Klassiker romantischer Philosophie
Ein wirklich großer Philosoph kann auch nach Jahrhunderten nicht „überholt“ sein. Gewiß: jahrzehntelang (oft sogar weit länger) steht eine Gestalt ganz im Schatten. Vergessen oder verkannt, ist sie dann oft nicht viel mehr als ein Gerücht, eine Phrase oder auch ein Schimpfwort (wie es etwa Epikur und später Machiavelli, Hobbes und Spinoza erging). Dann aber ereignet sich eine Art von Wiedergeburt. Das philosophische Aschenbrödel wird aufgenommen ins Pantheon der großen Denker und erlebt seinen Himmelfahrtsmoment. Während wissenschaftliche Theorien unvermeidlich veralten, unterliegt Philosophie nicht diesem Prozeß des Obsoletwerdens. Sie unterliegt ihm nur insofern, als sie mit Fakten-Wissenschaft konkurrieren will, als sie Aussagen über seither empirisch besser erforschte Tatsachen enthält Sie unterliegt ihm nicht als eine eigentümliche Art, des Ganzen der Wirklichkeit innezuwerden, den Sinn des Lebens zu ergründen oder gar als Versuch des Menschen, die Schranken seines endlichen Hier-und-Jetzt-Seins zu durchbrechen und alles, was es gibt, zu transzendieren ― einschließlich seiner eigenen Existenz.
Als eigentümliche Geisteshaltung kann Philosophie nie Vergangenheit werden, solange es denkende Wesen gibt. Deshalb finden auch immer wieder Denkende sich selbst in der Begegnung mit Philosophen, auch wenn diese schon vor Jahrtausenden verstorben sein mögen. Eisen schärft sich an Eisen, ein Diamant erhält seinen Schliff von einem andern. So kann es geschehen, daß Plotinos, ein Ägypter des dritten nachchristlichen Jahrhunderts, die Philosophie des Atheners Platon in mystischem Glanz neu zum Leben erweckt. So hatte schon früher der römische Dichter-Philosoph Lukrez in seinem großartigen Epos „De rerum natura“ die Atomlehre des Vorsokratikers Demokrit erneuert. Im Hochmittelalter geht der Dominikanermönch Thomas von Aquin bei dem vorchristlichen Heiden Aristoteles in die Lehre, und im 15. Jahrhundert bringen aus dem türkisch gewordenen Konstantinopel fliehende Griechen Platon und Plotinos in Italien wieder zu Ehren. Descartes wie sein Intimfeind Pascal wären nicht, was sie sind, ohne Augustinus, den nordafrikanischen Kirchenvater der Völkerwanderungszeit Und Ende des 18. Jahrhunderts beginnt plötzlich der Stern Spinozas über dem Geisteshimmel der deutschen Nation zu leuchten: Lessing und Lichtenberg, Herder und Goethe, Schleiermacher und Hegel huldigen dem so lange als Ketzer, Betrüger und Teufel im Philosophenmantel gescholtenen Denker aus Amsterdam. Bald darauf entdecken die Romantiker die deutsche spekulative Mystik des Mittelalters und der Barockzeit, werden Meister Eckhart, Jakob Böhme und Angelus Silesius zum Jungbrunnen deutscher Philosophie.
Sowohl bei der Wiederentdeckung Spinozas als auch Jakob Böhmes um 1800 spielte ein junger, hochbegabter Mann eine bedeutsame Rolle, der mit Hegel und Hölderlin gemeinsam im Tübinger Stift studiert, dann die Förderung, ja Zuneigung Goethes gefunden und schließlich die um zwölf Jahre ältere Caroline Schlegel geheiratet hatte: Schelling. Geboren 1775 in dem schwäbischen Städtchen Leonberg, waren seine großen Stationen Jena, Würzburg, Erlangen, München und zuletzt Berlin, wo den Greis Jacob Burckhardt, Sören Kierkegaard, Friedrich Engels und Nikolai Bakunin ― alle noch im Jünglingsalter stehend ― mit gemischten Gefühlen hörten. 1854 starb Schelling, einige Monate vor seinem 80. Geburtstag, in Bad Ragaz, wo er auch begraben wurde. König Maximilian II. von Bayern stiftete ihm auf dem Friedhof ein Grabdenkmal mit der Inschrift: „Dem ersten Denker Deutschlands“.
Damals freilich schien Schelling schon seit langem „überholt“ zu sein. Wer hatte schon Neigung oder Geduld, sich im angebrochenen Zeitalter des Materialismus, aber auch ungeahnter naturwissenschaftlicher Entdeckungen in einen Denker zu vertiefen, der in seiner Jugend über die Weltseele, im Alter über die Geheimnisse von Mythos und Offenbarung, ja sogar über das innergöttliche Geschehen vor Erschaffung der Welt gegrübelt hatte? Er wurde verhöhnt, als „philosophischer Cagliostro“, als Falschmünzer und Possenreißer abgekanzelt. Schopenhauer dekretierte, Schelling könne „nicht eingelassen werden in die ehrwürdige Gesellschaft der Denker des Menschengeschlechts“. Marx wollte nur den „aufrichtigen Jugendgedanken Schellings“ loben; alles, was darauf noch folgte, war ihm nur reaktionäre Romantik und intellektuelles Opium. Der Marxist Georg Lukacs stellte den Philosophen als Vorläufer der „Faschisten“ hin; eines seiner Bücher hat den Untertitel: „Der Weg des Irrationalismus von Schelling zu Hitler“…
Auch in unserem Jahrhundert, das allerlei Kant-, Hegel- und Marx-Renaissancen erlebt hat, blieb es um Schelling merkwürdig still. Es waren meist nur Außenseiter und „Stille im Lande“, wie Leopold Ziegler, Manfred Schröter und manche von Rudolf Steiner inspirierte Forscher, die mit dem verkannten Denker etwas anzufangen wußten oder ihn gar verehrten. Typisch für die Grenzen, die einem Verständnis Schellings gesetzt waren, ist das Geständnis des Neukantianers Vorländer, daß es ihm nicht geringe Überwindung gekostet habe, „den verschlungenen Gedankengängen dieser ungesunden Phantastik zu folgen“. Noch vor einigen Jahren mochte sogar der äußerst schwierige Fichte mehr Liebhaber besitzen als Schelling, sein ungetreuer Jünger.
Heute, gut zehn Jahre nach seinem 200. Geburtstag, mehren sich die Anzeichen, daß Schelling im Kommen ist. Der Verlag Frommann-Holzboog (Stuttgart) hat eine historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke des Philosophen unter den Auspizien der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gestartet. Im Suhrkamp Verlag (Frankfurt a. M.) erschien 1985 eine sechsbändige Auswahl aus Schellings Schriften. Ebenso hat die Wissenschaftliche Buchgesellschaft (Darmstadt) einen Nachdruck der Sämtlichen Werke (zuerst 1856 – 1861 erschienen) vorgelegt
Historisch-kritische Ausgaben und Auswahleditionen sind freilich nicht unbedingt ein Indiz für die Aktualität eines Denkers, eher im Gegenteil; sie könnten auch eine noble Einsargung bedeuten. Doch im Fall Schellings spricht vieles für eine echte Entdeckung und neue Zuwendung. Daß über ihn in letzter Zeit immer mehr Arbeiten erscheinen, ist zwar allein noch nicht von Gewicht. Bedeutsamer ist, daß ursprünglich Schellingsche Themen, Gedanken und Ansätze irgendwie in der Luft liegen. Die banausische Überschätzung des „Gesellschaftlichen“, die vor zwanzig Jahren zu grassieren begann, hat ihren Höhepunkt überschritten. Die feineren Intelligenzen unter den jüngeren Menschen wenden sich von dem vulgärmarxistischen „sola societas“-Dogma ab. Sie ahnen, daß die großen Fragen, die vielleicht nie beantwortet werden können, mit denen wir aber als Denkende leben müssen, in eine Tiefendimension jenseits des Gesellschaftlichen oder Ökonomischen zielen.
Es ist in letzter Zeit von manchen Seiten das Ende des cartesianischen Zeitalters verkündet worden. Unter den verschiedensten Masken erhebt sich allenthalben ein Protest gegen den Dualismus, gegen den anthropozentrischen Hochmut, der die außermenschliche Natur bloß als Rohstoff ansieht und behandelt. Nur wenige wissen, daß bereits der junge Schelling als erster diesen antidualistischen Protest philosophisch formuliert hat ― im Widerspruch zu den „logokratischen“ Idealisten Fichte und Hegel, denen die Natur nur „Abfall von der Idee“ oder „Material moralischer Pflichterfüllung“ war. Schelling hat die Natur, die in den Systemen von Descartes bis zu Hegel zunehmend herabgesetzt worden war, philosophisch rehabilitiert. Natur ist ihm kein Sachbereich unter anderen Sachbereichen, die der Mensch zum Gegenstand seiner Reflexionen wählen kann, sondern der aller Reflexion vorausliegende Urgrund: „Alles Philosophieren besteht in einem Erinnern des Zustandes, in welchem wir eins waren mit der Natur.“ Durch alle Epochen seines Denkens zieht sich Schellings Ringen um eine umfassende Synthese, die die dualistische Entgegensetzung von Geist und Materie, Leib und Seele, Gott und Natur beendet. Wer sich in seine Schriften versenkt, wird hier überrascht die Elemente zu einer ökologischen Philosophie entdecken, die fundierter ist als das modische Gerede „grüner“ Ideologen. Gustav Theodor Fechners Lehre von der All-Beseelung ist, wie er selbst einmal bekannte, ein wenngleich weit vom Mutterstamm abgezweigter Ableger Schellingscher Spekulation.
Faszinierend ist die weitgehende, oft sogar wörtliche Übereinstimmung Schellings mit den großen Weisheitslehren Asiens, insbesondere mit den Upanishaden und dem Vedanta, obwohl er diese Schriften kaum näher gekannt hat. Er hat darüber hinaus die deutsche Mystik von Meister Eckhart und Tauler über Böhme und Angelus Silesius bis zu den „Schwabenvätern“ (J, A. Bengel, vor allem F. Chr. Oetinger) philosophisch ernst genommen; dem letzten der Schwabenväter, Philipp Matthäus Hahn, hat der fünfzehnjährige Schelling ein Gedicht gewidmet, das im ersten Band der neuen Gesamtausgabe veröffentlicht ist. Es ist das erste Zeugnis einer andauernden Faszination, die offenbar ausging von einer nicht-rationalistischen, aus mystischem Geiste gespeisten Hinwendung zur Natur.
„Alle Geburt ist Geburt aus Dunkel ans Licht“, heißt es bei Schelling. Die lichtesten Gedanken erwachsen aus nächtlichem Grunde. Schelling hat, hierin auf Nietzsche vorausweisend, das unaufhebbar Dunkle, Abgründige, ja Dämonische in allem Sein gesehen. „Die Welt ist tief, und tiefer als der Tag gedacht.“ Er wußte um den „nie aufgehenden Rest“, die „unergreifliche Basis der Realität“. Einmal spricht er von dem „Schleier der Schwermut“, der über die ganze Natur sich ausbreite, von der „tiefen unzerstörlichen Melancholie alles Lebens“. Das hat nichts mit billig sentimentalem „Weltschmerz“ zu tun. Hier werden die Abgründe und Düsternisse des Lebens ernst genommen. Krankheit, Krisis, Wahnsinn, Schrecken und Katastrophe sind immer wiederkehrende Zentralworte in den Schriften des reifen Schelling. Die Vorstellung eines endlosen Fortschritts erschien ihm angesichts solcher Aspekte des Daseins als frivol und trostlos zugleich. Auch dieser Schelling, der, im Anschluß an Jakob Böhme, eine Theorie des Dämonischen und Bösen entworfen hat, mag heute mehr willige Leser finden als vor einem Jahrhundert, als die meisten noch ganz in den illusions du progres befangen waren.
In diesem Zusammenhang ist noch eines Umstandes zu gedenken, der Schellings mögliche Wiederkehr zu einem geistespolitischen Ereignis erster Ordnung machen könnte: die gesamte russische Philosophie huldigt seit mehr als hundert Jahren, sofern sie nicht marxistisch ist, dem Genius Schellings. Die beiden großen Religionsphilosophen Rußlands, Solowjowund Berdjajew, sind kongeniale Schüler des deutschen Denkers. Berdjajew, der 1948 im Pariser Exil starb, war den Weg von Marx und Lenin zurück zu Schelling gegangen. Obwohl in der Sowjetunion Berdjajews und Solowjows Werke seit mehr als einem halben Jahrhundert aus dem Verkehr gezogen sind, existieren in Moskau, Leningrad und anderen Städten geheime Studienkreise, die sich in diese Denker leidenschaftlich vertiefen. Sie verschaffen sich deren Bücher auf oft abenteuerlichen Wegen und fertigen illegal Abschriften an. Auf diese Weise ist in Rußland auch heute noch Schelling präsent: der Schöpfer einer weder die Materie noch den Geist verabsolutierenden All-Einheitslehre; der sich den großen Mystikern aller Zeiten verwandt fühlende homo religiosus; der über Tragik und Dämonie des Seins sinnende Grübler; der die christliche Überlieferung deutende Bewunderer Dantes und Jugendfreund Hölderlins, der im Alter öffentlich aussprach: „Wir können mit allen Künsten das Christentum nicht aus der Welt schaffen.“
Im Osten Europas ist Schelling, vielfach incognito auftretend, durchaus gegenwärtig; auch in der französischen Philosophie von Bergson bis Gabriel Marcel wurde er als „compagnon exaltant“ gepriesen. Wird er nun ― auf mancherlei Umwegen ― nach Deutschland heimkehren? Er wird wiederkehren, sofern seine Sätze aus dem Jahre 1803 noch immer gültig sind:
„Was man auch sagen möge, alles Hohe und Große in der Welt ist durch etwas geworden, das wir im allgemeinsten Sinne Metaphysik nennen … Wiedergeburt der Religion durch die Wissenschaft, dieses eigentlich ist die Aufgabe des deutschen Geistes, das bestimmte Ziel aller seiner Bestrebungen.“
(1986)