Die Sau von Falaise

oder ‚Ein Exempel wird statuiert‘

„Prozesse gegen Tiere“, darum geht es, „eine exemplarische Gerechtigkeit, eine abschreckende Justiz?“
Mit dieser Themenfrage beginnt Marcel Pastoureau die erste Abhandlung seines viel beachteten Buchs über das symbolische Mittelalter („Une histoire symbolique du Moyen Age occidental“, 2004).
Die hohe Zeit der europäischen Gerichtsprozesse gegen Tiere war das Spätmittelalter. (Aber auch die Justiz späterer Jahrhunderte scheint regional und gelegentlich solche Verfahren praktiziert zu haben, angeblich bis ins britische 20. Jahrhundert.)
Pastoureau weist darauf hin, dass das Thema ‚Tierprozesse‘ bisher der ‚historia minor‘ vorbehalten war, weil der unterhaltende, anekdotische und bisweilen schlüpfrige Charakter dieser Geschichten das Selbstverständnis ernsthafter Historiker beleidigte. Die einzelnen Rechtsfälle scheinen dieses (Vor)Urteil zu bestätigen.
In einem förmlichen staatlichen Gerichtsverfahren wurde im Jahr 1394 zu Mortain in der Normandie ein Hausschwein, eine Sau, an den Pranger gestellt und hingerichtet, weil sie ein Kind zu Hälfte aufgefressen hatte. Straf- und schulderschwerend wurde berücksichtigt, dass die Untat an einem Freitag geschah unter Verletzung des Verbots, an diesem Tag Fleisch zu verzehren.
In den Tierprozessen dieser Zeit wurden die damals modernsten Mittel der Wahrheits- und Rechtsfindung eingesetzt. So gestand 1457 in Savigny-sur-Étang (Burgund) eine Sau unter der Folter ihr Verbrechen, dass sie zusammen mit ihren Ferkeln den fünfjährigen Jehan Martin verspeist hatte. In welcher Ausdrucksform das Geständnis geschah, durch konkludentes Verhalten oder unter Übersetzung mittels eines Schweinedolmetschers, ist nicht überliefert.
Dies sind zwei typische Beispiele für die damals üblichen Verfahren gegen Tiere.
Bei der Ahndung des durch Tiere erlittenen Unrechts sind drei Situationen zu unterscheiden. Die staatliche Gerichtsbarkeit befasste sich mit den größeren Haustieren, den deliktischen Pferden, Rindern, Hunden, vor allem aber mit Schweinen. Die sogenannten „Plagen“ hingegen, das heißt Schäden durch wilde Tiere, wurden anderweitig behandelt. Gegen größere Wildtiere veranlasste der Grundherr die Jagd, zum Beispiel auf Wölfe, Hirsche, Wildschweine oder Bären. Das durch Insekten, Nagetiere, Heuschrecken und anderes Ungeziefer erlittene Unrecht fiel hingegen – unter Bezugnahme auf die biblische Erwähnung solcher Plagen – in die Zuständigkeit der kirchlichen Gerichtsbarkeit des Bischofs. Vor allem in den alpinen Landschaften, aber nicht nur dort, wurde über Heuschrecken, Maikäfer, Mäuse und andere Schädlinge die Exkommunikation verhängt oder von einem Exorzisten der Bannfluch ausgesprochen. Bei Maikäfern und Heuschrecken wirkten diese Maßnahmen tatsächlich, spätestens nach drei bis vier Wochen. Wer darüber überheblich lacht, sollte an unsere Gegenwart denken, in der im deutschen Wirtschaftsraum irrsinnig hohe Summen für irrsinnige und abstruse Maßnahmen aus bestimmten Bereichen der sogenannten Alternativmedizin ausgegeben werden. Ein Millionen-Markt! Wenn nichts anderes mehr hilft, erinnert man sich eben magischer Praktiken.
In neun von zehn Fällen war im mittelalterlichen staatlichen Tierprozess der Delinquent ein Schwein. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand. Das Schwein war zahlenmäßig das am meisten verbreitete Nutztier. Das Schwein war auch das am meisten herumvagabundierende Haustier. Vor allem in den Städten erledigten herumstreunende Schweine nebenbei Aufgaben der Straßenreinigung. Da in den Städten der feine, sensible Geruchssinn dieser Tiere nicht durch Trüffeln gereizt wurde, machten sie von ihrer besonderen Geruchsgabe anderen Gebrauch, indem sie unerlaubt auf den Friedhöfen die jüngst Verstorbenen auszugraben versuchten. Das rief die Obrigkeit auf den Plan. Noch entscheidender war die auch im Mittelalter schon bemerkte Verwandtschaft des Schweins mit dem Menschen. Das Schwein ist bekanntlich neben dem Menschen der einzige Allesfresser. So wie sich der Mensch nichts dabei denkt, ein Schwein zu essen, so fühlte auch das robuste mittelalterliche Schwein keine Hemmung, wenn sich bei passender Gelegenheit ein Mensch – gleich welchen Alters -als Abwechslung auf seiner Speisekarte anbot. Hier musste die Obrigkeit eingreifen. Quod licet homini Dei imagini non licet porcae!
Pastoureau berichtet ausführlich über den Fall der ‚Sau von Falaise‘. Die genaue Schilderung des Vorgehens wurde nicht nur durch die vorbildliche Aktenlage ermöglicht, das Geschehen war vielmehr 400 Jahre lang in einem Fresko in der Dreieinigkeitskirche zu Falaise (Normandie) festgehalten. Dort konnte es schaudernd bewundert werden, bis es im Ersten Kaiserreich, der Napoleon-I-Ära, einem Brand zum Opfer fiel. Erhalten hat sich aber eine präzise Beschreibung dieses Freskos. Diese Schilderung stand der Forschung ergänzend zu den Akten zur Verfügung.
Der zur Rechtsverfolgung Anlass gebende Sachverhalt stellt sich kurz wie folgt dar: Eine etwa drei Jahre alte Sau fraß 1386 in Falaise einen Arm und Teile des Gesichts eines Säuglings, der an den Folgen dieses An- und Eingriffs starb. Die Sau wurde ergriffen und eingekerkert. Ihr wurde ein Verteidiger beigestellt. Nach einem Prozess von neun Tagen wurde ihr im Gefängnis das Urteil verkündet: Vor der Hinrichtung sollten ihr die gleichen Schmerzen zugefügt werden, die der Säugling erfahren musste. Talionsprinzip! Vor und nach der Exekution sollte die Sau an den Pranger gestellt werden zur Abschreckung und öffentlichen Verhöhnung. Zum Schluss war die Verbrennung der sterblichen Reste auf dem Scheiterhaufen vorgesehen.
Der Vollzug des Urteils wurde ein spektakuläres öffentliches Ereignis. inszeniert auf dem Markt- und Messeplatz vor dem Kastell. Als Zuschauer war ein sehr gemischtes Publikum geladen und erschienen, nämlich der königliche Statthalter von Falaise, seine Mitarbeiter und Helfer, die Bürger der Stadt, die Bewohner der umliegenden Dörfer sowie die Artgenossen der Verurteilten, die Schweine. Die verurteilte Sau, in der Maskerade menschlicher Kleidung, wurde von einem Pferd herbei geschleppt. Zuerst schnitt der Henker ihr bei lebendem Leibe den Rüssel und einen Schenkel ab, die spiegelnde Strafe für ihr Verbrechen. Dann wurde sie an den hinteren Gelenken auf einer eigens dafür konstruierten hölzernen Gabel aufgehängt bis zum Eintritt des Todes. Anschließend wurde der Rumpf des Tieres auf ein Gitter gelegt. Ein Pferd zog mit dem Gitter einige Runden auf dem Platz, um die Sau dem Spott der Allgemeinheit preisgegeben. Zuletzt wurden die Teile des Tieres auf dem vorbereiteten Scheiterhaufen verbrannt. Was mit der Asche geschehen ist, darüber schweigen die archivalischen Unterlagen.
Die Artgenossen und -genossinnen, die Schweine, waren aus Gründen der Abschreckung und Erziehung zu dem Justizschauspiel geladen worden, die Eltern des Säuglings, ein Maurer und seine Frau, zur Ermahnung, besser auf ihre Kinder aufzupassen. Niemand kam auf die Idee, die Eltern des Säuglings oder den Eigentümer der Sau haftbar zu machen. Die Eltern waren genug gestraft durch den Tod des Kindes, der Eigentümer durch den Verlust des Tieres.
Wie im Mittelalter üblich, fand sich auch bei diesem Prozess eine genaue Kostenaufstellung in den Akten: neben den üblichen Gerichtskosten das Futter für die Sau während der Kerkerhaft und während des Prozesses, der – üppige – Lohn für den Henker und seine Knechte, die Materialkosten und der Lohn der Zimmerleute für die Aufstellung des Scheiterhaufens, Materialkosten und Lohn für die Schreiner, die die Holzgabel und das Gitter hergestellt hatten usw.. Gerechtigkeit war damals eine teure Angelegenheit, meint Pastoureau.
Pastoureau stieß bei seinen Recherchen auf mindestens sechzig aktenmäßig belegte Tierprozesse im spätmittelalterlichen Frankreich. Er weist aber darauf hin, dass Tierprozesse keine französische Spezialität waren. Man findet sie überall in West- und Mitteleuropa, in alpinen Gegenden häufiger als anderswo. Es gab durchaus Unterschiede bei der Vollstreckung der rechtskräftigen Urteile, unterschiedliche Todesarten je nach der Würde der jeweiligen Tierart: Rinder wurden bevorzugt geköpft, Schweine abgestochen, andere Tiere nach Fesselung oder Verstümmelung ersäuft, lebendig begraben oder lebendig verbrannt. Auch eine biblische Steinigung kam in Frage. Es gab regionale Unterschiede. Vorausgehende Verstümmelungen und öffentliches Anprangern gehörten aber überall zum rituellen Justizschauspiel, das dem Tod des Tieres durch Exekution und dem Scheiterhaufen vorausging.
Wie kam man im Mittelalter bloß auf die Idee, dass ein Tier strafrechtliche Verantwortlichkeit besitze, dass ein Schwein zwischen Recht und Unrecht, zwischen gut und böse unterscheiden könnte. Die hohe Theologie war nicht dieser Meinung. Sie betonte vor allem den Unterschied zwischen Tier und Mensch, der Mensch Ebenbild Gottes, und begründete damit die Abgrenzung zum Tier. Thomas von Aquin sprach dem Tier die Fähigkeit zum Abstrahieren ab. Sein Kollege Albertus Magnus ging nicht so weit, erkannte eine gewisse Denkfähigkeit höherer Tiere an, konnte sich aber auch nicht durchringen, ihnen die Unterscheidung von gut und böse zuzugestehen. Ausnahmsweise folgte die Masse der mittelalterlichen Theologen nicht diesen großen Vorbildern, sondern erblickte unter Berufung auf den Römerbrief des heiligen Paulus und unter Bezugnahme auf Aristoteles (de anima) in den Tieren verwandte Mitgeschöpfe, die eine Seele besitzen – und damit auch rechtlich verantwortlich waren. Mit scholastischer Gründlichkeit wurde diese These vertieft. So untersuchte man, ob die unsterbliche Seele der Tiere ins Paradies oder einen anderen Ort käme, wenn ja, alle Tierseelen oder nur ein Exemplar jeder Tiergattung. Letzt genannter Gedanke ist ein hoch interessanter Aspekt des mittelalterlichen Universalienstreits, von der Philosophiegeschichte bisher übersehen. Die in scholastischen Fragestellungen führende Institution des Abendlandes, die Universität Paris, diskutierte damals auch eifrig die irdischen Folgen der Theorie vom beseelten Tier: Darf man Tiere am Sonntag arbeiten lassen? Müssen Tiere die Fastenzeit oder bestimmte Fasttage einhalten? Die Aufklärung hingegen, ein paar Jahrhunderte später, sah in den Tieren nur mechanische Maschinen (Descartes). Die Moderne begrüßte natürlich diese aufklärerische These zur Ausnutzung, Ausbeutung und Verwertung der Tiere.
Ist die mittelalterliche Theorie vom beseelten Mitgeschöpf wirklich so lächerlich, wie es zunächst scheint? Ist sie nicht, trotz der geschilderten Justizexzesse, menschlicher, humaner als der theoretische Fortschritt der Aufklärung? Pastoureau stellt bewusst diese Frage.
Pastoureau weist noch auf einen anderen Aspekt hin: Im Mittelalter war es nötig, öffentlich zu demonstrieren, dass sich niemand und nichts der irdischen Gerechtigkeit entziehen kann. „Jedes Lebewesen ist Gegenstand des Rechts.“ Diese Auffassung Pastoureaus trifft den Nagel auf den Kopf. Im Mittelalter war nämlich die Gerichtsbarkeit der wichtigste Teil der Staatlichkeit einer Herrschaft. In kleineren Landeshoheiten wie den geistlichen Hochstiften Würzburg, Fulda und Bamberg oder wie in der gefürsteten Grafschaft Henneberg-Schleusingen war das Gerichtswesen sogar der einzige Aspekt der Staatlichkeit. Man gab Vorschriften und richtete über ihre Einhaltung. Deswegen die vielen Kleinkriege im Spätmittelalter wegen Streitigkeiten über die Gerichtsbarkeit! Alles andere, was heute so schön zum Staat gehört, zum Beispiel die viel gerühmte und hoch geschätzte Daseinsvorsorge, das war damals der privaten Initiative oder den mildtätigen religiösen Organisationen überlassen. Denkt man an die heutige Vorschriftenflut aus Brüssel oder Berlin, an die daraus resultierende Rechtsprechung, und hört man gleichzeitig den ständigen Schrei von Politikern und deren Klientel nach Privatisierung der Daseinsvorsorge, dann fühlt man den kühlen Schatten der mittelalterlichen Staatsauffassung. Vielleicht hat Umberto Eco Recht, wenn er ein neues Mittelalter prophezeit. Man sollte aber wissen, worauf man sich einlässt.

Übrigens: Falaise ist die Partnerstadt von Bad Neustadt an der Saale.

J.H.

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