Theodor Haecker

Wer es heute unternimmt, an Theodor Haecker zu erinnern, muß davon ausgehen, daß er von einem weithin Unbekannten spricht, sozusagen in partibus infidelium. Der am 4. Juni 1879 in Eberbach (Württemberg) geborene Schriftsteller, Übersetzer und Philosoph wird nur von wenigen wahrgenommen, die den Blick auf die geistige Landschaft der ersten Jahrhunderthälfte werfen. Der leidenschaftliche Konvertit, der den Weg von Kierkegaard und Karl Kraus zu Kardinal Newman und Thomas von Aquin gegangen ist, scheint auch den deutschen Katholiken fremd geworden zu sein. Er wurde für sie nicht zu einer Leitgestalt, wie es für den französischen renouveau catholique Charles Peguy, Jacques Maritain und Paul Claudel gewesen waren. Kaum fünfunddreißig Jahre nach seinem Tode gehört dieser überragendste Polemiker und Essayist, den der deutsche Katholizismus in der Zwischenkriegszeit hervorgebracht hat, der vielleicht furioseste Satiriker neben Karl Kraus, zu den großen Vergessenen, Verkannten und Totgeschwiegenen. Zwar hat Ludwig Rohner in seine vierbändige Sammlung »Deutsche Essays« Haeckers Dialog über die Satire aufgenommen und der Suhrkamp Verlag vor einigen Jahren die während des »Dritten Reiches« heimlich geschriebenen »Tag- und Nachtbücher« neu herausgebracht, nachdem bereits zwischen 1958 und 1969 bei Kösel in München eine fünfbändige Werkausgabe erschienen ist, doch dies ist auch schon fast alles. Gelesen werden die Schriften nur wenig. In wichtigen literaturgeschichtlichen Nachschlagwerken fehlt der Name Haecker, auch das im katholischen Herder Verlag erschienene »Lexikon der Weltliteratur im 20. Jahrhundert« verweigert ihm die Ehre eines eigenen Artikels.
Wer war dieser Mann, dessen schönste, reifste und beglückendste Schrift dem römischen Dichter Vergil gewidmet ist; der öffentlich erklärte, daß mit dem Liberalismus der Ernst aufhöre und der Spaß beginne; der bedauerte, daß Luther nicht, wie wenige Jahrzehnte vor ihm Jan Hus, in einem »feurigen Akt der Liebe« verbrannt wurde; und bereits vor Hitlers Machtergreifung das Hakenkreuz als »Zeichen des Tieres«, als »das Symbol des Dreh«, des subjektiven wie objektiven Schwindels, verflucht hat?
Zu den Grundelementen von Theodor Haeckers Biographie gehört zuvörderst seine württembergische Herkunft. Sein Vater war Ratsschreiber in Esslingen am Neckar. Schwäbische Dichter, Theologen und Lebensführer wie Hölderlin und Mörike, Christoph Blumhardt und Carl Hilty blieben für ihn Quelle und Urgrund eigenen Denkens; auf sie kam er immer wieder zurück. Sein Landsmann Christoph Schrempf, der erste Herausgeber und Übersetzer Kierkegaards unter den Deutschen, hatte ihn auf den dänischen Existenz-Denker hingewiesen, und Haecker lernte Dänisch, um Kierkegaard im Original lesen zu können. Sein eigenes melancholisch-grüblerisches Naturell, das er mit anderen großen Schwaben teilte, mochte sich durch den um Schwermut, Angst und Verzweiflung tief Bescheid wissenden Kopenhagener besonders angesprochen fühlen. Haecker schuf kongeniale deutsche Übersetzungen von mehr als einem halben Dutzend der Schriften Kierkegaards; seine Vorworte, Nachworte und Deutungen sind oft länger als der Haupttext. Entscheidend war für ihn, neben der schwäbischen Heimat, auch sein Autodidakten tum. Als junger Mann träumte er davon, Schauspieler zu werden, aber sein Gesicht war durch eine Nasenoperation entstellt; er war, wie Kierkegaard der Mann mit dem Buckel, der »Mann mit der zerbrochenen Nase«. Doch auch von diesem physiognomischen Makel abgesehen, wäre Haecker, so eindrucksvoll er war, wenn er vorlas, wohl kaum jemals ein guter Schauspieler geworden. Bedrückende häusliche Verhältnisse zwangen ihn, das Gymnasium vorzeitig zu verlassen und in eine kaufmännische Lehre einzutreten. Obgleich er später das Abitur nachholte und auch einige Semester Philosophie studierte, war und blieb Haecker zeitlebens allem Universitätsbetrieb fern, ja er verachtete ihn sogar. Seine umfassende humanistische Bildung hat er sich unabhängig von Schulen und Akademien erworben. Er fühlte sich als Außenseiter, und er bejahte sein Einzelgängertum, so sehr er darunter auch litt – ein Zug, der ihn ebenfalls mit Kierkegaard verbindet. Von allen zeitgenössischen Universitätsphilosophen hatte nur Max Scheler einen größeren Einfluß auf diesen Selbstdenker, und zwar der »mittlere«, der katholischen Philosophie und Theologie, vor allem dem heiligen Augustinus, sich zuwendende Scheler. Haecker rühmt ihm nach, daß er »die geistigen Werte sah und darzustellen und hierarchisch zu ordnen wußte wie keiner sonst«, weil ihm »in erstaunlichem Grade gegeben war eine >natürliche< Übereinstimmung einer großen, weiten, weltumspannenden Vernunft mit katholischem Geiste«.
Haeckers Lebenswerk ist nicht verständlich ohne seine 1921 vollzogene Konversion zum Katholizismus. Es war die Begegnung mit den Schriften des vom Anglikanertum zur katholischen Kirche übergetretenen Theologen und späteren Kardinals John Henry Newman, die ihn diesen Weg gehen ließ. Er führte den Jünger Kierkegaards nicht nur zurück in die römische Kirche, er hatte auch zur Folge, daß er dem neugewonnenen Glauben das Opfer der Satire brachte -nicht der Satire als literarischer Gattung, sondern als menschlicher Haltung. Haecker überwand, wie er selber bekannte, die Satire in dem Augenblick, als ihm diese Art zu schreiben am besten gefiel, als er Gerhart Hauptmann und Thomas Mann, Oswald Spengler und Stefan George, um nur die bedeutendsten Namen zu nennen, mit beißendem Spott, sarkastischem Witz und einem Pathos der Entrüstung, wie es nur auf dem Boden eines ethischen Absolutismus gedeihen kann, angegriffen, bloßgestellt, der Lächerlichkeit preisgegeben hatte. Die Konversion rettete den zornmächtigen, von der geistigen Pöbelhaftigkeit seines Zeitalters angewiderten Rebellen vor der Gefahr aller großen Satiriker: der Gefahr, vor Ekel, Empörung und Entlarvungswut angesichts des Nichtigen und Niedrigen, des Aufgeblähten und Verderbten, des Angemaßten und Falschen in Menschenverachtung, Verzweiflung oder gar Seinshaß zu verfallen. »Wenn ein Satiriker sich vorstellt, er müsse seine Arbeit endlos, Jahrhunderte fortsetzen, dann ist er in der Hölle«, bekennt Haecker, und an anderer Stelle sagt er: »Ich halte Karl Kraus für einen großen Schriftsteller, aber ich möchte doch >Die Fackel< nicht geschrieben haben.« Dieses Urteil wiegt um so mehr, als Haecker einmal von Kraus bezeugt hat: »Er ist der einzige große, durch die Ethik gedeckte Polemiker und Satiriker der Zeit.« So sehr Haeckers Konversion sich vielfach in allzu apodiktischen, ja maßlosen Urteilen über Luther und den Protestantismus insgesamt niederschlug, so sehr verdankte er dem katholischen Glauben jene Maßstäbe und Kräfte, die ihn davor bewahrten, dem Ungeist seiner Epoche zu erliegen. Bei Tag eine humoristische Postille redigierend, die (1929 mit den »Fliegenden Blättern« vereinigten) »Meggendorfer Blätter«, schuf Haecker in den Nächten für die Zeitschriften »Der Brenner« und »Hochland« seine großen Essays über Kierkegaard, Newman und Francis Thompson, vor allem aber seine Traktate »Christentum und Kultur« (1927), »Wahrheit und Leben« (1930), »Vergil« (1931), »Was ist der Mensch?« (1933), »Schöpfer und Schöpfung« (1934), »Der Christ und die Geschichte« (1935), »Schönheit« (1936) und »Der Geist des Menschen und die Wahrheit« (1937). 
Dem Umfang nach sind sie alle »kleine Bücher«, doch in der Zeit des heraufziehenden und dann des siegreichen Nationalsozialismus war ihr Erscheinen allemal ein geistiges Ereignis ersten Ranges. Inmitten politischer Unterdrückung, geistiger Verwahrlosung und ethischer Barbarei bekannte sich Haecker zum Primat des Geistes, zur Freiheit und Würde des Menschen, zur Wirklichkeit eines allgemein Humanen vor allen rassischen, gesellschaftlichen und kulturellen Unterschieden, zur christlichen Substanz der abendländischen wie der deutschen Geschichte. Gegenüber nordisch-germanischem Rassenhochmut, wie er unter Hitler gepredigt und verordnet wurde, wies der eifernde Katholik mit Nachdruck auf das griechische und römische Erbe hin, das neben dem Christentum, sozusagen als dessen heidnischer Advent, zu den unaufhebbaren Fundamenten der europäischen Zivilisation gehöre. Für Haecker gab es, weltgeschichtlich, ja heilsgeschichtlich betrachtet, nur ein »Reich« auf dieser Erde: das Imperium Romanum, und die Berufung der Deutschen zum Reich sei gebunden an deren Treue zum christlichen Glauben. Alles Reden von einem »zweiten« und »dritten Reich« erschien Haecker als provinziell und plebejisch, mehr noch: als bodenlose Betrügerei.
Kein Wunder, daß die Nationalsozialisten Haecker bereits 1933 in München verhafteten, nachdem er in der österreichischen Zeitschrift »Der Brenner« im Herbst des Vorjahres die prophetischen Sätze veröffentlicht hatte: »Welche Provinzen wird den Deutschen das dritte Reich kosten?… Bleibt im deutschen Reiche die Hegemonie bei Preußen, so ist Ostpreußen mit absoluter Sicherheit verloren, so werden die Sudetendeutschen unaufhaltsam tschechisiert werden. Der Fluch des preußischen Geistes wird nicht vorher enden.« Prophetische Worte, gewiß, doch auch eine ärgerniserregende Einseitigkeit des Blicks verratende, denn Hitler war kein Preuße und der Nationalsozialismus keine preußische Erfindung, sondern, grob gesprochen, die Verbindung von österreichischem Wahnwitz und preußischem Schwert. Kardinal Faulhaber und Carl Muth, dem Herausgeber der Zeitschrift »Hochland«, gelang es damals, Haeckers Verhaftung rückgängig zu machen. Doch bereits 1935 verhängten die Nationalsozialisten über ihn Redeverbot, und seit 1938 durfte keines seiner Bücher mehr verlegt werden. Es folgten Haussuchungen durch die Gestapo, Haecker stand in Beziehungen zur Widerstandsgruppe »Weiße Rose«, und einer zweiten Verhaftung, wenn nicht Schlimmerem, entging er nur durch den glücklichen Umstand, daß die Polizei seine bei Kriegsausbruch begonnenen Tagebücher nicht entdeckte. Die »Tag- und Nachtbücher«, aufgezeichnet unter dem »ständigen dunklen Flügelschlag einer Bedrohung«, gehören zu den erregendsten Zeugnissen für das, was man etwas vage »innere Emigration« genannt hat. Als 1944 durch Bombenangriffe seine Münchener Wohnung zerstört war, floh Haecker nach Usterbach bei Augsburg, wo eine ehemalige Magd ihm Obdach bot. Dort ist er am 9. April 1945 gestorben, nur wenige Wochen vor dem von ihm grimmig ersehnten Zusammenbruch des Hitlerreiches. Haecker ging es in seinem Kampf gegen den Nationalsozialismus primär nicht um Fragen der praktischen Politik, sondern um eine theologische Entscheidung. Er haßte ihn kompromißlos, weil Hitler in seinen Augen der Agent der Unterwelt, des Gegenreiches der niedrigen Dämonen, war und das Hakenkreuz das schmachvolle Zeichen des Antichrist, die schauerliche Perversion des Kreuzes, an dem der Erlöser gestorben ist. In der mörderischen Verfolgung des jüdischen Volkes vollzog sich für ihn die zweite Kreuzigung Christi. Nicht deshalb griff der gläubige Katholik, um dessen Gestalt, wie seine nächsten Freunde berichten, eine beängstigende Hiobsluft lag, den Nationalsozialismus an, weil dieser antidemokratisch und antiliberal war; er haßte und bekämpfte und verachtete ihn aus der Position eines von einer absoluten Wertordnung Überzeugten, eines aus biblischer Gläubigkeit und klassischer Philosophie lebenden Hierarchisten.
Immer wieder taucht in Haeckers Schriften wie ein Refrain der Satz auf: »Wir sind Hierarchisten.« Und: »Das Höhere kann das Niedere erklären, niemals das Niedere das Höhere.« Schon in seiner frühen Zeit hatte er gestanden: »Ich ertrage zur Not ein unaufgeräumtes Zimmer… aber im Geist müssen die Dinge an ihrem Platz stehen, sonst werde ich krank und grob.« Dieser Liebhaber kosmosstiftender Ordnung definierte einmal Klassik als »das nichts auslassende, das Ganze nicht auslassende hierarchische Ordnen des Seins und der Dinge«.
In solchen Sätzen kommt eine Haltung zum Ausdruck, die dem Geist der Gegenwart sehr fremd ist; auch viele katholische Christen haben dafür heute wohl nur ein Achselzucken übrig. Doch nur kraft dieses zutiefst katholischen Eros, der alles an seinen rechten Platz zu stellen strebt, der im Leben des personalen Individuums wie der menschlichen Gemeinschaften, in der Ordnung der Natur wie in der Welt des Geistes hierarchische Strukturen anerkennt, war es Theodor Haecker gegeben, einige Bücher zu schreiben, von denen T. S. Eliot gesagt hat, sie trügen »den dreifachen Adel der Schönheit, der Wahrheit und der Güte«.
Dies gilt vor allem für »Vergil – Vater des Abendlandes«, gewidmet jenem Künder von Roms Größe und Herrlichkeit, der zugleich unter den Dichtern des antiken Heidentums derjenige ist, den das mittelalterliche Christentum fast wie einen Heiligen verehrt hat. Beatrice bestimmt Vergil zum Führer Dantes durch Inferno und Purgatorio, und viele Generationen haben seine Eklogen wie die »Aeneis« als Orakelbücher behandelt. Haeckers Vergil-Buch enthält auf weniger als hundertfünfzig Seiten die Theologie, Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Ästhetik und Ethik dieses gläubigen Denkers, liebenden Polemikers und entschiedenen Hierarchisten. Es ist auch das persönlichste Buch des im menschlichen Umgang sehr schweigsam und verschlossen gewesenen Schriftstellers. Am ergreifendsten ist das Kapitel über Vergils Wort »suntlacrimae rerum«. Es bedeutet: Die Dinge selber haben ihre Tränen, nicht nur wir beweinen sie. Diesen eine ganze Weltanschauung enthaltenden Halbvers aus der Aeneis versteht Haecker am Ende so, »daß da Dinge sind, die mit keiner andern Antwort zufrieden sind als mit Tränen, die durch nichts wirklich erkannt werden, durch nichts anderes ausgeglichen werden können als durch Tränen und zuweilen selbst durch sie nicht… Die Träne hat fast die Kraft der Rechtfertigung«.
An keiner Stelle ins Wehleidig-Sentimentale abgleitend, läßt diese Interpretation Vergils, des »adventistischen Heiden«, der das Maß des Menschen weder feige unterboten noch frevelhaft überschritten hat, etwas von den geheimen Quellen ahnen, die Haeckers unbeirrbaren Widerstand in Deutschlands finsterster Zeit speisten. An sie zu erinnern, ist heute nicht weniger angebracht als vor vierzig oder fünfzig Jahren. Unterscheidung der Geister, Nicht-Anpassung, Widerstand aus der Kraft eines inappellablen Glaubens heraus: das geht nicht nur Katholiken, nicht nur kirchlich gebundene Christen an. Und die Frage, woraus wir leben und was wir im äußersten Fall mitnehmen sollen, ist nach Hitler so zeitgemäß wie vor und unter ihm. Theodor Haecker hat seinem »Vergil« als Motto den Rat vorangestellt, aus den Greueln der Verwüstung das Kreuz mitzunehmen. »Und dann: nun, was einer am heißesten liebt. Wir aber wollen nicht vergessen unsern Vergil, der in eine Rocktasche geht.«
Soll man also Theodor Haeckers gedenken? Besser wäre es, wenn wir seine Schriften wieder entdeckten, auch die von ihm stammenden Übersetzungen, vor allem aber das meisterliche Buch über den »Vater des Abendlandes«, das Hermann Broch zu seinem großen Roman »Der Tod des Vergil« inspiriert hat. Es ist dies Haeckers schönstes, hellstes und tröstlichstes Buch, eine unüberholte Urkunde christlich-abendländischer Menschlichkeit, eines der nobelsten deutschen Bücher überhaupt.

(1979)