ im Wege stehen, überwunden, und die unheimliche Grenze der Freiheit im entscheidenden Bereich des Wollens selbst, die geheimnisvolle Vielschichtigkeit der menschlichen Natur bis an die Grenze des Unbewußten ist entdeckt. Indem der Mensch in seinem Leben und in seiner Zeit von Gott erreicht wird und sein Heil wiederfindet oder verfehlt, erscheint der Raum der Geschichte als die entscheidende anthropologische Dimension.“
Der geschichtliche Raum als Thema theologisch-philosophischer Spekulation ist ebenso eine Entdeckung des heiligen Augustinus wie seine um die beiden Pole „Deus et anima“ kreisende Eschatologie der Seele. Sein zweiundzwanzig Kapitel (oder „Bücher“) umfassendes Werk „De civitate Dei“ ist, wie Karl Löwith festgestellt hat, „das Vorbild jeder Geschichtsauffassung, die christlich genannt werden kann.“ Es steht vor uns als ein Denkmal des Abschieds für eine untergehende, als Prolog einer heraufkommenden neuen Kultur.
Unmittelbarer Anlaß der Niederschrift der „Civitas Dei“ war der Fall und die Plünderung Roms im August 410 durch den Gotenkönig Alarich. Es war dies der Anfang vom Ende des Weströmischen Reiches. Der Mythos, Rom sei unbesiegbar, war zerbrochen. Christen wie NichtChristen, die an die Ewigkeit der Hauptstadt des zivilisierten Europa geglaubt hatten, versetzte diese Niederlage in Unsicherheit, Bestürzung und Zweifel. Sollte der christliche Gott nicht imstande sein, die Stadt der Cäsaren wie der Apostelfürsten zu schützen? War die Abkehr von den alten Göttern schuld an der Katastrophe?
In den ersten zehn Büchern versucht Augustinus mit leidenschaftlichem, bis zum Zynismus sich steigernden Eifer nachzuweisen, daß der heidnische Götterkult weder für das politische noch für das moralische Gedeihen nützlich sei. In den Büchern elf bis zweiundzwanzig erweitert sich die Apologie zu einer großangelegten Schau der Weltgeschichte im Lichte der biblischen Offenbarung. So wird diese letzte große Hervorbringung frühchristlicher Apologetik zu einer grandiosen Geschichtstheologie, zu einer konzentrierten Zusammenfassung des gesamten theologischen Denkens von Augustinus.
Man mißversteht „De civitate Dei“, wenn man, wie dies häufig geschieht, in ihr vor allem eine Staatsphilosophie sucht. Grundlegend ist vielmehr der geschichtsphilosophische und -theologische Kerngedanke, mit dem der Kirchenvater das Geschichtsbild der Apokalyptik radikal umgestaltet, ja für eine nicht mehr in der Naherwartung des Jüngsten Gerichts lebende Kirche überhaupt erst tragbar gemacht hat Die Frage nach dem Sinn des Lebens, die er in den „Confessiones“ seelen-eschatologisch und persönlich-existentiell beantwortet hatte, greift er nunmehr in universalhistorischem Zusammenhang, auf der Ebene einer symbolisch gedeuteten Menschheitsgeschichte auf.
Zwei Staaten, Städte oder Bürgerschaften ― das lateinische Wort „civitas“ kann all dies bedeuten ― stehen durch die Jahrtausende hindurch im Kampf: der „Staat Gottes“ und der „irdische Staat“. Der Gottesstaat ist älter und umfassender als die sichtbare Kirche. Zu seinen Bürgern gehören auch die Engel sowie die Frommen und Demütigen aller Zeiten. Im Zusammenhang damit sei an eine erstaunliche Äußerung des Kirchenvaters erinnert, die sich zwar in seinen „Retractiones“ (1,121) findet, aber sachlich hierher gehört. Augustinus sagt, daß „die Sache selbst“ (res ipsa), „die jetzt christliche Religion genannt wird, auch schon bei den Alten war; vom Anbeginn des Menschengeschlechts mangelte sie nicht, bis Christus im Fleische erschien; erst von da ab begann die wahre Religion, die seit eh und je gewesen war, die christliche zu heißen.“ Ähnliches sagte im frühen neunzehnten Jahrhundert der ehrwürdige Münchner Philosoph Franz von Baader: „Falsch ist es, wenn man glaubt, daß das Christentum und die christliche Philosophie ex abrupto mit der Erscheinung Christi entstanden sei.“ Es gibt also ein Christentum avant la lettre, und der „Gottesstaat“ ist ursprünglicher und umfassender als die organisierte Kirche. Der „irdische Staat“ hingegen ist keineswegs die politische Gemeinschaft als solche, sondern die Gesamtheit der Hochmütigen, Selbstsüchtigen und Gewalttätigen. Beide „Staaten“ sind übernationale, metapolitische, zutiefst mystische Körperschaften. So wenig die Kirche mit dem Gottesstaat identisch ist, sondern ihn bloß repräsentiert, so wenig ist der irdische Staat mit einem konkreten politischen Gemeinwesen gleichzusetzen. Zur wahren „civitas Dei“ gehören neben den durch Gottes Gnade berufenen Christen auch die Patriarchen Israels und von Gott erwählte Heiden; und die „civitas terrena“ umfaßt alle „Weltkinder“, unabhängig von ihrer Stellung in Kirche und Staat. Doch andererseits „ist schon jetzt die Kirche das Reich Christi“. Mit unerhörter Kühnheit setzt also Augustinus die endzeitlich verheißene Gottesherrschaft dem kirchlichen Regiment gleich, und nur diese Gleichsetzung vermag den anderen, modernen Ohren so anstößig klingenden Satz zu rechtfertigen, daß „außerhalb der Kirche kein Heil sei“. Wobei man freilich auch, die Behauptung umkehrend, sagen könnte: Wo immer Heil ist, da ist Kirche. Wenngleich er den Staat als profanes Gemeinwesen mit der „civitas terrena“ theoretisch nicht vereinerieit, so wenig läßt Augustinus einen Zweifel daran, daß dies in der Praxis eine dämonische Möglichkeit darstellt, der politische Machtverhältnisse nur zu leicht erliegen. Denn es sind vor allem imperialer Ehrgeiz, Machtgier und Größenwahn, die sich in ihnen verkörpern. Die archetypischen Symbole der „civitas terrena“ sind Luzi-fer, Kain und Babylon. „Was anders sind große Reiche, wenn ihnen Gerechtigkeit fehlt, als große Räuberbanden?“, lautet eine berühmte Stelle im vierten Kapitel des vierten Buches, wo der Kirchenvater auch zustimmend die freimütige Antwort eines von Alexander dem Großen aufgegriffenen Piraten zitiert: „Weil ich’s mit einem kleinen Fahrzeug tue, heiße ich Räuber. Du tust’s mit einer großen Flotte und heißt Imperator,“ Nicht von ungefähr singt Augustinus in „De civitate Dei“ auch das Lob des Kleinstaates. Als Ideal erscheint ihm das überschaubare, friedliche, imperialer Größe entsagende, auf den schlichten Grundregeln familiären und nachbarschaftlichen Wohlwollens beruhende Gemeinwesen.
Dem „Gottesstaat“ entspricht die Tugend der Demut, die von dem Mensch gewordenen Gottessohn uns vorgelebte humilitas; ihr gegenüber steht der luziferische Hochmut, die sich über die göttliche Ordnung hinwegsetzende superbia. Demut und Hochmut ― das ist der Grundzug der gesamten Weltgeschichte; sie prägen die Verfassungen der beiden widerstreitenden „civita-tes“, „einer irdischen Bürgerschaft der Selbstliebe, die bis zur Verachtung Gottes geht, und einer himmlischen Bürgerschaft der Gottesliebe bis zur Verachtung des eigenen Selbsts. Jene hat ihren Ruhm in sich, diese aber rühmt den Herrn.“
Gewaltig klingt das Thema der Entfremdung auf, des zur Pilgerschaft in der Fremde (peregrinatio) verurteilten Menschen, Wesentlich sind der Weltgeschichte Leid, Unglück und Drangsal. Das menschliche Leben ist, wie es ganz heideggerisch heißt, „ein Lauf zum Tode“. Augustinus vermag nicht an eine innerweltliche Aufhebung der Entfremdung zu glauben. Entfremdung ist nicht erst eine Folge der Arbeitsteilung oder des Privateigentums. Sie ist primär Abwendung von Gott und Selbstvergöttlichung des Menschen. Augustinus hat, obgleich er nichts- von politischer Ökonomie und Hegelscher Dialektik wußte, in diesem Punkt tiefer gesehen als Marx; „Lebt also der Mensch nur nach dem Menschen und nicht nach Gott, ist er dem Teufel ähnlich.“ Und anders als Marx und die nachfolgenden geschichtsphilosophischen Aktionisten verzichtet er darauf, Gott in die Karten schauen zu wollen. Er ist in diesem Punkte demütiger, bescheidener und wohl auch humaner als so viele zukunftsbeflissene Agenten. Er begnügt sich mit der gläubig angenommenen Gewißheit, daß Gott der souveräne Herr der Geschichte ist Doch eben weil dies für ihn unerschütterlich feststeht, lehnt er es ausdrücklich ab, über die Zukunft zu spekulieren oder gar den Termin des Weltendes vorherzusagen: „Die Berechnungen kommen und gehen, und bisher läßt die Ankunft des Bräutigams auf sich warten; woher wissen wir, wann er kommen wird?“ Er wendet sich gegen endzeitliche Panik und millenarische Schwärmerei in gleicher Weise, mahnt zur Erfüllung der immer und überall geltenden Pflichten und erinnert daran, daß die Menschen im allgemeinen, die Christen im besonderen peregrini seien: Ausländer, Fremdlinge und Wanderer in dieser Welt der Vergänglichkeit Weit davon entfernt, resignierte Weltflucht zu predigen, ist Augustinus‘ Werk über die Geschichte der beiden nebeneinander existierenden „Staaten“ eine Aufforderung, bereits in dieser Welt der Pilgerschaft überweltlich zu wirken und ihre Gaben dankbar als einen Vorschein künftiger Herrlichkeit zu würdigen.
Noch ein Motiv muß unbedingt hervorgehoben werden. Es allein schon würde „De civitate Dei“ zur Einleitung eines neuen geistesgeschichtlichen Zeitalters stempeln. Augustinus formuliert nämlich in seinem geschichtstheologischen Buch eine den antiken Konzeptionen ganz und gar entgegengesetzte Zeitauffassung. Er verwirft den Gedanken der zyklischen Zeit, die Idee der ewigen Wiederkehr, der Anaximander, Pythagoras, Heraklit, Empedokles, Piaton, Aristoteles und auch noch die Stoiker Se-neca und Mark Aurel gehuldigt haben.
„Was ist Zeit?“ ― mit dieser Frage ringt Augustinus im vollen Bewußtsein, daß mit dem Christentum ein neuer Sinn für Geschichte und Vergänglichkeit, Gegenwart und Zukunft, Zeit und Ewigkeit in Erscheinung getreten ist, „Solange mich niemand danach fragt, ist mir’s, als wüßte ich’s; doch fragt man mich und soll ich es erklären, so weiß ich’s nicht“, heißt es schon in den „Confessiones“ über das Geheimnis der Zeit. „Wir sprechen ständig von ,Zeit und Zeit‘ (tempus et tempus), von ,Zeiten und Zeiten „(tempora et tempora)… Taghell sind diese Dinge, und jedermann führt sie im Munde; und dennoch wiederum sind sie so dunkel, so fremd und unbekannt ist ihr Verständnis.“ Die Zeit besitzt Dauer, doch es sei falsch, sie mit der Bewegung der Gestirne gleichzusetzen. Als Gott auf die Bitte Josuas die Sonne in ihrem Lauf anhielt, damit dieser die Schlacht am selben Tag be-enden könne, sei die Zeit weitergegangen. Zwar bewegten sich die Körper in der Zeit, doch sei die Zeit nicht die Bewegung der Körper. Augustinus verlegt die Zeit in die menschliche Seele. Die Zeit wurzelt in unserem Innern, in dem „penetrale amplum et inßnitum memoriae“, dem weiten und unermeßlichen Innenheiligtum des Gedächtnisses. Augustinus verbindet das Geheimnis der Zeit mit dem der Erinnerung:
„In dir, du meine Seele, messe ich die Zeit… und wenn ich sie messe, dann messe ich den Eindruck, den die Dinge vorübergehend in dir ließen, und der geblieben ist, auch da sie gingen. Ihn mess‘ ich, da er gegenwärtig blieb, nicht jene, die vorübergingen…“ Man könnte in gewisser Hinsicht sagen, daß wir nur in der Gegenwart leben, weil wir nur Gegenwärtiges wahrnehmen. Die Seele erwartet ― dies ist die Gegenwart von Zukünftigem; sie nimmt wahr ― dies ist die Gegenwart von Gegenwärtigem; sie erinnert sich ― dies ist die Gegenwart von Vergangenem. Das Älterwerden besteht darin, daß die Erwartung ständig abnimmt, die Erinnerung sich ständig vermehrt. Nicht die Zukunft ist lang, sondern eine lange Zukunft ist nur eine lange Erwartung von Zukünftigem; nicht die Vergangenheit ist lang, sondern eine lange Vergangenheit ist nur eine lange Erinnerung an Vergangenes.
Vor dem Hintergrund dieses bereits in den „Confessiones“ entfalteten Zeitverständnisses kritisiert Augustinus in „De civitate Dei“ die zyklischen Konzeptionen der Antike, die weder eine absolute Einmaligkeit der Ereignisse noch ein unüberholbares Endziel der Geschichte kennen. Der Gedanke der Periodizität, der regelmäßigen Wiederkehr aller Dinge, ist ‚Augustinus ein Greuel. Denn eine zyklische Zeitauffassung schließt ja die zentrale christliche Glaubenswahrheit aus: die Singularität von Christi Menschwerdung, Opfertod und Auferstehung. Sie ist aber auch deshalb unannehmbar, weil sie Zeit und Ewigkeit blasphemisch vermischt. Gott ist ewig, seine Schöpfung vergänglich. Vor der Schöpfung gab es keine Zeit, weil es kein anschauendes, sich erinnerndes oder erwartendes Geschöpf gab. Für Gott hingegen, der nicht Geschöpf ist, sondern Schöpfer, gibt es weder Vergangenheit noch Gegenwart noch Zukunft, sondern nur Ewigkeit, die etwas grundlegend anderes ist als endlose Zeit, nämlich ― wenn man so will ― erfüllte Gegenwart jenseits der Zeit.
Der entscheidende Einwand gegen die Zyklik der Zeit ist jedoch weder ein kosmologischer noch ein theologischer, sondern ein moralischer. Die heidnische Lehre von den sich ewig wiederholenden Kreisläufen, die dem antiken Menschen völlig einleuchtend und auch nicht mit Verzweiflung gleichbedeutend war, ist für den Christen Augustinus trostlos, abscheulich und aberwitzig, weil sie uns Menschen zu Glaube, Hoffnung und Liebe unfähig mache. Was wäre das für eine Seligkeit, der in ewigem Rhythmus wieder eine Verdammung folgte? Was wäre das für eine Zukunft, in der nichts geschehen könnte, was nicht schon myriadenmal Ereignis gewesen wäre? Was wäre das für ein Gott, der nicht imstande wäre, unerwartet und unwiederholbar Neues hervorzubringen? Sogar wenn sie wahr wäre und die Vernunft dagegen nicht aufkommen könnte, müßten wir diese „gottlose“ Lehre ablehnen, die kein Endziel, keine endgültige Erlösung, kein unvergleichliches Novum kennt. Wenn der Prediger des Alten Testaments mit seinem Satz, es gäbe nichts Neues unter der Sonne, die heidnische Doktrin von der ewigen Wiederkehr des Gleichen gemeint hätte, dann wäre er kein Weiser, sondern ein ungläubiger Tor.
Augustinus ist, obwohl vor mehr als eintausendfünfhundert-fünfzig Jahren zur Zeit des Vandalensturms gestorben, bis auf den heutigen Tag eine geistige Macht geblieben. Man hat viel darüber gestritten, ob er noch ein spätantiker oder schon ein mittelalterlicher Denker sei. Dieses Gelehrtenproblem verliert viel an Gewicht angesichts der Tatsache, daß der Kirchenvater, Heilige und Philosoph nach wie vor Christen wie Nichtchristen anspricht, herausfordert und fasziniert. Ja, man darf sagen, daß dem Europäer des zu Ende gehenden zwanzigsten Jahrhunderts der Afrikaner Augustinus näher steht als der zeitlich und räumlich benachbartere Thomas von Aquino. Wer in die „Summa theologiae“ des Aquinaten eintritt, mag sich bald bange fragen, ob deren mit kühler Folgerichtigkeit formulierte, Für und Wider gelassen abwägende und eine Stimmung pontifikaler Harmonie verbreitende Sätze überhaupt von einem lebendigen Menschen stammen oder ob sich in ihnen der objektive, hierarchisch gefügte Zusammenhang der Dinge und Wesen vom in der Sonne spielenden Staubkorn bis zur allerheiligsten Dreifaltigkeit gleichsam selbst in autoritativer Weise vernehmlich gemacht hat. Augustinus hingegen, welches seiner Werke auch immer man aufschlägt, steht vor uns als leibhaftige, leidenschaftliche, von Affekten, Spannungen und Kämpfen durchzitterte Individualität. Weil er eine kaum überschaubare Fülle von Elementen, Ansätzen und Stimmungen umfaßt, welche er niemals in einem ausgewogenem System zu integrieren vermochte, ist dieser Kirchenvater, den man als einzigen ungescheut ein Genie nennen kann, auch heute noch so erregend. Ob man sich an den Augustinus der „Confessiones“, der Predigten oder des „Gottesstaates“ hält, an den Psychologen der Bekehrung oder an den Gott „in dem ungeheuren Hof unseres Gedächtnisses“ (in aula ingenti memoriae) wohnen lassenden Theologen; ob man seine Deutung der Zeit schätzt, seine Warnung vor machtstaatlicher Hybris oder sein Lob des Kleinstaates; ob man sich in seine kühne Philosophie der Liebe vertieft: „Virtus est ordo amoris“, „Dilige et quod vis fac“; ob man den Gedanken von der Menschheit als „civitas pe-regrina “ aufgreift oder seine Entgegensetzung von Kreislaufund Kreuzweg―man findet bei ihm geistige Fermente und grundsätzliche Stellungnahmen, auf die wir immerwieder zurückkommen müssen, wenn uns an Orientierung über den Tag hinaus gelegen ist Bei allem, was wir von ihm lesen und nehmen, sollte uns freilich immer bewußt sein, daß dieser Mann zwischen zwei Zeitaltern ein homo religiosus gewesen ist, ein von der überschwänglichen Verheißung des Evangeliums beflügelter Christ* in dessen Schriften sich das unendlich kühne Wort findet: „dies Septem nos ipse erimus“, der siebente Tag ― der Tag gotterfüllter und festlich das Sein bejahender Ruhe ― werden wir selber sein. Geschlechter sterben aus, Throne bersten, Weltreiche gehen unter, doch was wiegen sie gegenüber der Hoffnung auf göttliche Verjüngung in Ewigkeit: „Halte dich nicht an die greise Welt, sondern werde jung in Christus, der dir sagt: ,Die Welt vergeht, sie wird alt, sie nimmt ab, sie atmet mühsam wie ein Greis, du aber fürchte dich nicht, deine Jugend wird erneuert werden wie die des Adlers‘.“ (Sermo 81, 8 – 9). Vergessen wir aber auch nicht, daß dieser wortgewaltige und gottergriffene Glaubensdenker und Glaubenskämpfer, den die Künstler jahrhundertelang mit einem feuerlodernden Herzen dargestellt haben, mehrmals versichert, er sei niemals mit dem, was er vortrage, zufrieden, sodaß man ihm einiges nachsehen müsse. Dies gilt allerdings kaum von den Sätzen, die sich im letzten Buch der „Civias Dei“ finden:
„Die Fülle und wunderbare Pracht des Lichtes, die Sonne, der Mond, die Gestirne, die grünen Wälder, Farben und Duft der Blumen, die zwitschernde und buntgefiederte Vogelwelt,… das großartige Schauspiel, das uns das Meer darbietet, wenn es sich in verschiedenen Färbungen wie in Gewänder kleidet und bald grün ― und das wieder in vielen Abstufungen ―, bald pupurfar-ben, bald blau erscheint… Und all das sind nur Tröstungen für Unselige und Gestrafte, nicht Belohnungen der Seligen. Worin werden erst diese bestehen, wenn schon jene Tröstungen so reich, herrlich und groß sind?“
(1982)