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Die Leopoldina – In Schweinfurt „geboren“

Nationale Akademie der Wissenschaften

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Im Juli 2008 wurde die Deutsche Akademie der Naturforscher, Sitz in Halle, die Nationale Akademie der Wissenschaften.
Mancher wundert sich, dass die Leopoldina diese Auszeichnung überhaupt angenommen hat. Es war bis dahin ihr Markenzeichen gewesen, sich als übernationale Wissenschafts- und Wissenschaftlervereinigung nicht in staatliche Obhut oder Abhängigkeit zu begeben. Dies hielt die Leopoldina gegenüber preußischen und bayerischen Übernahme gelüsten durch, gegen die Nazis ebenso wie vor allem gegen die DDR-Kommunisten.
Hoffentlich wird unsere liebe Bundesrepublik ihrer Verantwortung gerecht; hoffentlich war nicht nur das Argument der Fördermittel ausschlaggebend für die Leopoldina.
Es sei erinnert, dass die Leopoldina, die älteste Akademie der Naturwissenschaften des Abendlandes, in Schweinfurt gegründet wurde.

Gründung und Aufbau

Okkulte Gedankenspielereien und hermeneutisch-kabbalistischer Unsinn sind seit mehr als 30 Jahren wieder literarisch in Mode gekommen. Prominentes Opfer in Würzburg ist der von Umberto Eco („Das Foucaultsche Pendel“) strapazierte Gelehrte und Forscher Athanasius Kircher (1601 – 1680), der 1629 in der Main-Metropole Hochschullehrer wurde. Zum Glück für die Nachbarstadt Schweinfurt und die Weltliteratur kannte Eco nicht die frühen Erzeugnisse der 1652 in Schweinfurt gegründeten „Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina“. Mit wenig Fantasie ließen sich daraus gezielt esoterische Fehlinterpretationen gewinnen. Neben Texten kabbalistischer Reinkultur findet man tief gehende Gedanken über die Heilwirkung von Moos, das auf den Schädeln Hingerichteter gedieh (usnea), oder Untersuchungen über den Heilerfolg von Amuletten und Edelsteinen (auch wieder aktuell!), die Beschreibung von monströsen Missgeburten oder Berichte über die Medizin mittels magischer Analogiehandlungen. Die Präsidenten und Mitglieder der Akademie gaben sich Decknamen, eine Sitte, die bei uns heute Assoziationen zu bestimmten geschlossenen Gesellschaften weckt.
Wer hinter diesen Themen etwas Geheimnisvolles wittert, liegt falsch. Die genannten Abhandlungen waren Stand der Medizin, wenn auch nicht gerade der damals modernste Stand. Der Brauch, einen Beinamen anzunehmen, war harmlos und zu dieser Zeit nichts Auffälliges. Die Akademie war genau das Gegenteil einer geschlossenen Gesellschaft. Das vorrangige Ziel ihrer Gründer war Offenheit, nämlich Öffentlichkeitsarbeit zur Verbreitung des medizinischen Wissens. Die Satzung der „Academia Naturae Curiosorum“, wie sie sich 1652 bei der Gründung noch nannte, legte als Ziel u.a. „die weitere Aufklärung im Gebiet der Heilkunde“ fest und den „daraus hervorgehenden Nutzen für die Mitmenschen“. Die qualitative Verbesserung der medizinischen Versorgung sollte durch Überwindung wissenschaftlicher Geheimnistuerei erreicht werden, das heißt durch Breitenwirkung und Praxisbezug.
Der Erfolg der Akademie war in den beiden ersten Jahrzehnten mehr als bescheiden. Dies hatte zwei Ursachen, die miteinander in kausalem Zusammenhang standen: die geringe Anzahl der Mitglieder und die geringe Anzahl der Veröffentlichungen. Die Akademie hatte lediglich vier Gründungsmitglieder, den Initiator und ersten Präsidenten Johann Lorenz Bausch, Stadtphysikus in Schweinfurt, sowie dessen Schweinfurter Arztkollegen Johann Michael Fehr, Georg Balthasar Metzger und Georg Balthasar Wohlfahrt.
Der Durchbruch gelang 1670 mit der Gründung einer eigenen Zeitschrift, den „Miscellanea curiosa medico-physica AcademiaeNaturae Curiosorum sive Ephemeridum mediophysicarum Germanicarum curiosarum“, kurz „Ephemeriden“ genannt. Das war weltweit die erste naturwissenschaftlich-medizinische Zeitschrift. Der Anstieg der Veröffentlichungen (und der Akademie-Mitglieder) und die daraus resultierende menschenfreundliche Wirkung für die Medizin machten die oft seltsame Mischung der Themen (s.o.) wett. Wer heute über die Inhalte die Nase rümpft, müsste sich sicher sein, dass unser zeitgenössischer Wissenschaftsbetrieb nicht auch in die Kritik der Nachwelt gerät.
Den endgültigen Sprung nach oben, die öffentliche nationale Anerkennung und internationale Wertschätzung, schaffte die Akademie 1687 auf Grund der Privilegierung durch den Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation Leopold I aus dem Hause Habsburg. Auf dessen Majestät bezieht sich der nun neue Name „Leopoldina“ oder genauer „Sacri Romani Imperii Academia Caesareo-Leopoldina Naturae Curiosorum“. Verbunden mit der Privilegierung waren finanzielle Förderung, Meinungs- und Zensurfreiheit, eine Art öffentlich-rechtlicher Status, ein Minimum an urheberrechtlichem Rechtsschutz, das Promotionsrecht (!) und – nicht zu vergessen – der erbliche Adelsstand und die Würde eines Pfalzgrafen für die jeweiligen Präsidenten und Herausgeber der Ephemeriden.


Nationale und internationale Wertschätzung

Die Auszeichnungen der Leopoldina (z.B. Cothenius-Medaille, Gregor-Mendel-Medaille, Carus-Medaille mit Carus-Preis) genießen bis heute hohen Stellenwert. Die höchste Auszeichnung ist die Ehrenmitgliedschaft. Vor allem seit dem 20. Jahrhundert steht nur noch der Nobelpreis höher in der internationalen Anerkennung (und vor allem auch in der Ausstattung). Dieser Stellenwert ist leider nicht allgemein bekannt; die Leopoldina sollte sich hier vielleicht einmal auf ihre selbst auferlegte Pflicht zur Öffentlichkeitsarbeit besinnen. [Der Carus-Preis der Stadt Schweinfurt, der an die Carus-Medaille anschließt, war eine gemeinsame Initiative aus Schweinfurt (OB Wichtermann) und Halle (Präsident Prof. Dr. Mothes) als Beitrag zur Überwindung des Kalten Krieges, im Osten wie entgegengesetzt bei einigen Kreisen im Westen mit unbehaglicher  Vorsicht zur Kenntnis genommen.]
Zur internationalen Wertschätzung trugen von Anfang an die Kontakte zur hoch berühmten Royal Society in London bei, deren Sekretär Henry Oldenburg Mitglied der Leopoldina wurde. Die Zielsetzungen beider Vereinigungen waren ähnlich, aber nicht ganz gleich. Bei der Royal Society überwog schwerpunktmäßig die Forschung, bei der Academia Naturae Curiosorum die menschenfreundliche Öffentlichkeitsarbeit. Zur selben Zeit, wie die Royal Society vorbereitet, war die Academia zehn Jahre schneller bei der Gründung und hält somit den Rekord, „erste naturwissenschaftliche Akademie des Abendlandes“ zu sein.

Organisation und Sitz

Die Akademie war von Anfang an eine auf einer gemeinsamen Idee aufbauende Personenvereinigung. Sie blieb einem Programm verbunden und nicht einem Ort. Dies zeigte sich schon darin, dass die Akademie bei jedem neuen Präsidenten ihren Sitz an dessen Wohnsitz verlegte. Schweinfurt verlor auf diese Weise die Akademie bereits im Jahr 1686. Erst ab 1879 wurde die Akademie mit der Unterbringung ihrer Bibliothek in Halle sesshaft.
Die Gründer der Leopoldina hatten dem Präsidenten zwei Adjunkten beigegeben. Der Adjunktenkreis wurde 1870  bzw. 1876 erweitert, mit regionalen Zuständigkeiten. Wenn einmal ein Präsident nicht so spurte, wie es dem übernationalen Charakter der Leopoldina entsprach, rückten die Adjunkten die Richtung wieder ins Lot, – so offensichtlich in der Nazi-Zeit geschehen.

Große Namen und große Fragen

Die Namen „Arion IV“ und „Forster III“ wecken merkwürdige Assoziationen zu Gesangeskunst und Satyrspiel bzw. einem provinziellen Beitrag zur Französischen Revolution. Keiner dieser Bezüge stimmt. Hinter den Beinamen verbergen sich prominente Mitglieder der Akademie mit einem ganz anderen ‚image‘, nämlich Goethe und Charles Darwin. Aus den Mitgliedern der Akademie ließe sich eine lange Liste von ‚VIPs‘ ausdrucken, von denen nur einige genannt sein sollen: Otto von Guericke und Henry Oldenburg, Andreas Celsius, Karl von Linné, Alexander von Humboldt, der in der DDR als „deutscher Jakobiner“ geschätzte Begründer der vergleichenden Länder- und Völkerkunde Georg Forster, Adalbert von Chamisso, Philipp Franz von Siebold, Joseph von Fraunhofer, Rudolf Virchow, Robert Wilhelm Bunsen, Justus von Liebig, Max von Pettenkofer, Werner von Siemens, Max Planck, Otto Hahn, Niels Bohr, Marie Curie, Werner Heisenberg, Konrad Zuse. Unter den Ehrenmitgliedern (höchste Auszeichnung!) stößt man auf so bekannte Namen wie Oskar von Miller, Iwan P. Pawlow, David Hilbert, natürlich Max Planck, Adolf Butenandt, Jan Hendrik Oort. Ferner findet man in der Leopoldina zahlreiche ‚Päpste‘ ihrer Fachrichtungen, die außerhalb ihrer Disziplin nicht so bekannt sind. Die Mitgliederliste der Leopoldina ist eine Art ‚Gotha der Naturwissenschaften‘. So fanden sich in ihr 1977schon 50 Nobelpreisträger: bei der Hälfte von ihnen hatte die Leopoldina schon zuvor das Genie erkannt und die Mitgliedschaft erteilt. Bis in die jüngste Gegenwart ließe sich die Aufzählung fortsetzen. Das würde aber den Rahmen eines Historischen Desserts sprengen. Das Gleiche gilt auch für die großen Themen. Bei den Themen der Zeit die Vorreiterrolle (in Veröffentlichungen, Tagungen, Statements) zu übernehmen, ist immer noch Hauptaufgabe der Akademie. Als zeitgeschichtlich interessantes Beispiel sei die Podiumsdiskussion vom 8. bis 11. August 1989 in Halle zum Thema „Atmosphäre und Klima“ genannt, die gerade in der damaligen Ost-West-Spannung kurz vor der Wende eine über alle Grenzen hinweg beachtliche Resonanz fand.
J.H.