Bei einer Diskussion in Paris kam die Rede auf Gerhart Hauptmann. Arnold Gehlen erinnerte sich an die Ausstrahlung des Dichters und berichtete, daß man sich erhob, wenn Hauptmann den Raum betrat. Ein jüngerer Gesprächsteilnehmer meinte grinsend: »Ich hätte mich nicht erhoben.« Gehlen antwortete: »Ich aber erhob mich . . .«
Wer jemals Arnold Gehlen, dem am 30. Januar 1976, einen Tag nach seinem zweiundsiebzigsten Geburtstag, verstorbenen Philosophen, Psychologen, Anthropologen, Soziologen, Kunstkenner und politischen Denker, begegnet ist, weiß, daß er einen überaus seltenen Typus verkörperte: den Gelehrten als Grandseigneur, wie er in Deutschland vielleicht nur alle Jahrhunderte einmal auftritt. Leibniz und die Brüder Humboldt gehörten dazu, auch Schelling und Schopenhauer – nicht von ungefähr hat sich der junge Gehlen mit diesen Denkern viel befaßt. Dieser halb wie ein preußischer Generalstabsoffizier, halb wie ein englischer Lord aussehende Deutsche studierte in den zwanziger Jahren bei Max Scheler und Hans Driesch. 1930 habilitierte er sich mit einer Schrift »Wirklicher und unwirklicher Geist«, deren Denkweise und Pathos den späteren Existenzialismus vorwegnahm, und 1933 legte er eine »Theorie der Willensfreiheit« vor, in der er die Leistungsfähigkeit transzendental-idealistischer Spekulation an einem der Hauptprobleme der klassischen Philosophie erprobte. Gehlen hatte, wie diese ersten Veröffentlichungen zeigen, das Zeug sowohl zu einem Existenzphilosophen als auch zu einem Dialektiker in der Tradition eines spekulativen Idealismus. Doch er wollte diesen Weg nicht beschreiten. Er räumte das Feld, als ihm bewußt wurde, daß diese Denkstile ihm auf die Dauer zu »leicht« fielen: Gegen rückhaltlosen Subjektivismus gibt es keine Argumente, und was die Dialektik anbelangt, so teilte der geborene Großbürger wohl Nietzsches Verdacht, daß mit ihr »der Pöbel obenauf kommt«. Von der Universitätsphilosophie wandte er sich der Anthropologie und schließlich der Institutionenlehre zu.
Ausgangspunkt des Gehlenschen Denkens über den Menschen ist der auf Herder zurückgehende Gedanke vom »Mängelwesen«. Der Mensch besitzt, zum Unterschied von den Tieren, weder spezialisierte Wahrnehmungs- und Verhaltensorgane noch eine intakte, ihn in eine bestimmte Umwelt einpassende Instinktausstattung. Um zu überleben, muß der Mensch dieses biologische Defizit durch kulturelle Leistungen ausgleichen. Gegen die »Reizüberflutung« von innen und außen, das ihn bedrängende Chaos von Eindrücken, Begierden und Orientierungsmöglichkeiten, setzt er die sein Dasein stabilisierende Grammatik der »Institutionen«. Die bedeutendste institutionelle Schöpfung des Menschen ist der Staat. Der Staat ist für Gehlen die bisher rationalste Gestalt sozialer Selbstbehauptung.
Der Mensch ist, wie Gehlen ausdrücklich sagt, »von Natur aus ein Kulturwesen«. Die Gesamtheit seiner phylogenetisch ererbten Verhaltensweisen ist gleichsam so »programmiert«, daß sie nur mit einem »Überbau« kulturell erworbener Verhaltensweisen zu funktionieren vermag. Unser Sprachhirn, zum Beispiel, ist in der Weise gebaut, daß es nur dann tätig werden kann, wenn ihm ein überaus kompliziertes System von Wortsymbolen zur Verfügung steht, das sich nicht genetischen Mechanismen verdankt, sondern von jedem Individuum in vieldimensionalen soziokulturellen Verfahren – durch Erziehung, Tradition, Kommunikation – angeeignet werden muß. In den Keimzellen des Menschen ist die Sprache, die der Mensch einmal sprechen wird, ebensowenig vorgeprägt wie sein religiöses Bekenntnis. Selbst wenn man versuchte, ein. genetisch gesundes neugeborenes Menschenkind so aufzuziehen und am Leben zu erhalten, daß ihm jeder Kontakt mit kultureller Überlieferung vorenthalten würde, so wäre das Ergebnis dieses grausamen Experiments nicht etwa der von zivilisatorischer Verfälschung befreite ursprüngliche »Urmensch«, sondern ein stumpfsinniger Krüppel. In Europa wurden in früheren Jahrhunderten gelegentlich solche armseligen Wesen aufgefunden, die fern von jedem menschlichen Umgang in den Wäldern überlebt hatten. Sie glichen einander in so hohem Grade, daß Linne sie für eine eigene Art hielt, die er als homoferus bezeichnete. Es waren dies zwergenhafte Kretins, völlig desinteressiert an allem, was um sie herum vorging, taktmäßig hin und her schwankend wie wilde Tiere im Zoo, unempfindlich gegenüber Eiseskälte und siedendem Wasser. Linne wollte nicht glauben, daß jene unglücklichen Kreaturen als gesunde Kinder geboren worden waren, denen nichts fehlte als der normale Umgang mit Menschen, in dem allein die menschlichen Anlagen entwickelt und geformt werden können. Sie waren im frühesten Alter ausgesetzt worden. Gehlen ist der deutsche Anti-Rousseau. Er wußte um die gefährliche Instabilität, Entartungsbereitschaft und Asozialität des »natürlichen« Menschen. Ohne ihn fordernde, formende, aber auch entlastende Institutionen, die stets ein hohes Maß an Willkürlichkeit, Zwang und Inappellablem enthalten, erliegt das Mängelwesen Mensch sehr schnell der Primitivisierung. Im Widerspruch zum Zeitgeist der sechziger und beginnenden siebziger Jahre forderte deshalb Gehlen: »Zurück zur Kultur! Denn vorwärts geht es offenbar in schnellen Schritten der Natur entgegen, da die fortschreitende Zivilisation uns die ganze Schwäche der durch strenge Formen nicht geschützten menschlichen Natur demonstriert!«
Gehlen hat diesen Ansatz in einem Streitgespräch mit Theodor W. Adorno im Jahre 1965 näher ausgeführt. Im Namen der Autonomie des Menschen kritisierte damals Adorno nicht nur bestimmte Institutionen, sondern die Institution als Institution selbst. Ihre »Fatalität« liege darin, »daß menschliche Verhältnisse und Beziehungen zwischen Menschen in ihnen sich selbst undurchsichtig geworden sind«. Ihr Wesen sei Zwang und Repression. Die Möglichkeit des Menschen verkümmerten dadurch, da jede Institution Anpassung und Unterordnung erheische, somit einen gegenemanzipatorischen Effekt habe. Gehlen hingegen betonte gegenüber Adorno, »daß die Institutionen Bändigungen der Verfallsbereitschaft des Menschen sind«, daß sie zwar auch die subjektive Freiheit beschränken, doch immerhin den Menschen vor sich selber schützen. Ausdrücklich nannte er Recht, Ehe, Familie und Eigentum »Bestände, die mit dem Menschen wesensmäßig zusammenhängen«. In unserem Jahrhundert sei bereits ungeheuer viel an institutioneller Kultur zerrieben und abgebaut worden: »Der Erfolg ist eine allgemeine innere Unsicherheit und das, was ich als subjektivistisch mit einem Minuszeichen versehe. Ich meine das innere Gewo-ge. Das wird jetzt laut, das ist die Öffentlichkeit. Und dagegen habe ich einen therapeutischen Standpunkt. Da bin ich doch dafür, daß man das, was an Institutionen da ist, nun auch – jetzt nehme ich das Wort ―: konserviert.« Auf den ersten Blick könnte man meinen, als stünde der freischwebende Marxist Adorno für das Glück und die Freiheit menschlicher Subjektivität, der konservative Anthropologe Gehlen hingegen für einen menschenverächteri-schen Pessimismus, der das Individuum der totalen Entfremdung durch die Institutionen überantwortet. Am Schluß des erwähnten Gesprächs plädierte freilich Adorno für die Verzweiflung als das eine, das not tut. Gehlen hingegen wandte ein, daß Adornos utopischer Radikalismus den Menschen maßlos überfordere und ihn sogar mit dem bißchen unzufrieden mache, was uns nach all den Katastrophen noch in den Händen geblieben sei. Diese Denkweise und Haltung – niedergelegt in den Büchern »Der Mensch« (seit 1940 immer wieder neu aufgelegt), »Die Seele im technischen Zeitalter« (1957), »Urmensch und Spätkultur« (1956), »Moral und Hypermoral« (1969) sowie in einigen Essay-Bänden – haben liberale und spätmarxistische Intellektuelle als biologistisch, faschistisch und elitär denunziert. Gehlen hat in der Republik der Preisverleihungen keinen einzigen Orden, keine Auszeichnung und keine Berufung an eine große Universität erhalten. Er lehrte nach dem Kriege in Speyer und dann – bis zu seiner Emeritierung – an der Technischen Hochschule in Aachen. Ihn hat diese Einsamkeit nicht verbittert. Er war ein kultivierter Mann, ein Herr mit dem Wirklichkeitsverständnis eines unsentimentalen, skeptischen Konservativen. Er spielte sich nicht zum »Gewissen der Nation« auf, und er hatte auch nicht die Absicht, den Agitator einer »Tendenzwende nach rechts« zu spielen. Wenn man ihn gelegentlich nach seiner Meinung über irgendwelche spektakulären politischen Ereignisse fragte, über die alle redeten, dann pflegte er mit Vorliebe zu antworten: »Ich kann Ihnen dazu nichts sagen, ich habe darüber nur in der Zeitung gelesen.« Er sagte lieber einmal zuviel »ich weiß es nicht«, als daß er sich den Wonnen der heute so penetranten Moralappelle, Schwungradvorstellungen und volkspädagogischen Utopismen hingab. Als er kurz vor seinem Tode über seine Meinung zum Thema Konservatismus in Deutschland gefragt wurde, meinte er: »Hitler hat ihn geächtet. Es ist sehr schwer, ihn jetzt wieder irgendwie zur Geltung zu bringen, wenngleich ich glaube, daß sich einige Anzeichen in dieser Richtung geltend machen. Der Konservative hat keine Ideologie. Es widerstrebt ihm, seine Ahnenbilder zu verramschen. Auch ist das, was man jetzt Fortschritt nennt, nur zu oft die Vernichtung von Einrichtungen mit bekannten Fehlern zugunsten von neuen Einrichtungen mit noch unbekannten Fehlern, die sich dann meistens sehr schnell herausstellen. Ideologen sind weltfremd. Sie sehen die Realitäten nicht. Aus diesem Grunde hat der Konservative heute Chancen. Und schließlich darf ich offen sagen: Ich verachte Praktiken, welche bestehende Einrichtungen – sei es Familie, sei es Staat, sei es Militär, sei es Kirche oder was immer – nur am Ideal messen. Am Ideal gemessen macht jede Einrichtung und jeder Mensch eine schlechte Figur.«
In seinem letzten Buch »Einblicke«, das einige Monate vor seinem Tode er
schien, stehen folgende Sätze, die als das Vermächtnis dieses Philosophen hin
ter der Maske des Sozialwissenschaftlers, anthropologischen Realisten und
konservativen Skeptikers verstanden werden müssen:
»Man kann seine Würde behalten, wenn man das stützt, was über Wasser ge
halten werden muß, ich meine die historische und die gesellschaftliche Tradi
tion, denn sonst sind wir Opportunisten, und dazu armlose. Wir haben auch
noch Zähigkeit nötig, und nicht zuletzt eine endlose Geduld in der auszehrend
sten und zweideutigsten, ja verlogensten Kultur, die es je gab, in der die drän
gelnden Karrieremacher reihenweise ins Nichts versinken. Und endlich Wach
samkeit, denn die Barbaren sind mitten unter uns. Das ist es, was ich zu sehen
glaube und zu sagen verantworten kann.«
(1976)