Mein Franken

Mein Franken – Lobeshymne auf die Heimat

Es gibt im Grunde nicht nur ein Franken.
Nüchtern betrachtet: innerhalb der regionalen Gliederung des „Freistaates Bayern“ werden Ober-, Mittel- und Unterfranken verwaltet. Dann gibt es noch außerhalb des Freistaates das sog. Tauber-Franken, mit Ausläufern ins Badische und Schwäbische. Und es gibt auch noch kleine Teile von Thüringen und Sachsen, wo man Fränkisch spricht und fühlt.
Alle diese Teile haben ihre Charakteristika und ganz gewiss auch eine durchaus eigene Kultur.

Ich hatte das Glück, Franken von „Oben“ bis „Unten“ erfahren zu dürfen – wobei es in meiner emotionalen Topographie immer nur oben gab. Geboren in Mittelfranken, aufgewachsen in Oberfranken, Studium in Unterfranken. Dann wieder – beruflich bedingte – Rundreise durch alle drei Bezirke, um am Schluss wieder in Unterfranken zu landen. Begleitet von einer Ehefrau aus Unterfranken, der es noch schwerer fiel als mir, aus Franken nach Hessen „exiliert“ zu werden. Zum Glück nicht gar zu weit weg von der Grenze.

Welches ist nun „mein Franken“? Die Heimat meiner Jugend in Oberfranken: Pegnitz und die wundersame, zutiefst provinzielle Fränkische Schweiz – Ausgangs- und Fluchtpunkt der deutschen Romantik. Mittelfranken mit meiner Geburtsstadt Ansbach. Mit Nürnberg, der so schlimm geschlagenen und – Gott sei es gedankt – nicht ganz aus der Fassung gebrachten alten Reichsstadt. Schöne Jahre durften wir dort erleben; die erste Tochter ist dort geboren. Unterfranken mit Würzburg und seiner altehrwürdigen Universität. Hier die Ausdehnung der Familie, kostbare Freundschaften und damit unbedingte Steigerung der emotionalen Bindung an unser Franken in der Zeit in Werneck.

In Oberfranken ist das Bier zuhause, man findet hier die größte Brauereidichte weltweit.
In Mittelfranken – zum Rand hin, fast in Unterfranken – wird schon Wein angebaut. Ansonsten ist hier – wie prosaisch scheint das – die Heimat der fränkischen Bratwurst.
Unterfranken ist gleichbedeutend mit „Weinfranken“. Und wo Wein zum Alltag gehört, lebt man anders, beseelter.

Es gibt eine wunderbare Reisebeschreibung, eine Liebeserklärung an Franken von dem Journalisten
und Schriftsteller Horst Krüger, aus der ich zitieren möchte*:

Wo Bayern beginnt – Loblied auf Mainfranken.
„Manchmal dieser Wunsch: weg! Aufbruchsphantasien, Wochenendhoffnung,

Feriengefühle. Wohin? Du mußt einfach jetzt für ein paar Tage weg. Ach, Frankfurt am
Main: Ich habe es satt. Ich bin es leid. Darüber ist eigentlich nichts mehr zu sagen. Es
ist alles gesagt und geklagt worden. Wenigstens darüber ist sich die Bundesrepublik
vollkommen einig: Welch eine monströse und männermordende Stadt! Wie viele
Oberbürgermeister hat sie vorzeitig ins Grab gebracht? Wie können Sie nur in
Frankfurt wohnen, leben, und dies auch noch freiwillig, ohne zwingenden Grund? Sie
hätten solch Elend nicht nötig. Sie als Schreiber könnten in Schwabing oder am
Tegernsee wohnen, wo ohnehin die Kunst zu Hause ist. Was sind Sie nur für ein
Mensch?
Ich gerate dann oft ins Grundsätzliche. Ich werde ernster. Ich spreche von Adorno und
Horkheimer, der Frankfurter Schule, ihrem fortwirkenden Geist. Ich spreche von der
Polarisation der Kräfte: wie hier Kapital und kritischer Geist aufeinanderstoßen und
wie daraus ein eigener Funkenschlag deutscher Wirklichkeit heute wird – für mich
jedenfalls. Ich bin ein Zeitgenosse. Ich lese die Uhren der Zeit. Was hat die Zeit hier
geschlagen? Wenn auch dies nicht überzeugt, wenn das Kopfschütteln bleibt, komme ich
manchmal mit meinem letzten Argument. Ich ziehe meine geheime Trumpfkarte. Ich
sage, etwa in Hamburg oder Berlin, wo man sich in deutscher Geographie nicht so
genau auskennt: Wissen Sie eigentlich, daß Frankfurt ganz nahe bei Bayern liegt? Gell,
da staunen Sie? Nur vierzig Kilometer -wir sind drüben. Ist Ihnen bewußt, daß wir in
Frankfurt den Bayerischen Rundfunk wie einen Ortssender empfangen? Das wußten Sie
nicht? So mögen DDR-Bürger zuweilen den RIAS hören: eine freie Stimme der freien
Welt. Es ist nicht sinnlos, im roten Hessen zuweilen auch das dunklere Pausenzeichen
von drüben zu hören: In München steht ein Hofbräuhaus. Den Alten Peter dürstet.
Also weg! Nun kann man natürlich sagen, von Frankfurt aus: Der Taunus, der
Rheingau, der Westerwald, der Odenwald – ist das nichts? Habt ihr nicht alles, rundum
versammelt, schön vor der Tür? Wohl wahr; Ich habe es alles probiert in fünfzehn
Jahren. Worms war mir lieb und Mainz. Ich fuhr durchs Wispertal zur Loreley. Ich sah
den deutschen Rhein, sein totes Wasser. Ich sah all die Kaiserpfalzen von Lorsch bis
Gelnhausen. Schön und gut, Wochenendziele: Montagabend sind sie wieder vergessen.
Längerer Rede sind sie nicht wert. Ich würde nie auf die Idee kommen, darüber zu
schreiben. Wenn du das suchst, was bleibt, was haftet, was dich ein Leben lang in der
Tiefe trifft:
das andere, stillere Deutschland – geh nur nach Südosten. Überschreite mutig die
Mainlinie, unsere heimlichste Staatsgrenze. Wenn du auf der Autobahn zum erstenmal
die Ausfahrtschilder siehst, Aschaffenburg, Alzenau, Kahl, gleich dahinter den
tröstlichen Radiohinweis: BR 3 – so hast du es geschafft. Du bist drüben. Es spricht
jetzt einfach alles – für Franken.
Wenn ich jetzt zurückdenke: fünfzehn Jahre Annäherungsversuche, eine fortgesetzte
Liebesgeschichte auf Freizeitbasis -was für Affären, wieviel zärtliche Werbung! Die
Berge, die Täler, die Kirchen, die Burgen, die Schlösser, die vielen Wirtshäuser, in
denen wir saßen! Der junge Mann mit den zwei Äffchen an langen Leinen im skurrilen
Park von Veitshöchheim, die Würzburger Frau Frieda Schneider, Mergentheimer
Straße, die Ritterrüstungen repariert und die wir nie fanden. Ich bin immer nur ein
Fremder, ein Besucher gewesen, eine Art Don Juan, der kam, sah und liebte, dann
wieder ging. Wenigstens von dieser Basis distanzierter Begehrlichkeit her wage ich
schon jetzt den Satz: Kein schöner Land in dieser Zeit. Ich weiß nicht, wie es hinter all
diesen Barockfassaden und romantischen Toren wirklich aussieht, wie man in
Ochsenfurt oder Dettelbach tatsächlich lebt als Bürger. So lieblich stelle ich es mir
nicht vor. Idylle sind eng, oft unausgelüftet. Ich sage nur: Wenn man von Frankfurt
kommt, sind es Feriengefühle. Die Sonne ist heller, der Himmel höher, die Hitze
heftiger. Bukolischer Zauber erwacht. Ich bin jedesmal neu erstaunt, daß es so etwas
gibt: intakte Provinz, eine unzerstörte Region. Oder scheint das nur so?
Unterfranken, es sei vorweg gesagt, besitzt Seele. Sein größter Vorzug: daß es in diesem
Deutschland gigantischer Großleistungen, in dieser »führenden Industrienation«, wie
man uns nennt, sich selber treu blieb, begrenzt, bescheiden, klein von Geburt. Kein
Alpenglühen, kein Achensee, tiefblau, kein Obersalzberg, schaudernd, kein
Oberammergau in finsterer Passions-Entschlossenheit. Nichts will hier imponieren; ein
Stück von deutscher Redlichkeit wird nur gespielt. Provinz? Na und? Es ist gottlob
zurück. Ich meine: Nach vorne stürmen wir ohnehin alle. Der Fortschritt ist nicht
aufzuhalten. Der Zug rast durch die Zeit. Was ging dabei verloren? Ich will zunächst in
Bildern sagen, Erinnerungen, die kommen. Der Geist der Nachdenklichkeit: Walther
von der Vogelweide vor der Würzburger Residenz. Der Geist der Sinnlichkeit im Park
von Veitshöchheim. Der Geist der Liebe: Grünewalds Madonna, früher Aschaffenburg.
Der zarte, schöne Schmerz, der auf dem Gesicht des Adam von Riemenschneider zu
erkennen ist. Die tiefe Leidensfähigkeit des Gekreuzigten: Nürnberg, Sebalduskirche.
Die helle Freude, die einem von Balthasar Neumanns Vierzehnheiligen
entgegenschlägt. Sagen wir es im Klartext: Die Tiefe des Menschen geht immer mehr
verloren, heute. Er wird immer flacher in seinem sozialen Netz. In Frankfurt kann man
immer nur Gesellschaft besichtigen. Sie ist sehr wichtig. Im Frankenland ist noch der
Mensch zu sehen, die Tiefe seiner Existenz. Das ist es. Das macht mir das Land lieb und
sehr wichtig. Hier ist das Bild des Menschen aufgehoben.“

Das ist es, was auch ich jedes Mal empfinde, wenn ich aus dem „Dunstkreis“ von Frankfurt
kommend, nicht erst vor Gemünden die hessische Grenze nach Franken passiere. Es ist wirklich zu fühlen: „Die Sonne ist heller, der Himmel höher, die Hitze heftiger. Bukolischer Zauber erwacht….“
Man kommt heim.


*Horst Krüger: Poetische Erdkunde , dtv