Sibylle heiliger Bluthochzeit
Nichts anderes brachte sein Mund hervor als
Jesus und Katharina“, und so empfing ich sein
Haupt in meine Hände, und sein Auge schloß sich
in göttlicher Güte mit dem Wort: „Ich will“.
Lettere di Santa Caterina di Siena XXXI.
Katharina von Siena (1347 bis 1380) hatte wohl das Zeug zu einer italienischen Jeanne d’Arc; vielleicht wäre sie unter anderen Umständen ein weiblicher Garibaldi an der Spitze nationalrevolutionärer Freischaren oder auch eine toskanische Charlotte de Corday geworden. Die Färberstochter ist jedenfalls eine Frau aus dem Volke, in ihrer Sprache von beispielloser Kühnheit gegenüber Machthabern und Würdenträgern; von Titeln, Reichtum und Prestige läßt sich die Unbestechliche keinen Augenblick lang beeindrucken. So sehr sie den Mystiker Paulus schätzt, so wenig bezieht sie sein Wort auf sich, daß das Weib in der Gemeinde zu schweigen habe. Von den religiösen Orden bevorzugt sie entschieden den damals modernsten und radikalsten: die Dominikaner-Bettelmönche. Eine Weile spielt sie mit dem an die Legenden um die Heiligen Eugenia, Marina, Pelagia, Hildegund und Euphrosyne erinnernden Einfall, als Mann verkleidet ins Kloster zu gehen. Von der Ehe will sie nichts wissen, und als die Eltern sie zu einer Heirat nötigen wollen, widersetzt sie sich ihnen aufs äußerste. Sie träumt stattdessen von einem ihr gemäßen Leben halb nach der Art der antiken Amazonen, halb im Stil der frühchristlichen Wüstenväter, Einsamkeit und Gemeinschaft, Kriegertum und Mystik verbindend.
Aber dann wird sie trotz der erwähnten Anlagen und Neigungen weder Kreuzfahrerin noch Nonne, weder Theologin noch Umstürzlerin, sondern eine ihres Gottes ekstatisch gewisse Seherin, eine Auserwählte der katholischen Kirche, die neben Franziskus von Assisi beliebteste Heiligengestalt Italiens.
Der „Poverello“ und die „Mamma dolce“, wie man die asketisch lebende Katharina wegen ihrer notorischen Nächstenliebe genannt hat, verkörpern jedoch zwei sehr verschiedene Heiligkeitsstile. Franziskus erscheint uns als das Urbild des kindhaft strahlenden und liebenswürdig unbekümmerten Italieners, der sich nicht ängstlich um den morgigen Tag sorgt, weil Gott in diesem Land ohnehin schon seit eh‘ und je spürbarer als anderswo für die „Pflanze Mensch“ als freundlicher Gärtner sorgt. Katharina hingegen, sosehr sie Glaube, Mystik und visionäre Gabe mit ihm teilt, ist von anderer Art: herber, rebellischer und, um es etwas mißverständlich auszudrücken, „männlicher“ als der demütige Bruder Franz. In diesem Mädchen, das nie ein Kind wie andere gewesen ist, glüht etwas Stolzes, Hochfahrendes und Grimmiges, das uns auch heute noch erbeben läßt. Vielleicht hat kein Heiliger vor ihr so oft gesagt: „Ich will“. Sie kann erzürnen wie eine Erinnye. Manchmal unterfängt sie sich, sogar Jesus zu tadeln; noch weit mehr stimmt sie mit ihm in so hohem Maße überein, daß sie als sein Mundstück mahnt, droht, weissagt und wettert. Katharina unterschlägt nicht den unheimlichen, rätselhaften, ja schreckenerregenden Christus, der die Wechsler mit der Geißel aus dem Tempel treibt, der durchaus ewige Höllenstrafen ansagt, von einer unsühnbaren Sünde wider den heiligen Geist spricht und an anderer Stelle keineswegs dem Frieden, sondern dem Krieg das Wort redet: „Ich bin gekommen, Feuer in die Welt zu werfen, und was will ich anders, als daß es brenne? Meint ihr, ich sei gekommen, den Frieden auf Erden zu bringen? Nein, sage ich, vielmehr Zwietracht.“ Wenn sich Franziskus der Frau Armut und Heinrich Seuse der gestalt- und antlitzhaft erfahrenen „Ewigen Weisheit“ vermählt, so weiß sich Katharina von Siena eins mit der göttlichen Vorsehung selbst. Dabei wirkt sie trotz ihrer Leidenschaft keineswegs wie eine überspannte Exzentrikerin oder Besessene; es sei denn, daß wir unsere aufgeklärte Nivelliertheit und Transzendenzunfähigkeit mit seelischer Gesundheit gleichsetzen wollten ( was aber nicht gerade selbstkritisch, vorurteilsfrei oder auch nur duldsam wäre).
Es wird für immer ein Geheimnis bleiben, was diese seltsame, manchmal sehr befremdliche Frau wirklich erlebt und erfahren hat. Wir sind vielleicht dazu verurteilt, die sie schon bei Lebzeiten umrankende Legende zu „hinterfragen“, wie der bezeichnenderweise unfreiwillig komisch klingende Intellektuellenausdruck lautet; aber wir können sie gewiß nicht völlig entbehren, sofern wir von ihr überhaupt sprechen, uns mit ihr einlassen wollen. Ansonsten gibt es nur ihre Briefe. Aber damit hat sich die Schwierigkeit, mit der ebenso streitbaren wie gottesinnigen Italienerin auf die heute übliche Weise in Kontakt zu kommen, bloß um eine Stufe verschoben. Katharina von Siena war nämlich, erstens, eine Analphabetin und, zweitens, sind die von ihr durchweg diktierten Briefe erst nach ihrem Tode von ihren Freunden gesammelt und trotz aller Pietät überarbeitet, insbesondere aber gekürzt worden.
Katharinas epistolarische Wirksamkeit stützte sich auf ihr „Büro“, in dem ihr freundschaftlich zugeneigte und geistlich gleichgesinnte Schreiber arbeiteten. Bereits diese „Sekretäre“ redigierten oder übersetzten sozusagen das, was die Seherin in bisweilen verzücktem Zustande gesagt hatte. Ähnlich ging bekanntlich noch im vorigen Jahrhundert Clemens Brentano vor, als er die Schauungen der westfälischen Nonne und Stigmatisierten Anna Katharina Emmerick aufzeichnete. Hier wie dort hat sich bei der Umsetzung von mündlicher Rede über Feder und Tinte auf Pergament oder Papier manches nicht unerheblich verändert. Beide Katharinen ― die von Siena und die von Dülmen ― haben in ihren Reden zweifellos viele einheimische Ausdrücke gebraucht, während in den uns vorliegenden Fassungen alle Dialektspuren getilgt sind. Was die mittelalterliche Visionärin betrifft, so faßt die Mystik-Expertin Louise Gnädinger das Problem mit den Worten zusammen: „Die Abschriften der Briefe sind lückenhaft und ohne Chronologie. Allzu Privates, vielleicht Intimes berührende geistliche Ratschläge und Ermahnungen, ließ man bald weg… Triviale Mitteilungen, an denen man natürlich heute, um das alltägliche Zusammenleben der caterinianischen ,famiglia‘ besser kennenzulernen, sehr interessiert wäre, fielen für immer weg, selbstverständlich auch politisch heikle Passagen.“
Von den fast vierhundert Briefen der Heiligen, die uns überliefert sind, gibt es keine Autographe; nur etwa sieben liegen wenigstens in der Urschrift ihrer Sekretäre vor, bei allen andern handelt es sich um Abschriften und Abschriften von Abschriften. Für sämtliche gilt, daß sie nicht nur keine „Originale“ sind, sondern auch gar nicht zu biographischen und historischen, sondern einzig zu religiösen Zwecken verfaßt wurden. Sie wollen als „geistliche Dokumente“ gelesen sein ― dies auch im Sinne ihrer Urheberin, die höchstwahrscheinlich die postume Tilgung des „Allzumenschlichen“ sogar gebilligt hätte.
Die Briefe, die in gewisser Weise ein Werk ihres Kreises darstellen, dürfen dennoch in einem tieferen Sinne als authentisch angesehen werden. Dies wieder aus zwei Gründen. Die Schreiber verehrten Katharina als eine gottbegnadete Auserwählte und hätten sich wohl kaum zu erdreisten gewagt, ihre Worte absichtlich zu verfälschen. Gewichtiger ist jedoch das Argument der nicht auf das Historische und Philologische eingeschränkten Ursprünglichkeit im spirituellen Sinne: Solche Dinge erfindet und kompiliert man nicht, sie können sich unmöglich bloßer Mache verdanken, sie sind das Ergebnis einer spezifischen „Genialität“. Sofern er ein gewisses Organ für Texte solcher Art hat, wird wohl auch der kirchenfremde, sogar der areligiöse Leser zu diesem Urteil gelangen. Er wird zumindest ahnen, daß es hier einen Kern gibt, der sich nicht hinwegrationalisieren läßt. Ob man ihn auf eine seltene Art von Feinfühligkeit, sozusagen einen gesteigerten „musikalischen“ Sinn in religiösen Dingen, auf schöpferische Eruptionen aus dem Un- oder, besser, Überbewußten oder auf einen Zuspruch aus uns transzendenten Sphären, auf Gnade im theologischen Sinn des Wortes zurückführen kann, mag der einzelne Leser selbst entscheiden.
Was muß dies für eine Frau gewesen sein, die, kleiner Leute Kind und eines von insgesamt fünfundzwanzig Geschwistern, seit ihrem sechsten Jahr andauernd von himmlischen Erscheinungen heimgesucht wird; trotz strengster Askese einem Leben im Kloster eines in der „Zelle des Herzens“ vorzieht; dann sich aus mystischem Antrieb bis zum Heroismus den Werken der Nächstenliebe widmet; und schließlich mit Feldherren, Kondottieri, Legaten, Fürsten, Kardinälen und Päpsten in Verbindung steht ― als Ratgeberin und Vermittlerin, aber auch als zornesmächtige und wortgewaltige Züchtigerin und sendungsbewußte Prophetin. Katharina hat gekrönte Gangster und infulierte Schwächlinge zurechtgewiesen, gemaßregelt und verurteilt. Erschüttert liest man zum Beispiel ihren Brief an den Bandenführer Bartolomeo Smeducci von Sanseverino, dem sie mit heiligem Eifer und lyrischem Schwung ihre erhabenen Gedanken darlegt, um ihn zu einem weniger rohen Leben zu veranlassen: „Wie töricht wäre der Mensch, auf etwas zu bauen, das nicht währt; auf die Zeit zu warten, die man doch nicht besitzen kann; und das zu fliehen, was man allein in sicherem Besitz haben kann: die Gnade… Folgen Sie den Spuren des Gekreuzigten, waschen Sie sich rein in seinem Blut, bergen Sie sich in seinen Wunden! Entschuldigen Sie meine Liebe und den Schmerz darüber, uns verbohrt und blind in das Unglück der Todesünde rennen zu sehen…“ Die selbe Visionärin, die auf diesen massakrierenden Gewaltmenschen einredet, erkühnt sich, der Königin von Neapel ohne Umschweife zu sagen: „Niemand, sei er Fürst, sei er reich oder sei er aus dem Adel, niemand kann es sich leisten, dem milden Herrn Jesus nicht zu dienen.“ Die furiose Frau, die dem Erzbischof von Otranto gebietet, eine „feste Säule“ zu sein, und grimmig drei Kardinäle „feige Mietlinge“, „erbärmliche Ritter“, „Strohhalme“, „Pestgestank“ und „Teufel“ schilt, pflegt auch Pestkranke, begleitet Opfer politischer Justiz bis zum Schafott, schützt Juden und uneheliche Kinder vor Angriffen. Sie hat vergeblich einen Kreuzzug gegen die Türken gepredigt, aber mit diplomatischen und bisweilen auch sehr undiplomatischen Mitteln ständig für die Befriedung des damals heillos zerstrittenen Italien gewirkt. Sie hat unter der Korruption der römischen Kirche kaum weniger als später Hus, Savonarola und Luther gelitten, aber dessen ungeachtet niemals mit ihr gebrochen. Die Reformation war ihr ein Herzensanliegen, aber sie wurde deshalb nicht zur „Protestantin“. Sie roch den Sündenpfuhl der Kurie bis nach Siena, wie sie einmal drastisch sagte, und machte sich keine Illusionen über die menschlichen Qualitäten höchster Würdenträger; aber sie kämpfte für die Rückkehr des zum Satelliten der Könige Frankreichs gewordenen Papstes aus Avignon nach Rom. Das Ende des „babylonischen Exils der Kirche“ ist das Werk dieser zeitlebens körperlich schwachen und kränkelnden Frau, die alle Briefe „im kostenbaren Blut des Gottessohnes“ schreibt und auffällig oft mit der vielsagenden Formel abschließt: „Non dico piu“, „Mehr sage ich nicht.“
Katharinas „Blut-Mystik“ ist ein Kapitel für sich. Sie muß moderne Leser, die meist ebenso verzärtelt wie verkopft, ebenso wehleidig wie kaltherzig, ebenso humanitätsbesoffen wie rücksichtslos-brutal sind, beinahe unvermeidlich schockieren. Wer Schmerzlosigkeit und Abtreibungsfreiheit als einklagbare Menschenrechte zugleich zu fordern imstande ist, dem traue ich auch zu, daß er Katharinas Mystik des heiligen Blutes als „Rationalisierung“ oder „Überbau“ perverser Gelüste abtut. In Wirklichkeit hat sie jedoch nicht das geringste mit Sadismus oder Masochismus zu tun. Anstatt in Abstraktionen und Floskeln denkt die leidenschaftliche Christozentrikerin sinnenhaft und leibbezogen, in Chiffren, Bildern und Gesichten. Ähnliches tut später noch der Romantiker Novalis in seiner für viele anstößigen Abendmahlshymne. Dort stehen die Verse: „Einst ist alles Leib, / Ein Leib, / In himmlischem Blute / Schwimmt das selige Paar…“ Der deutsche Dichter pietistischer Abkunft greift damit unbewußt das Leitmotiv der sienesischen Mystikerin auf. Für Katharina ist das Sühneblut des auf Golgota geopferten Gottmenschen das Unterpfand der Erlösung: „Tauchet unter im Blute Christ, des Gekreuzigten; badet euch in seinem Blute, sättigt euch im Blut, berauscht euch im Blut, bekleidet euch mit Blut, leidet im Blut, freut euch im Blut, wachset und werdet stark im Blut…“
In Novalis‘ Tagebuch, das er nach dem Tode seiner jungen Braut zu schreiben anfing, steht der lapidare Satz: „Christus und Sophie“. Der Dichter deutet damit an, daß die verstorbene Sophie über ihm, weil Christus näher sei. Sie erscheint ihm als :F,
Schutzgeist und Mittler zu Christus, so wie Christus der Mittler zum Vater ist. Auch dazu gibt es eine Parallele im Leben der italienischen Mystikerin des heiligen Blutes. Als an einem strahlenden Frühlingsmorgen des Jahres 1369 Niccolo Toldo, ein junger, des Hochverrats bezichtigter Ritter aus Perugia, durch die Gassen Sienas zum Tode geführt wird, erwartet ihn nahe dem Blutgerüst die betende Katharina. Sie hatte ihn in der Gefangenschaft getröstet und dazu bewogen, sich mit Gott zu versöhnen. Sie erfüllt den letzten Wunsch des Verurteilten. Er hatte das ihm vor seiner Kerkerhaft unbekannt gewesene Mädchen gebeten, bei der eigenen Hinrichtung zugegen zu sein. Als er vor dem Scharfrichter niederkniet, entblößt Katharina seinen Hals, kniet neben ihm nieder und erinnert ihn an das Blut des Lammes. Toldos Lippen bringen nichts anderes hervor als die Parole:, Jesus und Katharina!“ Dann wird er enthauptet. Sein Blut rötet das Gewand der jungen Todesbegleiterin. Als zwei Frauen herbeieilen, um die ohnmächtig gewordene Katharina aufzuheben und zu stützen, erwacht die Heilige mit dem ekstatischen Ruf: „Ich habe den Himmel gesehen.“ Eine der Frauen schickt sich an, das Blut, das vom weißen Kleid der Todesbegleiterin träufelt, mit einem Schwamm abzuwischen. Aber die Jungfrau wehrt sie heftig ab: „Laßt mir meinen Purpur und Duft!“ Für Katharina gehört der politische Verbrecher zur Zahl jener, die, wie die Geheime Offenbarung sagt, ihre Kleider im Blut des Lammes reingewaschen haben. Sie beneidet ihn um seinen gewaltsamen Tod, den sie als Opfer und Zeugnis in der Nachfolge Christi, als Martyrium und Bluthochzeit deutet. Im geköpften Kriminellen sieht sie sowohl das zur Schlachtbank geführte Lamm Gottes als auch den durch Jesu freikaufendes Blut Erlösten. Dieser aber stirbt mit dem Ruf: ,Jesus und Katharina!“ Das gräßliche Schaustück der Hinrichtung erfahren zwei junge Menschen als Mysterium. Toldo stirbt den Tod der Namenspatronin seiner Trösterin, der ebenfalls durch Schwerthieb umgebrachten Katharina von Alexandrien. Er stirbt den Tod, nach dem sich im Grunde ihres Wesens auch Katharina von Siena selbst sehnt. Sie aber sieht ihn geborgen in der Herzwunde des gekreuzigten und auferstandenen Jesus. Die geöffnete Seite Christi erscheint ihr in geradezu barocker Weise als Kammer der Barmherzigkeit; vielleicht denkt sie auch an eine Weinschenke, die den ermatteten Wanderer tröstlich aufnimmt, oder eine Apotheke, die dem sonst zu Tode Verwundeten die rettende Arznei bereithält. Der in Heidelberg wirkende Religionshistoriker Rolf A Beyer bemerkt dazu in seinem Buch „Die andere Offenbarung“ (1989), das er der weiblichen Mystik des Mittelalters gewidmet hat: „Dem blutigen Alltag der Politik stellt Katharina eine Mystik des Blutes entgegen, die von Frieden, Heilung und Bewahrung menschlichen Lebens bestimmt ist .. .Inder Verwirklichung einer energetischen‘ Mystik liegt ihre besondere Bedeutung. Bei ihr schlägt die mystische Innenerfahrung unmittelbar um in konsequentes Handeln, Meditation gestaltet sich als Aktion, Weltentsagung verwandelt sich in Weltzuwendung.“
Das Merkwürdigste an dieser Geschichte ist jedoch, daß Katharina selbst sie in einem Brief mit allen Einzelheiten samt ihrer Deutung festgehalten hat. Dem aufmerksamen Leser, der sich durch die auf den ersten Blick befremdlichen Sinnbilder nicht abstoßen läßt, erschließen sich reichverzweigte Zusammenhänge. Rückwärts wie vorwärts tun sich ihm Fenster in sehr verschiedene Welten auf, zum archaischen Opferkult, zur Gralssage, zur Abendmahlstheologie, zur Lehre von den Archetypen und auch zu einem tieferen Verständnis dessen, was mit dem abgegriffenen Pfennigwort „Solidarität“ zutiefst gemeint sein könnte. Alles wird durch den Glauben zusammengehalten, daß „die ewige Wahrheit uns ohne uns erschaffen hat, uns aber nicht ohne uns erlösen kann.“
Katharina von Siena hat nur ein Alter von dreiunddreißig Jahren erreicht. Wer wissen will, welche Dimensionen ein kurzes Leben haben und welche Kraft in einer ständig kränkelnden Frau stecken kann, der lese die Briefe dieser Analphabetin, die alle theologischen Traktate ihres Jahrhunderts an Eindringlichkeit und Erfahrungsgehalt turmhoch überragen. Von zartgliedriger Figur und zeitlebens zerbrechlicher Verfassung, zeigt sie sich im nachhinein als unnachgiebige, herrische und herausfordernde Riesin, der kein einziger Mann gewachsen war. „Wenn es wahr ist, daß vollendete Menschlichkeit erst im Aushalten von zerreißenden Widersprüchen erfahren wird, dann ist Katharina ein
bedeutendes Beispiel“, sagt zur Recht Rolf A. Bayer, der sie in eine Reihe mit Hildegard von Bingen, Mechthild von Magdeburg, Marguerite Porete, Angela von Foligno, Birgitta von Schweden, Juliana von Norwich und den großen Beginen stellt. Die geistige Ingestalt dieser Seherin und Dulderin lebt in den überlebensgroßen Sibyllen Michelangelos, ihr liturgisches Andenken im Gebet der Kirche weiter, das sie regelmäßig am 30. April wiederholt: „Allmächtiger Gott, gib, daß wir dieses alljährlich wiederkehrende Fest froh begehen und dank dem Beispiel so großer Kraft fortschreiten.“
(1990)