Im vierten und letzten Band seines Bildungs- und Entwicklungsromans »Der grüne Heinrich« läßt Gottfried Keller die Titelgestalt in einem Schloß Unterschlupf finden. Heinrich verbringt dort einige Wochen, bevor er in die Schweiz zurückkehrt. Eines Abends nimmt sich die kleine Gesellschaft beim Tee das Büchlein eines »vehementen Gottesschauers« der Barockzeit vor, das sich durch »lebendige Sprache und poetische Glut« auszeichne, allerdings auch, wie der freidenkerische Graf tadelnd bemerkt, mit einem »Gran von Frivolität und Geistreichigkeit« versetzt sei. Die Rede ist von Angelus Silesius und seiner mystischen Spruchsammlung »Der Cherubinische Wandersmann oder Geistreiche Sinn- und Schlußreime«. Keller war in seiner Berliner Zeit durch Karl August Varnhagen auf die in Alexandrinern verfaßten Epigramme des schlesischen Priester-Dichters aufmerksam geworden. Varnhagen hatte 1821 eine Angelus-Silesius-Anthologie herausgegeben, die mehr das Allgemeinverständliche, unmittelbar Einprägsame enthält. Eine vermehrte Auswahl ließ er 1832 erscheinen; ihr sind auch Texte des von Matthias Claudius und Franz von Baader überaus bewunderten französischen Mystikers Saint-Martin sowie Anmerkungen von Varnhagens Frau Rahel beigegeben.
Damals, etwa hundertfünfzig Jahre nach seinem Tode, entdeckten die Spätro mantiker Angelus Silesius, der Klopstock, Lessing und Schiller völlig unbekannt gewesen zu sein scheint, während der alte Goethe ihn im August 1820 gelesen hat. Neben Varnhagen wären hier Namen wie Friedrich Schlegel, Gotthilf Heinrich Schubert, Franz von Baader, Georg Friedrich Daumer und Schelling zu erwähnen. Schopenhauer und Hegel, sonst Antipoden, waren sich einig in der Wertschätzung des »Cherubinischen Wandersmanns«. Rückerts Gedankenlyrik ist nicht nur durch altindische Weisheit und Spinozas Pantheismus angeregt worden, sondern auch durch Angelus Silesius. Die Frauen der Romantik waren von ihm besonders angezogen: neben Rahel und Bettina von Arnim vor allem Annette von Droste-Hülshoff, die auch dichterisch seinen Spuren folgte; »der erquickt mich wie Balsam«, bekannte Henriette Feuerbach. »Beim Himmel, da steht das artigste Frühlingsliedchen«, ruft Dort-chen Schönfund, die liebliche Ziehtochter des Schloßherrn, im »Grünen Heinrich« aus, eilt zum Klavier und spielt und singt »in einem altertümlichen Choralsatze von sehnsüchtig lockendem Tone, doch trotz der kirchlichen Form mit einem verliebt zitternden, weltlichen Ausdruck ihrer Stimme«:
Blüh auf, gefror’ner Christ,
der Mai ist vor der Tür;
Du bleibest ewig tot, blühst du nicht
jetzt und hier!
Der Zweizeiler steht im »Cherubinischen Wandersmann«, von dem sich seit seiner Wiederentdeckung um 1820 Katholiken und Protestanten, Freigeister und Fromme, Poeten und Philosophen, rechte wie linke Kinder Gottes und der Welt angesprochen fühlen: romantische Konvertiten wie Schlegel, gottledig gewordene Feuerbachianer wie Keller, Naturalisten wie Gerhart Hauptmann und Esoteriker wie Rilke, Anthroposophen wie Christian Morgenstern und Marxisten wie Ernst Bloch. In unseren Tagen haben Martin Buber, Ernst Jünger und Martin Heidegger dem schlesischen Barockdichter und Mystiker gehuldigt, und entsprechend unterschiedlich sind auch die Urteile über ihn. War Angelus Silesius, der mit bürgerlichem Namen Johannes Scheffler hieß und am 9. Juli 1677 starb, ein kirchlich frommer Christ oder ein heimlicher Ketzer? War er Theist oder Pantheist? War er gar unter der Maske des Mystikers ein Atheist, ein barocker Vorläufer des die Theologie in Anthropologie auflösenden Ludwig Feuerbach? Oder hat er vielleicht einen Standort erreicht, von dem aus die ganze Problematik Theismus oder Atheismus, die Frage nach dem Sein oder Nichtsein Gottes zu völliger Belanglosigkeit verblaßt, wie zwei Distichen von ihm zumindest andeuten:
Die zarte Gottheit ist ein Nichts und Über-Nichts:
Wer nichts in allem sieht, Mensch, glaube, dieser sieht’s.
Wer ist, als war‘ er nicht und war‘ er nie geworden:
Der ist, o Seligkeit, zu lauter Gott geworden.
Schon zu Lebzeiten heftig umstritten, ist der Streit über ihn bis heute zu keinem Abschluß gekommen. Wenn ein Werk zu so unterschiedlichen Auslegungen Anlaß gibt, von sonst so entgegengesetzten Denkern, Schulen und Gemeinden beansprucht zu werden vermag, dann ist zu vermuten, daß auch sein Urheber mehr Spannungen, Unstimmigkeiten und Gegensätze in sich auszutragen hatte, als man gemeinhin einem weltentrückten Mystiker zuzuschreiben pflegt. In der Tat verrät Schefflers Biographie alles andere denn ein milde abgeklärtes und gelassenes Naturell, obwohl er in seinen Sprüchen immer wieder Ruhe, Stille und Gelassenheit des Gemütes gepriesen hat. Sein Wesen enthält härteste Gegensätze, die ihn auch für Freunde zu einem überaus schwierigen und unangenehmen Patron gemacht haben. »Der muß ein Lamm‘ und Low‘ in einem Wesen sein«, heißt es in einem seiner Epigramme; und so war er denn auch.
Manches in seinem zwiespältig-zwieseligen Wesen mag mit seiner Abstammung und Herkunft zusammenhängen. Der Vater war polnischer Grundbesitzer, geadelt von König Sigismund III. zu Warschau, und nannte sich stolz »Herr zu Borwicze«. Da er Lutheraner bleiben wollte, verließ er das katholische Polen und ließ sich in Breslau nieder. Er war von cholerischem Temperament, heftig, leicht aufbrausend, zum Jähzorn neigend, der einmal Prozeßgegner »mit Worten und Werken« so rücksichtslos angriff, daß der Breslauer Magistrat sich vorbehielt, wegen der »verübten mehrfaltigen Unbedachtsamkeit mit gebührender Strafe wider ihn zu verfahren«.
Mit zweiundsechzig Jahren heiratete er Maria Hennemann, die vierundzwanzigjährige Tochter eines Arztes, eine allem Anschein nach überaus empfindsame, zarte und nervöse Frau. Das erste Kind des ungleichen Paares war Johannes. Ein Bruder verfiel schon früh in geistige Umnachtung und wurde entmündigt. Die drei Kinder- auch von einer Schwester namens Magdalena wird berichtet- waren bereits als Halbwüchsige verwaist. Es war die Zeit des Dreißigjährigen Krieges.
Scheffler war, so kann man sagen, erblich belastet. Wesenszüge beider Eltern teile finden sich bei ihm wieder, und die Spannungen in seinem Charakter wurden noch gesteigert durch die ihm auf seinen Lebenswegen widerfahrenen Einflüsse. In Liebe wie Zorn maßlos und ungestüm; reizbar, leicht zu verwunden und überempfindlich; weltfremd, ungefestigt und anlehnungsbedürftig; schwärmerisch gefühlsselig, aber auch von scharfem Verstand, sarkastisch, verletzend durch Wort und Witz; die Ruhe suchend, doch sie stets nur flüchtig – für die Dauer eines seiner Zweizeiler- genießend; voll von Unrast, Grobheit und Zanksucht, aber auch schwelgerisch-verzückter Hingabefähigkeit; Hymnen der Zärtlichkeit singend und über der Niederschrift von mehr als fünfzig geifernden Pamphleten verbitternd; hin- und hergerissen zwischen ekstatischem Unendlichkeitspathos und artistischem Formwillen, rauschhaft-visionärer Entfesselung und asketischer Zucht, war der Dichter des »Cherubinischen Wandersmanns« selbst ein Wanderer zwischen den verschiedensten Bereichen, eine Walstatt der erschütternden Antinomien des europäischen Barock.
Geboren 1624 in Breslau und aufgewachsen als Lutheraner, ist Johannes Scheffler gleichwohl schon früh in den Sog ganz anderer geistig-religiöser Überlieferungen geraten. Er studierte Medizin in Straßburg, Leyden und Pa-dua. Straßburg war seit den Tagen des Eckhart-Schülers Tauler ein Mittelpunkt mystischer Religiosität. Das von zahlreichen Kanälen durchzogene, an mittelalterlichen und Renaissancebauten reiche Leyden beherbergte ebenfalls eine Menge religiöser Nonkonformisten: Wiedertäufer, Collegianten, Menno-niten, Anhänger der theosophischen Alchymie Jakob Böhmes; hinzu kamen aus Spanien vertriebene Juden. Spinoza hat eine Zeitlang unweit von Leyden gewohnt.
In Padua begegnete Angelus Silesius dem pracht- und sinnenfreudigen Barockkatholizismus der Gegenreformation, katholischem Heiligenkult und Wunderglauben, wahrscheinlich auch der italienischen und spanischen Mystik Angela Folignos, Teresas von Avila und Juans de la Cruz. Zurückgekehrt aus Italien, wird er 1649 Leibarzt des Herzogs Sylvius Nimrod von Öls und gewinnt Umgang mit dem von milder, überkonfessioneller Spiritualität erfüllten Kreis um Abraham von Franckenberg. Hier schätzt man Jakob Böhmes von Visionen durchblitzte Grübeleien, die der protestantischen Orthodoxie ein Greuel waren. Zum Kreis um Franckenberg gehört auch Daniel Czepko, der Verfasser der »Sexcenta monodisticha Sapientum«; darin stehen Zeilen wie diese:
Indem Gott spricht, werd ich und alle Welt erkoren;
Wann alles schweigt, wird Gott in ihr und mir geboren.
Die 1647 abgeschlossenen »Monodisticha« sind eine Vorstufe zum »Cherubi nischen Wandersmann«; Scheffler hat sie nachweisbar gekannt und sich von ihnen anregen lassen. Mystische Sehnsucht spricht sich aus in geprägter Form, Böhmes stammelnder Tiefsinn klärt sich in meisterlichen Epigrammen. Frankenberg, der um eine Generation ältere Mentor, stirbt 1652. Scheffler widmet seinem Andenken ein Gedicht, in dem, fast wörtlich Böhmesche Gedanken fortspinnend, die Verse stehen:
Wer Zeit nimmt ohne Zeit und Sorgen ohne Sorgen,
Wem gestern war wie heut, und heute gilt wie morgen,
Wer alles gleiche schätzt, der tritt schon in der Zeit
In den gewünschten Stand der lieben Ewigkeit.
Schlesien gehörte seit dem Mittelalter zur böhmischen Krone, die 1526 an das Haus Habsburg übergegangen war. Die Habsburger waren im siebzehnten Jahrhundert die Avantgarde der Gegenreformation. Sie förderten den Jesuitenorden, der sich ausdrücklich der Rekatholisierung Europas verschrieben hatte. Von Österreich gelangte jesuitische Barockmystik auch nach Schlesien. Abgestoßen von der starrdenkenden, aller mystischen Schwarmgeisterei feindseligen lutherischen Orthodoxie, kam Scheffler in Verbindung mit diesem sowohl militanten als auch intellektuell aufgeschlossenen Orden. Am 12. Juni 1653 tat er in der Matthiaskirche zu Breslau den Schritt, der bei den Protestanten maßlose Empörung auslöste: er wurde katholisch. 1654 erhielt er den Rang eines kaiserlichen Hofarztes; das war ein bloßer Titel ohne Gehaltsansprüche. Sein nicht unbeträchtliches Vermögen verschwendet er in frommen Werken, Almosen an die Armen und Stiftungen an Kirchen und Klöster. 1661 erhält er die Priesterweihe. Er dient seiner Kirche mit heiligen Liedern und unheiligen Streitschriften.
Manche Stücke aus seiner religiösen Liedersammlung »Heilige Seelenlust oder Geistliche Hirtenlieder der in ihren Jesum verliebten Psyche« (1657) finden Aufnahme in katholische wie protestantische Gesangbücher, etwa »Mir nach, spricht Christus unser Held«, »Ach, sagt mir nichts von Gold und Schätzen« und »Ich will dich lieben, meine Stärke«. Gleichzeitig mit diesem Liederbuch erscheint die fünf Bücher umfassende Sammlung »Geistreiche Sinn- und Schlußreime«, ebenfalls unter dem Pseudonym Angelus Silesius, das Scheffler nach seinem Übertritt zur katholischen Kirche angenommen hatte.
Berühmt geworden sind diese mystischen Epigramme allerdings unter dem Haupttitel, den sie bei der zweiten, um ein sechstes Buch vermehrten Auflage (1675) erhalten haben: »Der Cherubinische Wandersmann«. Die Wahl des Verfassernamens wie des Titels will bedacht sein; beide weisen auf die Welt der Engel hin. Das deutsche Wort Engel leitet sich nämlich ab von dem griechischen angelos, der Bote. Angelus heißt auch ein mit Glockenläuten verbundenes Gebet der katholischen Kirche, das dreimal täglich verrichtet wird zur Erinnerung an die Botschaft des Engels, der zu Maria kam. Angelus Silesius bedeutet demnach der Bote Gottes aus Schlesien. Cherubim heißen im Alten Testament jene mächtigen geflügelten überirdischen Wesen, die, halb Mensch und halb Tier, den Lebensbaum im Paradiese bewachen, die Bundeslade im Tempel krönen und den lebendigen Thronwagen der Gottheit bilden.
Das Christentum übernahm von den Hebräern den Glauben an diese Engelsgestalten, die höchste Ordnung in der himmlischen Hierarchie neben den Seraphim. Der unter dem Pseudonym Dionysius Areopagita berühmt gewordene byzantinische Mystiker hat dann gegen Ende des fünften Jahrhunderts die Vorstellung von den neun Chören der Engel systematisiert. Er galt ein Jahrtausend lang als apostolische Autorität. Thomas von Aquin zitiert ihn neben der Bibel und Aristoteles am häufigsten in seinen Summen. Dante hält sich in seiner Divina Commedia streng an die angelologischen Aussagen der Areopa-giten, wie Gesang XXVIII des »Paradiso« zeigt.
Auch Scheffler war mit diesen Vorstellungen vertraut. Der seltsame Titel seines Hauptwerkes meint offenbar unter dem »Wandersmann« den Verfasser selbst, der von den Cherubim, den Gott am nächsten stehenden Engeln, in das Geheimnis der Schöpfung eingeweiht ist. Doch damit nicht zufrieden, spricht der Dichter an einigen Stellen offen aus, daß er noch unendlich mehr ersehnt. Sein innerstes Verlangen zielt über alle Erkenntnis und Schau hinaus: Was Cherubin erkennt, das mag mir nicht genügen, Ich will noch über ihn, wo nichts erkannt wird, fliegen. So sehr manche Zweizeiler fromm im christlichen Sinne klingen, so wenig läßt sich leugnen, daß andere auf Theologen überaus befremdlich, ja blasphemisch wirken müssen. Der »Cherubinische Wandersmann« enthält nicht nur Gott, Christus und die Heiligen anrufende Kurzgebete, lyrische Stoßseufzer eines sich nach transzendentaler Geborgenheit und Gnade sehnenden Herzens, sondern auch rückhaltlose Bekenntnisse, in denen sich der verwegene Wunsch nach Gottwerdung ausspricht. An alchymistische Vorstellungen anknüpfend, geht es hier nicht mehr bloß um Einkehr bei Gott, sondern um Selbstvergot-tung durch einen Prozeß magischer Transmutation. So wie Blei zu Gold wird, soll die Seele sich in Gott verwandeln.
Besonders kühn kommt dieser Gedanke in jenen Sprüchen zum Ausdruck, in denen Gott als eine vom Menschen abhängige Größe, als Etappe seiner überschwenglichen Sehnsucht, als Protuberanz menschlicher Selbsttranszendenz erscheint. Die Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch wird zur Identität, und Christi Leben ist nur insofern von Belang, als es eine ewige Möglichkeit der menschlichen Existenz bezeichnet. Für Himmel und Hölle bleibt kein Raum, auch Vergeltung und Erlösung sind nicht länger objektive, von außen kommende Geschehnisse; vielmehr gilt: »Der Himmel ist in dir!« – der Himmel nicht minder denn die Hölle. In gewagten Bildern und Vergleichen spricht Angelus Silesius immer wieder das Geheimnis aus, daß Gott sich nur in der mystisch ergriffenen Seele verwirklicht:
Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben;
Werd‘ ich zunicht, er muß vor Not den Geist aufgeben.
Ich bin so groß als Gott, er ist als ich so klein;
Er kann nicht über mich, ich unter ihm nicht sein.
Ich bin so reich als Gott, es kann kein Stäublein sein, ,
Das ich (Mensch, glaube mir) mit ihm nicht hab‘ gemein.
Ich bin nicht außer Gott und Gott nicht außer mir;
Ich bin sein Glanz und Licht, und er ist meine Zier.
Kein Wunder, daß einem Gottfried Keller Aussagen wie diese behagten: »So finden wir mit Vergnügen, wie die Extreme sich berühren und im Umwenden eines in das andere umschlagen kann«, läßt er den freidenkerischen Grafen im »Grünen Heinrich« sagen, der denn auch »unsern Ludwig Feuerbach« aus den angeführten Epigrammen zu hören vermeint. Doch dies ist noch nicht die höchste Kühnheit, die wir bei Scheffler finden. Er geht noch weiter, wie überhaupt bei ihm kaum eine Ketzerei fehlt, die er nicht erneuert oder vorweggenommen hat. Es gibt Stellen bei ihm, die einem brahmanischen oder tantri-schen Text entnommen sein könnten, so sehr sprengen sie den Rahmen noch so weitherzig ausgelegter christlicher Dogmatik.
Was man von Gott gesagt, das g’nüget mir noch nicht:
Die Über-Gottheit ist mein Leben und mein Licht.
Wer der höchsten Seligkeit teilhaftig werden wolle, der müsse zu vollkomme ner Gelassenheit gelangen. Der vollkommen gelassene Mensch ist der wesentliche Mensch im Sinne jenes berühmten Spruchs, den viele kennen, die sonst kaum etwas von Angelus Silesius wissen:
Mensch, werde wesentlich! Denn wenn die Welt vergeht,
So fällt der Zufall weg; das Wesen das besteht.
Der in Gelassenheit wesentlich gewordene Mensch ist imstande, »Gottes bloß«, »Gottes ledig zu stehen« oder, wie Scheffler es ein andermal ausdrückt, noch »über Gott hinaus in eine Wüste zu zieh’n«.
Wahrhaft gelassen ist, wer alles lassen kann. Wer alles zu lassen vermag, läßt auch Gott sein. Es ist dies »die geheimste Gelassenheit«. Wer sie erreicht hat, dem ist auch Gott nicht mehr genug. Gottes unendlich viele Namen in ihr Unausgesprochenes zurückkehren lassend, wagt der Mystiker mit Meister Eckhart den Satz: »Mein wesentliches Sein steht über Gott«. Angelus Silesius gehört zu den größten deutschen Sprachkünstlern zwischen Walther und Goethe. In einzelnen Zweizeilern, wie dem von der »ohn‘ warum« blühenden Rose, erreicht er eine Vollkommenheit und Leuchtkraft, die die der poetischen Hervorbringungen seiner Epoche unendlich überragen. Da ist er die Nachtigall, die in manchen Tönen zwar noch wie ein Vogel singt, hin und wieder aber in einem Nu sich über sämtliche Arten erhebt, um allen, die Ohren haben, zu zeigen, was eigentlich singen heißt.
Wollten wir den philosophischen und theologischen Ertrag des Angelus Sile sius messen, so würden wir genarrt wie die Freier der Penelope. Der am Tage gesponnene Schleier wird in der Nacht unerbittlich wieder aufgetrennt. Alles Gesungene und Gesagte wird in ein großes Schweigen zurückgenommen, jeder Satz wieder aufgehoben, und glaubt man, jetzt beginne es erst recht, ist das Ende schon da. Schefflers Sprüche, die wahre mantras sind, tönende Inkarnationen des im Grunde Unnennbaren, fangen stets von neuem an und münden in ein souveränes Schweigen, wo der Mystiker-Künstler Atem holt zwischen Wort und Wort:
Mensch, so du willst das Sein der Ewigkeit aussprechen,
So mußt du dich zuvor des Redens ganz entbrechen.
Im Zen-Buddhismus heißt es: »Wenn du dem Buddha begegnest, töte ihn!«
Alles – aber auch wirklich alles -, was du siehst oder hörst oder berührst, ist
nicht das Wahre, auf das es ankommt, obwohl alles dieses es – den »anderen
Zustand« – aufleuchten zu lassen vermag. »Ist das Reden wesentlich für die
Religion? Ich kann mir ganz gut eine Religion denken, in der nicht gesprochen
wird«. Das hat in unserem Jahrhundert Ludwig Wittgenstein gesagt. Das ist
auch die letzte Botschaft des »Cherubinischen Wandersmannes«, in dem zwei
Jahrtausende mystischen Aufschwungs auskristallisiert sind. Man mag ein
wenden, sie sei heute nicht aktuell. Sie war auch in der Zeit des Dreißigjährigen
Krieges nicht aktuell. Sie ist deshalb ein großes und heilsames Ärgernis für alle
Zeiten, weil sie so nachdrücklich von dem spricht und, wie der Dichter sagt,
»schweigend singt«, was uns am meisten fehlt.
(1977)