Eine Urform religiösen Denkens
Gnosis“ ist ein griechisches Wort, das einfach „Erkenntnis“ bedeutet. Im heute üblichen Sprachgebrauch versteht man darunter religionsphilosophische Geheimlehren, die, einer Elite vorbehalten, sowohl rechtgläubig-orthodox als auch „ketzerisch“ sein können. Wahrscheinlich gibt es kaum eine Religion, in der sich nicht irgendeinmal eine esoterische Gnosis herausgebildet hat.
Clemens von Alexandrien, Meister Eckhart, Jakob Böhme und Wladimir Solowjow waren christliche Gnostiker; die Kabbala kann man als jüdische, den Sufismus ― wenigstens zum Teil ― als islamische Gnosis ansehen. Ebenso weist der altchinesische Taoismus, verglichen mit der praktisch-nüchternen Lehre des Konfuzius, ausgesprochen gnostische Züge auf. Daß neben einer häretischen Gnosis, die das Christentum naturgemäß verwerfen muß, auch eine rechtgläubige, „orthodoxe“ Gnosis möglich ist, haben Georg Koepgen, Leopold Ziegler und Frithjof Schuon mit Nachdruck hervorgehoben. Für einen Clemens von Alexandrien war es noch evident, daß Gnosis als solche keineswegs mit Ketzerei oder gar Abfall vom Christentum gleichgesetzt werden dürfe. Mit einem kühnen Wort nannte er in seinen „Stro-mateis“ die christliche Religion „die wahrste Gnosis und die beste Häresie“, wobei Gnosis, wie bereits gesagt, Erkenntnis bedeutet und Häresie“ (griechisch: Hairesis) ursprünglich die erwählte, die auserlesene und von andern sich absondernde Meinung. Das Elend der heutigen Theologie besteht nicht zuletzt darin, daß sie für diese Zusammenhänge blind ist und fälschlicherweise Gnosis regelmäßig mit Irrlehre gleichsetzt.
Insbesondere ist jedoch „Gnosis“ (oder besser: „Gnostizismus“) eine zusammenfassende Bezeichnung für eine Fülle spätantiker Lehren und Bewegungen, die eine Zeitlang mit dem jungen Christentum rivalisierten, im zweiten Jahrhundert ihre Blütezeit hatten und dann der erstarkenden Kirche zum Opfer fielen. Damit hängt auch die für die Forschung bis in unser Jahrhundert hinein unbefriedigend gewesene Quellenlage zusammen. Fast alles, was wir noch bis vor kurzem über den Gnostizismus wußten, verdankte sich Streitschriften der ihn bekämpfenden Kirchenväter, vor allem des Justinus, Irenäus und Epiphanius von Salamis.
Erst durch die Entdeckung mandäischer und manichäischer Handschriften, die Funde in Kumran am Toten Meer und insbesondere in der Wüste nahe der ägyptischen Kleinstadt Nag Hammadi, wo 1945/46 eine ganze gnostische Bibliothek ausgegraben wurde, können wir die oft sehr einseitigen Aussagen der christlichen Ketzerbekämpfer überprüfen und ergänzen. Seither wissen wir auch, daß der Gnostizismus mehr als bloß eine Häresie innerhalb oder am Rande der Kirche war. Er stellt ein religionsgeschichtliches Phänomen für sich dar, eine bestimmte metaphysische Grundhaltung, die sich mit den unterschiedlichsten Konfessionen verbinden und grundsätzlich immer wiederkehren kann.
Kern aller gnostizistischen Systeme und Bewegungen ist der Gedanke von Absturz und Wiederaufstieg des in die Materie verbannten göttlichen „Seelenfunkens“. Gott und „Seelengrund“ (das Pneuma) sind wesenseins. Es geht somit letzten Endes nicht um die Erlösung des Menschen, sondern um die Selbsterlösung Gottes. Indem die im Universum verstreuten Lichtspuren gesammelt und in ihre himmlische Urheimat zurückgebracht werden, kommt es zur Reintegration der Gottheit. Daß mit einer solchen Heilslehre ein starker Pessimismus gegenüber der als dämonisch angesehenen Welt einhergeht, versteht sich von selbst. Der biblische Schöpfergott erscheint deshalb folgerichtig nicht als der höchste und gute Gott, sondern als Pfuscher, als unfähiger Stümper, wenn nicht gar als Satan. Deshalb verehren manche gnostizistische Gruppen ausdrücklich jene Gestalten des Alten Testaments, die sich gegen Jahwe erhoben haben: die Schlange im Paradies, Kain und andere.
In diese seltsame Geisteswelt führen den interessierten Leser die drei Bände „Die Gnosis“, die der Artemis Verlag zwischen 1969 und 1980 herausgebracht hat. Sie werden, das wird jeder Kenner bestätigen, noch für Jahrzehnte die Grundlage ernsthafter Beschäftigung mit einem der merkwürdigsten geistigen Phänomene im Grenzgebiet zwischen Mythos, Theologie, Philosophie und Esoterik bilden. Denn sie machen uns Quellen zugänglich, die der älteren Gnosis-Forschung noch nicht bekannt waren.
Ergänzend sei noch verwiesen auf Wolfgang Schultz‘ „Dokumente der Gnosis“, zuerst 1910 erschienen und 1986, erweitert durch Essays von Georges Bataille und Henri-Charles Puech, neu vom Matthes & Seitz Verlag vorgelegt. Für den Laien ist nach wie vor auch Hans Leisegangs Darstellung „Die Gnosis“, seit ihrem ersten Erscheinen im Jahre 1924 wiederholt neu aufgelegt, ein brauchbarer Kursus.
Die uns nunmehr vorliegenden Urkunden zwingen uns, die Gnosis als eine eigenständige, wenngleich auch überaus vielschichtige und vieldeutige Möglichkeit menschlicher Weltdeutung und Transzendenzerfahrung anzuerkennen. Sie ist älter als das Christentum und läßt sich auch in Gebieten nachweisen, die von christlicher Missionierung nur oberflächlich oder gar nicht erreicht wurden. Und wenigstens in einem Fall, nämlich dem der Manichäer (benannt nach dem im dritten Jahrhundert wirkenden Babylonier Mani), gelang einer gnostischen Lehre sogar der Aufstieg in den Rang einer Weltreligion. Sie hatte Anhänger in Südeuropa, Nordafrika, Kleinasien, Armenien, Mesopotamien, Iran und schließlich auch in China, wo der Manichäismus bis ins vierzehnte Jahrhundert hinein zu überleben vermochte. Im Uigurenreich war die Lehre Manis bis zum Untergang durch die Kirgisen sogar Staatsreligion. Und noch heute leben am unteren Euphrat und Tigris einige tausend Mandäer, deren Ursprünge sich bis in die Zeit des Urchristentums zurückverfolgen lassen; manche halten diese gnostische Sekte für Nachkommen der Jünger Johannes des Täufers.
„Gnosis“ bedeutet: Erkenntnis. Ihre verschiedenen Schulen versuchen, wie es in einem fast zwei Jahrtausende alten Bruchstück heißt, folgende Fragen zu beantworten: „Wer waren wir? Was sind wir geworden? Wo waren wir? Wohinein sind wir geworfen? Wohin eilen wir? Wovon sind wir befreit? Was ist Geburt? Was Wiedergeburt?“ Bereits diese wenigen Worte machen klar, daß Gnosis nicht nach Erkenntnis im Sinne des sogenannten gesunden Menschenverstandes oder der neuzeitlichen Naturwissenschaften trachtet. Eine tiefe Sehnsucht nach Erlösung, Sinn und Heil gibt sich in ihr kund, ein quälendes Leiden an der Begrenztheit, Bedürftigkeit und Chaotik des Lebens in dieser Welt. Das uns von Hegel, Marx, Bloch und anderen so vertraute Wort „Entfremdung“ wird in der spätantiken Gnosis zum erstenmal laut. Ebenso gehört die durch Heidegger in die Existenzphilosophie eingeführte Kategorie „Geworfenheit“ zu den zentralen Begriffen gnostischen Weltverständnisses.
So verschieden die mythischen und religiösen Quellen sind, von denen die zahlreichen gnostischen Systeme sich inspirieren lassen, so mannigfaltig erweisen sie sich auch in ihrer Symbolik und literarischen Einkleidung. Neben abstoßendem Aberglauben, primitiver Magie und ermüdender Zahlenmystik finden sich Perlen visionärer Poesie, philosophischen Tiefsinns und ergreifender religiöser Sehnsucht. Asketische Leibverachtung bezeugt sich neben krassester Libertinage. Immer wieder tauchen alle möglichen himmlischen und dämonischen Wesen auf, von denen man nicht recht weiß, ob es sich dabei um blasse Allegorien, phantastische Imaginationen oder spekulative Begriffe handelt
Die Christus-Gestalt, die in manchen Gnosen erscheint, hat wenig gemeinsam mit dem Mann aus Nazareth, wie ihn die synoptischen Evangelien schildern. Er gilt nicht als „das Fleisch gewordene Wort“, das durch seinen Opfertod am Kreuze die Gläubigen erlöst Der gnostische Christus ist eher eine leidensunfähige Lichtgestalt, eine von den vielen Emanationen des Urgrundes, ein Herold esoterischer Selbsterkenntnis. Manche Gnostiker wie Markion leugnen auch, daß er mit dem alttestamentlichen Schöpfergott überhaupt etwas zu tun habe. Andere setzen ihn mit der Schlange im Paradiese gleich, welche den Menschen zu Recht versprochen habe, sie würden einst sein wie Gott.
Anderswo heißt es, daß auf Golgatha nicht Jesus gekreuzigt wurde, sondern statt seiner Simon von Kyrene. Es gibt auch ein nicht in die Bibel aufgenommenes apokryphes Evangelium, dessen Verfasser ein Gnostizist war. Es berichtet von einem tanzenden Christus. Gemeinsam mit seinen Jüngern habe der Gottessohn auf dem Ölberg einen heiligen Reigen getanzt:
„Mehrmals wenn ich mit Christus wanderte, wollte ich schauen, ob seine Fußspur sich auf der Erde abzeichnete. Ich vermochte sie nicht zu entdecken. Und noch etwas will ich euch berichten, o meine Brüder, damit euer Glaube an Ihn bestärkt werde. Bevor Er von den Juden gefangen wurde, versammelte Er uns alle und sprach: ,Wir wollen unserm Vater Lobgesänge anstimmen, und dann unserm Schicksal entgegen gehen.‘ Und nachdem Er uns befohlen hatte, einen Kreis zu bilden und einander fest an der Hand zu halten, begab Er sich in die Mitte und fing an zu singen: ,Ehre sei dir, o Vater, Ehre sei dir, o Wort, Ehre sei dir, o Heiliger Geist. Ich will gerettet werden, und ich will retten. Ich will erlöst werden, und ich will erlösen. Ich will verwundet werden, und ich will verwunden. Ich will geboren werden, und ich will gebären. Ich will essen, und ich will gegessen werden. Ich will ganz Gedanke sein, und ich will ganz gedacht werden. Ich will gewaschen werden, und ich will waschen. Die Gnade führt den Reigen, und ich will Musik machen. Tanzt alle den Reigen! Ich will forteilen und ich will bleiben. Ich will anbeten und ich will angebetet werden. Ich will geeint sein und ich will vereinen … Ich bin dir ein Spiegel, der du mich erkennst. Ich bin dir eine Tür, der du bei mir anklopfst. Ich bin dir ein Weg, der du wanderst. Entdecke dich selbst in mir, der ich spreche. Und wenn du gesehen hast, was ich vollbringe, dann versiegle meine Geheimnisse in undurchdringlichem Schweigen. O du, der du tanzest, verstehe gut mein Werk!… Wer bin ich? Du wirst es wissen, wenn ich fortgegangen sein werde. Was ich jetzt zu sein scheine, das bin ich nicht. Was ich in Wahrheit bin, wirst du sehen, wenn du kommen wirst. Wenn du das Leiden gekannt hättest, wärest du jetzt fähig, leidlos zu sein. Kenne daher das Leiden; dann wird es dir gegeben sein, nicht mehr zu leiden. Ich will in ein und demselben Rhythmus schwingen mit allen heiligen Seelen. Erkenne in mir das ewige Wort der Weisheit!‘
Nachdem der Herr so mit uns getanzt hatte, trat er aus dem Kreis, und wir zerstreuten uns wie verträumt in den Straßen.“
Das ist, trotz einiger wörtlicher Anklänge an das Johannes-Evangelium, ein völlig anderer Christus als der uns aus den Passionsberichten des Neuen Testaments vertraute Schmerzensmann im Garten Getsemani inmitten seiner schnarchenden Jünger, von denen ihn einer kurz darauf verrät und ein anderer verleugnet. Der gnostizistische Christus schwitzt nicht Blut. Er empfindet keine Todesangst. Er fleht nicht in tiefer Verlassenheit: „Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst!“ Der gnostizistische Christus tanzt mit den Jüngern und versetzt sie in einen träumerischen Zustand. Er erinnert eher an Dionysos oder manche vorderasiatische Götterjünglinge von der Art des Tammuz, Attis, Adonis und Endymion als an das gekreuzigte „Lamm Gottes“ der Bibel. Auch wenn er wie ein Mensch unter Menschen wandelt, so können wir ihn doch kaum als unseren Bruder ansehen. Er gleicht mehr einem phantasmagorischen Äonenwesen als dem Sohne Marias, wie ihn die christliche Überlieferung kennt. Der gnostizistische Christus ist, wie der theologische Fachausdruck lautet, ganz und gar „doketisch“. Das Wort stammt vom griechischen „dokein“, das „scheinen“, „auf Anschein beruhen“ bedeutet. Christus sei demnach nur scheinbar Mensch geworden, sein Körper war ein Scheinleib, ein Trugbild, ein Phantom. Deshalb könne er auch gar nicht Schmerz erlitten haben. Der Christus des von der Kirche als Ketzerei verworfenen Gnostizismus ist ein im strengsten Sinne des Wortes „apathisches“ Wesen, unfähig zu Leid und Mitleid.
Auf einem andern Blatt steht freilich, daß von der Gestalt Christi, wie sie in manchen apokryphen Evangelien gezeichnet wird, eine außerordentliche Faszination ausgeht. Das gilt vor allem für die Vision des kultischen Abschiedsreigens, die vielleicht dem Dichter Stefan George gegenwärtig war, als er dem Herrn folgende Worte in den Mund legte (Das Neue Reich. Berlin 1928):
Des Sohnes banner mag im erdrund siegend wehn
Äonenlang sein Sinnbild ob den Völkern stehn
Eh wer des bundes fülle schaut: den Christ im tanz.
„Christ im tanz“ als festliche Formel höchster Harmonie ― hierin folgt Stefan George seherisch einem Bild frühchristlicher Gnosis, was, so viel mir bekannt ist, noch keiner seiner Ausleger bemerkt zu haben scheint.
Wie dem auch sei, in den von der Kirche für nicht kanonisch gehaltenen Schriften der ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung findet sich manches, das denjenigen, der die dafür notwendige religiöse „Musikalität“ hat, auch nach fast zweitausend Jahren anzusprechen vermag, Ich erwähne das kurze Gebet aus einem nur fragmentarisch erhaltenen „Evangelium der Eva“, das höchstwahrscheinlich aus dem zweiten Jahrhundert stammt:
Ich bin du,
Und du bist ich,
Und wo du bist,
Da bin auch ich,
Und bin in allem ausgesät.
Und wenn du willst,
So sammelst du mich;
Wenn du mich aber sammelst,
Sammelst du dich selbst.
Das sagt Christus „auf einem hohen Berge“ zu dem sich ihm nähernden Jünger. „Ich bin du, und du bist ich“ ― das ist, in beinah volksliedhaft innigen Tönen, die erzgnostische Botschaft der letztinnigen Einheit und Wesensgleichheit von göttlichem Urgrund (kosmisch-überkosmischem Christus) und erleuchtetgeläuterter Menschenseele.
Auch das „Lied von der Perle“, das sich in den gnostischen „Thomasakten“ findet, ist eine ergreifende, ja herzbewegende Dichtung: ein philosophisches Märchen, würdig eines Novalis. Manche Spekulationen des Valentinos, der im zweiten nachchristlichen Jahrhundert lebte und fast Bischof von Rom geworden wäre, nehmen bereits die Dialektik Hegels vorweg. Ein Lyriker vom Range Alfred Momberts ließ sich davon bezaubern. Auch Theodor Däubler, den Schöpfer des Epos „Das Nordlicht“, hat man als Gnostiker angesprochen; desgleichen den von Schopenhauer beeinflußten Maler Max Beckmann. Denker und Forscher so unterschiedlicher Art wie Carl Gustav Jung und Ernst Bloch, Leopold Ziegler und E. M. Cioran, Nikolai Berdjajewund Alan Watts verdanken ihren gnostizistischen Studien erhebliche Anregungen und haben auch selber, wenngleich in verschiedenem Maße, sich als Interpreten und Fortführer gnostischer Denkweisen betätigt. Bereits Franz von Baader, ein konservativer Denker, hat das eigentümlich kreisförmige Gefüge der „wahrhaften Gnosis“ erkannt. Sie bilde „keine Reihe von Begriffen, sondern einen Kreis derselben“, wobei es weniger darauf ankomme, von welchem dieser Begriffe man ausgehe, wohl aber darauf, daß man jeden einzelnen bis ins Zentrum verfolge (Sämtliche Werke, Band 8, Leipzig 1855, S. 11). Der eigenwillige und von den Parteikommunisten nie vorbehaltlos akzeptierte deutsch-jüdische Marxist Ernst Bloch umschrieb seine expressiv utopische Jugendphilosophie als „revolutionäre Gnosis“. (Geist der Utopie. Zweite Auflage 1923. Nachbemerkung aus dem Jahre 1963 zur Neuausgabe von 1973). Auf den gnostizistischen Grundzug des Marxismus insgesamt haben Eric Voegelin, Jakob Taubes und Ernst Topitsch hingewiesen.
Neben Tiefsinnigstem findet sich allerdings auch wieder Possenhaftes und Wunderliches. So wird etwa von einer gnostischen Sekte berichtet, deren Mitglieder von der urchristlichen Forderung „Werdet wie die Kinder!“ dermaßen gebannt waren, daß sie sich quiekend in Wiegen legten und von Ammen stillen und wickeln ließen. Anderswo heißt es, die Erschaffung des Weltalls verdanke sich einem siebenfachen Lachanfall Gottes. Zu dieser burlesken Kosmologie paßt gut die andere Nachricht, daß Christus „der Sohn der Heiterkeit“ gewesen sei und einen Zwillingsbruder gehabt habe. War dieser Zwillingsbruder ― Judas? Wenn er aber Judas hieß, war er dann mit dem Verfasser des Judasbriefes im Neuen Testament identisch (der in der katholischen Frömmigkeit als Nothelfer, Judas Thaddäus“ verehrt wird) oder mit Judas Iskariot, demjenigen der Apostel, der Jesus verriet? Anderes hingegen ist weder erheiternd noch tiefsinnig oder zumindest denkwürdig, sondern einfach langweilig, dürftig oder geschmacklos. Das Erhabenste und Sublimste steht unmittelbar neben dem Verworrensten und Primitivsten. Spirituelle Höhenflüge, die an die der Upanishaden erinnern, stürzen ab in krassesten Zauberglauben und kindische Zahlenmystik. Was als mythische Vision beginnt, endet in einem schlüpfrigen Schwank. Es ist gleichsam so, als ob an einem Ende Schelling stünde, am andern aber eine dubiose Figur wie Bhagwan.
Alles in allem: der Gnostizismus ist eine merkwürdige, vielfach absonderliche Geisteswelt, ein religiöses Spätzeitphänomen. Und so ist es wohl auch kaum ein Zufall, daß er in unseren Tagen auf erneutes Interesse stößt. Wer sich in seine literarischen Urkunden vertieft, dem begegnen einige erregende Denkformen, Symbole und Sinngebungen, die immer dann auf besonderen Widerhall stoßen, wenn Menschen sich selber rätselhaft werden.
(1986)