HANS JAKOB CHRISTOFFEL VON GRIMMELSHAUSEN

Aus der Flut der heute vergessenen, nur noch von Fachgermanisten und Kulturhistorikern gelesenen Romane des deutschen Barock ragt der »Abenteuerliche Simplizius Simplizissimus« als ein einsamer Gipfel heraus. Der Name seines Autors wurde erst im neunzehnten Jahrhundert entdeckt: Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen. Er selbst hat nämlich die Leser mit einer Fülle von Pseudonymen zum Narren gehalten. Grimmeishausens Herkunft verliert sich im Dunkel; wir wissen nicht einmal genau, wann er geboren wurde. Zur Welt kam er um das Jahr 1621 im fränkisch-hessischen Grenzgebiet, in Gelnhausen, jenem Städtchen also, das später durch Clemens Brentanos Märchen von Gockel, Hinkel und Gackeleia berühmt wurde. Es heißt, daß Grimmelshausen von verarmten Adeligen abstamme; sein Vater war Bäcker. Der rothaarige Junge wurde streng protestantisch erzogen. Doch schon bald geriet er in die Wirren des Dreißigjährigen Krieges, der damals Deutschland verwüstete. Er war nacheinander Pferdeknecht, Troßbube, Musketier, Schreiber, Sekretarius, Gutsverwalter, Schankwirt, Burgvogt und schließlich Schultheiß des Straßburger Erzbischofs in der kleinen Schwarzwaldstadt Renchen. Er konvertierte – wie sein Zeitgenosse Johannes Scheffler, genannt Angelus Silesius – zum Katholizismus, heiratete in Offenburg und wurde Vater von zehn Kindern. Als er im August 1676 starb, hätte er es sich gewiß nicht träumen lassen, daß er dereinst zu den größten Gestalten der deutschen Literatur gezählt werden würde. Walter Muschg, der sehr bedeutende schweizer Germanist, nennt Grimmelshausen ohne Vorbehalt den größten deutschen Dichter zwischen Luther und Goethe, und ähnlich urteilt auch Josef Nadler in seiner monumentalen Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. Nadler vergleicht Grimmelshausen mit Wolfram von Eschenbach, Rabelais und Jean Paul.
Grimmelshausen hat trotz seines bewegten Lebens, das ihn in die verschiedensten Gegenden Deutschlands verschlug, überaus viel geschrieben: utopische, satirische, höfische und religiöse Schriften, auch eine Verteidigung der Rothaarigen, den Bericht einer Reise zum Mond und einen »Keuschen Joseph«. Doch einzig im »Simplizius Simplizissimus«, dessen Urfassung 1669 erschien, hat er weltliterarischen Rang erreicht. Dieser Roman verkörpert Kern und Krone der langen Reihe seiner Schriften, deren erste Gesamtausgabe in Nürnberg 1683-1685 verlegt wurde. Der »Simplizissimus« ist Autobiographie, Abenteuer-, Kriegs-, Bildungs- und Schelmenroman, Zeitgemälde und, wie Wolframs »Parzival«, auch ein zutiefst religiöses Epos, der Versuch einer Deutung des menschlichen Lebens und seines Sinns, ein alle Sphären der Welt spiegelndes Kunstwerk von ungeheuren Ausmaßen, in dem sich Diesseits und Jenseits, Geschichte und Übergeschichte, Realismus und Mystik verschlingen. Grimmelshausen stellt seinen Helden in das Getriebe des von Krieg, Mord und anderen Greueln zum Himmel schreienden siebzehnten Jahrhunderts, jenes gekreuzigten Jahrhunderts, das man aus unserer Perspektive als ein Vorspiel des zwanzigsten bezeichnen kann. Simplizissimus, der einfältige Tor, wächst im tiefsten Spessart auf. Landsknechte überfallen den elterlichen Hof. Der Knabe flieht und begegnet im Walde einem Einsiedler, der ihn in der Religion unterweist sowie lesen und schreiben lehrt. Simplizissimus gerät aus der Waldeinsamkeit unter die Furien des Krieges, er wird Page, Junker und mit den Soldaten herumziehender Narr. Er wird von Kroaten geraubt, stößt dann zu den kaiserlichen Truppen, macht eine militärische Karriere. Er kämpft, wird schwer krank, gerät unter marodierende Briganten, heiratet zweimal, verliert sich wieder in den Wirren des Krieges, erlebt in der friedlichen Schweiz seine Bekehrung, reist um die Welt, begegnet Sylphen und Feen, dringt zum Mittelpunkt der Erde vor, kommt nach Moskau, China und Japan, schlägt sich als Wunderdoktor, Geisterbeschwörer, Gaukler, Schatzgräber, Kalendermacher und Marktschreier durch, kehrt über die Ostindischen Inseln, Ägypten, Konstantinopel und Italien nach Deutschland zurück, verzichtet schließlich, nachdem er menschliche Niedertracht und Narretei voll ausgekostet hat, auf Ruhm, Ehre und menschliches Glück und zieht sich als Eremit in die Abgeschiedenheit des Schwarzwaldes zurück. Am Ende stehen Abkehr, Entsagung, das christlich-barocke Vanitas-Motiv, die Einsicht des alttestamentlichen Kohe-let: »Eitel, Eitelkeit, ’s ist alles eitel«, der mittelalterliche Gedanke vom Trug der »Frau Welt«, oder in des Simplizissimus eigenen Worten: »Dein Leben ist kein Leben gewesen, sondern ein Tod, deine Tage ein schwerer Schatten, deine Jahre ein schwerer Traum… Adieu Welt, denn auf dich ist nicht zu trauen, von dir nichts zu hoffen«. Und: »Woraus zu sehen ist, daß Unbeständigkeit allein beständig sei sowohl in Freud‘ und Leid«.
Der Mensch, der sich selbst und nur aus sich selbst leben will, endet in Nichtigkeit, Leere und Wahn. Das ist die zeitlos-übergeschichtliche Einsicht, die hinter der abgründigen Fülle der Gestalten, Szenen und Abenteuer dieses Romans im Horizont des Dreißigjährigen Krieges aufblitzt. Der heißblütige, wie Faust von der Welt der Magie faszinierte, um das Dämonische wissende, von drängender Weltlust und mystischem Zuge ins Weltlose seltsam heimgesuchte Fabulierer Grimmelshausen ist, wie jeder große Dichter, ein tiefblickender Anthropologe. Wenn wir ihn gelesen haben, wissen wir mehr über den Menschen – über uns selbst. Wie die größten Dichtungen der Weltliteratur lebt der »Simplizissimus« von den Wirkungen stimmungsvoller Gegensätze. Die Tonleiter der Seele ist nach unten bis ins kaum Wahrnehmbare, nach oben ins Schmerzlich-Unerträgliche erweitert, ein Ablauf und Wechsel und Reichtum der Empfindungen, der seinesgleichen nicht hat: von Grauen, Entsetzen und blutiger Roheit, von Tod und Teufel bis ins selig Magische, ins Paradiesische sich übersteigend, wo die Romanlandschaft im Nu kosmische Ausblicke gewährt und unter Sternen die Nachtigall Gottes Lob singend vollbringt.
»Ruhm ist Mitgedachtwerden, wenn an ein ganzes Volk gedacht wird«. Dieses
Wort von Wilhelm Raabe gilt auch für den fränkisch-alemannischen Dichter
des »Simplizius Simplizissimus«, der sich freilich über die Unbeständigkeit des
Ruhms keine Illusionen gemacht hat und, nach den Maßstäben seiner poetisierenden Zeitgenossen, gar kein Dichter gewesen ist.

(1976)