Jesus, wie er nicht in der Bibel steht
Unter den „Apokryphen“ versteht man Bücher, die in Form und Inhalt den biblischen Schriften gleichen, jedoch nach kirchlicher Tradition nicht zum Kanon gehören. Einige dieser außerbiblischen Werke, die durchweg beanspruchen, von einem Propheten oder Apostel zu stammen, zirkulierten in den ersten Jahrhunderten nach Christus als Geheimbücher insbesondere in gnostischen Kreisen. Daran erinnert auch der griechische Ausdruck: „apokryphos“ heißt verborgen. Doch andere Schriften dieser Art waren ganz und gar nicht esoterisch ausgerichtet, sondern erfreuten sich durch lange Zeit einer ungeheuren Popularität. Die Grenze zwischen der außerhalb der Bibel verbliebenen Literatur und den ausdrücklich als für von Gott inspiriert gehaltenen Schriften war jahrhundertelang schwankend; sie wurde erst im vierten und beginnenden fünften Jahrhundert von der Kirche gezogen. Manche Werke, die heute zum Neuen Testament gezählt werden, wie die Offenbarung Johannes, galten anfänglich als zweifelhaft; andere genossen normativen Rang, wurden jedoch später aus dem Kreis der für heilig gehaltenen Bücher ausgeschlossen. Die evangelische Kirche kennt bekanntlich, übereinstimmend mit den Juden, nur 39 alttestamentliche Schriften; die Katholiken hingegen anerkennen 45 Bücher. Ausdrücklich erklärte das Konzil von Trient die von Luther und den anderen Reformatoren für apokryph angesehenen „deuterokanonischen“ Teile des Alten Testament für geoffenbart. Wer meinte, daß diese Fragen nur für Fachtheologen bedeutungsvoll seien, würde irregehen. Manche uns durch zahllose Gemälde und andere Kunstwerke geradezu sprichwörtlich bekannte Gestalten der altjüdischen Heilsgeschichte stammen aus den Apokryphen, so Judith und Holofernes, Tobias und der Erzengel Raphael, die keusche Susanna im Bade, desgleichen die von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle dargestellten Sibyllen.
Noch einflußreicher auf Kunst, Dichtung, Legende, Brauchtum und Kult der Christenheit waren jahrhundertelang einige der zahllosen Apokryphen zum Neuen Testament: nicht in den Kanon aufgenommene, aber unter dem Namen von Aposteln und Evangelisten umlaufende Berichte über Jesus, Maria und Joseph, die Abenteuer und Leiden seiner Jünger, pseudobiblische Briefe, Romane und Apokalypsen.
In diese Welt versetzt uns eine umfangreiche und hervorragend kommentierte Anthologie des Manesse Verlags, die Alfred Schindler herausgegeben hat. Sie enthält ganz oder auszugsweise einige der vielen Evangelien, Apostelgeschichten und anderen Heiligkeit beanspruchenden Schriften, die nicht in die Bibel aufgenommen worden sind. Der Band bietet nur einen Bruchteil des apokryphen Schrifttums, das fast Jahr für Jahr durch neue Funde vermehrt wird und nachgerade sogar für Archäologen und Orientalisten unüberblickbar wird. Erwähnt seien in diesem Zusammenhang insbesondere die in einer Höhle nahe dem Toten Meer entdeckten Qumranschriften und die fast gleichzeitig bei Nag Hammadi in Oberägypten gefundenen Papyrusrollen.
Streckenweise wiederholen diese pseudobiblischen Bücher die uns aus dem Neuen Testament vertrauten Berichte. Vieles aber wirkt auf den kirchlich geprägten Christen überaus neu, erstaunlich und bisweilen sogar schockierend. Anderes wieder kennen wir aus Kunstgeschichte und volkstümlicher Überlieferung, ohne daß uns im allgemeinen bewußt ist, daß es sich dabei um apokryphe Reminiszenzen handelt Die unzähligen Selb-drittbilder, auf denen die Madonna mit ihrer Mutter Anna dargestellt ist; die das Weihnachtsgeschehen in einer Grotte zeigenden Ikonen; die alpenländischen Krippen mit Ochs und Esel als ersten Verehrern des neugeborenen Jesus; das Schweißtuch der Veronika; der Abstieg des Heilands in die „Vorhölle“ zwecks Befreiung der dort das Paradies erharrenden Gerechten des Alten Bundes; die insbesondere auf süddeutschen, österreichischen und italienischen Altargemälden gefeierte Himmelfahrt Mariens ― für all dies gibt es in der Bibel selbst keine Grundlagen oder Indizien, wohl aber in den neutestamentlichen Apokryphen.
Wer sich in die Apokryphen einläßt und einliest, wird darin noch viele andere verblüffende Einzelheiten finden, über die sich die kirchlich autorisierten Evangelien ausschweigen. Während der biblische Jesus nichts geschrieben hat, berichten die Apokryphen von einem Briefwechsel zwischen ihm und König Abgar V. von Edessa. Desgleichen ist eine insgesamt vierzehn Episteln umfassende Korrespondenz zwischen dem Heidenapostel Paulus und dem stoischen Philosophen Seneca überliefert. Daß Maria ihre Kindheit im Tempel zu Jerusalem verbracht habe, „wie eine Taube gehegt und ihre Speise aus der Hand eines Engels empfangend“, erzählt das sogenannte Protoevangelium des Jakobus. Sein Verfasser ist vorgeblich ein Bruder Jesu. Das Kindheitsevangelium des Thomas wiederum schildert alles andere als eine in idyllischer Verborgenheit lebende Heilige Familie. Der junge Christus erscheint uns hier, ganz ungewohnt, als hemmungsloser Trotzkopf, Zornbengel und Wüterich, der seine Eltern beinahe zur Verzweiflung bringt. Wer so unglücklich ist, seinen Ärger zu erregen, stirbt auf der Stelle. Er ist sehr verspielt, rechthaberisch und anmaßend, in den Schulen ein alle Lehrer terrorisierender Taugenichts und auch sonst ein Geselle, mit dem nicht gut Kirschen essen ist. Wunder schüttelt bereits der fünfjährige Jesusknabe aus dem Ärmel. So bildet er aus Lehm zwölf Sperlinge, die dann auf sein Händeklatschen davonfliegen.
Von vielen anderen seltsamen Dingen ist in den Apokryphen noch die Rede, so etwa davon, daß der Evangelist Lukas ein Maler gewesen sei; daß manche Christusporträts (von denen sich eines im Vatikan befinden soll) ohne menschlichen Handgriff zustande gekommen seien; daß Paulus durch seine Predigt einem Manne dessen Braut abspenstig gemacht habe; daß Petrus mit dem Zauberer und Erzketzer Simon Magus auf dem Forum in Rom gerungen habe und mit dem Kopf nach unten gekreuzigt worden sei. Am aufregendsten sind naturgemäß jene Aussprüche Jesu, die sich nur in den Apokryphen finden. Einer lautet zum Beispiel: „Wer mir nahe ist, ist dem Feuer nahe.“ Einen andern führt das Thomas-Evangelium an: „Spaltet ein Holz ― ich bin dort Hebet einen Stein hoch ― ihr werdet mich dort finden.“ Ein im Islam kursierendes Jesuswort ließ der Großmogul Akbar an der Moschee in der Nähe von Agra anbringen: „Die Welt ist eine Brücke. Geht über sie hinüber, aber laßt euch nicht auf ihr nieder.“
Neben religiöser Kolportage und absonderlichen Mirakelgeschichten finden sich herzergreifende Legenden, märchenhafte Reiseberichte, psalmengleiche Gebete und tiefsinnige Herrenworte. Die Verwandtschaft mancher Schriften mit dem spätantiken Roman ist ebenso evident wie das Nachwirken vieler ihrer Motive in der mittelalterlichen Legende, vor allem bei Jacobus von Voragine, aber auch in Dantes Jenseitsvorstellungen, in der Malerei von der Gotik bis zu den Nazarenern, zuletzt noch bei Dichtern wie Selma Lagerlöf („Christuslegenden“) und Peter Hille („Das Mysterium Jesu“).
Der direkte historische Zeugniswert der Apokryphen ist gering; es ist kaum anzunehmen, daß sie authentische Nachrichten über Jesus, seine Familie und die Apostel enthalten. Um so größer ist hingegen ihr mittelbarer Wert, da sie uns Aufschlüsse über die tatsächlichen Glaubensformen und Frömmigkeitsstile in nachneutestamentlicher Zeit vermitteln.
(1988)