Wo mir die Schweiz gefällt

von Gerd Klaus Kaltenbrunner

Antwort auf eine Rundfrage des „Badener Tagblatts“

Wenn ich gefragt werde, wo mir die Schweiz oder was mir an ihr gefällt dann kommt mir unwillkürlich vielerlei in den Sinn: Erlebtes, Gelesenes, Vernommenes, wohl auch im Rückblick vergoldete Erinnerungsbilder, teilweise sogar Gestalten und Anblicke einer möglichen, wünschbaren, vielleicht utopischen Schweiz.
In den Sinn kommt mir die von flackerndem Kerzenlicht traulich erhellte, nach Weihrauch duftende und von Orgelgebraus durchhallte Schweiz, die heilige Schweiz, die Helvetia mystica des Mittelalters: das Land der Schwarzen Madonna von Einsiedeln; der alpine Zwischenaufenthalt frommsinniger Romfahrer und Jakobspilger; die Heimat und Wirkungsstätte der apostolischen Märtyrer, Bekenner, Kulturbringer, Friedensstifter und Wundertäter Gallus, Otmar, Gaudentius, Lucius, Valentin, Flurin, Meinrad und Nikiaus von der Flüe; der Bereich der Waldklause in der Ranftschlucht und der Abteien St. Gallen, Engelberg, Muri, Kreuzungen und Müstair; das durch die ehrwürdigen Kathedralen, Dome und Stiftskirchen von Basel, Bern, Lausanne und Chur umrissene Kultgebiet; der durch unzählige kleine, vielfach versteckte, doch eben deshalb oft wunderbar anheimelnde Heiligtümer geweihte und künstlerisch gestaltete Boden von Saanen, Solothurn, Zillis, Fex-Crasta, Malans, Tschamut, Poschiavo, Capolago und Saint-Ursanne.
In den Sinn kommt mir das republikanische Land der vielen Schlösser und Burgen, von denen einige die Schauplätze und Kulissen eines von mir noch nicht vollständig niedergeschriebenen Romanes abgeben: Chillon, Haldenstein, Castelmur, Marschlins, Tarasp, Mesocco, Ortenstein, Thun, Lenzburg, Greyerz, Dullier und Coppet.
In den Sinn kommt mir ein riesiges Himmelbett in einer gotisch anmutenden Herberge unweit des Bodensees, deren steiles Dach mit buntglasierten Biberschwanzziegeln und drachenköpfigen Wasserspeiern versehen ist; ein Imbiß mit köstlich mundendem Gebirgsbrot, Bündner Fleisch und trockenem Fendant im nachsommerlichen Garten der „Sonne“ im Fextal; ein Augusttag, verbracht im Wenkenpark in Riehen bei Basel, wo ich Skulpturen von Rodin, Maillol, Brancusi, Alberto Giacometti und Tinguely bewunderte — noch mehr aber meine ein wenig verwirrte alemannische Begleiterin, der ich unter einem Ahornbaum eine visionäre Philosophie der Liebe aus dem Stegreif darlegte.
In den Sinn kommen mir die zwischen Rokoko, Empire, Biedermeier und diskretem Historismus hin und her schwingenden Villen, Residenzen und „Campagnen“ genannten Patriziersitze im Berner Vorort Elfenau, wo in einer vom Stadtwald umschatteten Kapelle die Gebeine eines heute fast vergessenen Philosophen namens Rudolf Maria Holzapfel ruhen; die unzähligen Wasserfälle, die aus firnigen Gletscherhöhen wie zürnende Kamikaze-Cherubim brüllend in türkisene Tiefen niederstürzen und den vom Norden kommenden Tessinfahrer wie Wunder aus Schöpfungsfrühe überwältigen; ein nächtliches Gelage auf dem von schmiedeeisernem Gitter umsäumten Balkon eines altmodisch-
idyllischen Hotel garni in Melide, wo, soviel ich mich erinnere, fast alle Einheimischen Bernasconi, Perzenti oder Chiesa heißen, eine strohumflochtene Rotweinflasche hin gegen einhellig „Fiasco“ genannt wird.
In den Sinn kommen mir die niedlich ringsum verstreuten, immer blitzblank schimmernden Bauernhäuslein Appenzells und des Toggenburgs, zwischen denen lauter glückliche Kühe in
euterhohem Almengras gemächlich weiden; die mit wunderlichen Kalendersprüchen, gewaltigen Spinnengeweben und drollig naiven Bildern verzierte hölzerne Kapellbrücke über die Reuß im Zentrum Luzerns; die unermüdlich plätschernden Brunnen Schaffhausens mit ihren prunkvoll bunten Ritter-, Landsknechts-und Heiligenfiguren; das so ganz und gar altdeutsche Atmosphäre vermittelnde Städtchen Neunkirch im Oberklettgau, das die Erwartung nährt, im nächsten Augenblick würde Albrecht Dürer, Hans Sachs oder Jakob Böhme das buckelige Pflaster treten; und noch einige andere Orte, deren Namen für mich halb nach mozärtlicher Musik, halb nach Meister Gottfried Kellers „Sinngedicht“ und „Sieben Legenden“ schelmisch klingeln — süße und spaßhafte Namen, die ich aber lieber — um mit Eichendorff zu sprechen — „aus Herzensgrund“ verschweige.
In den Sinn kommen mir die hohen Manen und Penaten der viersprachigen Nation, die im Wesen alles andere als ein Kleinstaat, sondern ein commonwealth-ähnliches Reich, ein europäisches Haus mit vielen Wohnungen auf bündischem Boden ist: Johann Caspar Lavater und Albrecht von Haller, Heinrich Lambert und Jean-Jacques Rousseau, Charles de Bonnet und Johann Heinrich Pestalozzi, Johann Georg Sulzer und die kaum zu zählenden Bernoulli, Benjamin Constant und Johann Caspar Bluntschli, Jeremias Gotthelf und Rodolphe Toepffer, Ignaz Paul Vital Troxler und Charles Secretan, Johann Jacob Bachofen und Henri Frederic Amiel, Jacob Burckhardt und Alexandre Vinet, Philipp Anton von Segesser und Kaspar Decurtins, Henri Dunant und Gottlieb Duttweiler, Adrien Turel und Gonzague de Reynold, Caesar von Arx und Othmar Schoeck, Arthur Honegger und Frank Martin, Paul Häberlin und Hans Urs von Balthasar, Francesco Chiesa und Adolf Portmann, Ludwig Hohl und Karl Schmid, Walter Robert Corti und Ferdinand Gonseth.
In den Sinn kommen mir ganze Gilden von Schweizerinnen, nicht nur die von Conrad Ferdinand Meyer, Gottfried Keller, Otto Wirz, Jakob Schaffner und Albin Zollinger erdichteten Gestalten, sondern so erstaunliche, eigensinnige, kluge, beherzte, phantasiereiche, kämpferische Frauen aus Fleisch und Blut wie Germaine de Stael, Meta von Salis, Elena Bonzanigo, Cecile Ines Loos, Regina Ullmann, Corinna Bille, Cecile Lauber, Anne Perrier, Annemarie Schwarzenbach, Claudia Storz, Silja Walter, Elsie Attenhofer und Jeanne Hersch. Des weiteren kommen mir in den Sinn die Malerin Emilie Linder aus Basel, Muse des Münchner Philosophen Franz von Baader und „letzte Liebe“
Clemens Brentanos, und Nanny Wunderly-Volkart, die fürsorgende Meilener Freundin Rilkes in dessen letzten Lebensjahren.
In den Sinn kommen mir bestimmte Gemälde oder Zeichnungen von Nikiaus Manuel und Konrad Witz, von Albert von Keller und Jean-Etienne Liotard, von Johann Heinrich Füssli und Albert Anker, von Ferdinand Hodler und Arnold Böcklin, von Giovanni Segantini und Felix Vallotton, von Paul Basilius Barth und Alfred Heinrich Pellegrini, von Paul Klee und Hans Erni.
In den Sinn kommen mir die von Hirten, Nymphen und Faunen bevölkerten Gefilde Salomon Geßners; die den Grünen Heinrich zwischen Teilspiel, Mitternachtskaffee und Apfelernte sich zähmende Judith, diese hinreißende Iphigenie mit roten Wangen, Schwyzerdütsch liebkosenden Lippen und schickem Dirndlkleid statt antikischem Peplon; die im „Jörg Jenatsch“ beschworenen wolkenverhangenen Alpenübergänge und dämm-rigen Bündner Ratsstuben, in denen ränkereich Politik gemacht wird; das olympische Holterdiepolter der Heroen und Heidengötter Carl Spittelers, aber auch dessen staatsmännische Weisheit zur Zeit des Ersten Weltkriegs (die ihn turmhoch über die
meisten Literaten des Jubeljahres 1991 erhebt); und ich vergesse nicht „Fritz Kochers Aufsätze“, „Geschwister Tanner“ und andres von Robert Walser — jeden Mann und jede Frau beneidend, die ihn noch nicht gelesen haben, weil ein Seelenerdteil ohnegleichen ihrer entzückten Entdeckung harrt.
In den Sinn kommen mir die vielen Deutschen, die bei den im Gerüche engstirniger Zugeknöpftheit
stehenden Eidgenossen als Flüchtlinge und Verbannte, als Fremdarbeiter und Badekurgäste, als Bergsteiger oder Dauermieter Asyl, Arbeit, Anregung und Aufschwung gefunden haben: Goethes Besuche bei Lavater; Wielands Lehrjahre bei Johann Jacob Bodmer und Julie Bondeli; das noble Zeugnis, das Anton von Gonzenbach dem scheidenden Hölderlin mit auf den Weg gibt; Hegels Hofmeistertätigkeit und religionsphilosophische Gehversuche in dem Berner Triennium; des Preußen Johann Gottfried Ebel bahnbrechende „Schilderung der Gebirgsvölker der Schweitz“; Joseph Görres, der, von Metternich geächtet, in Aarau seine apokalpytisch-furiose Denkschrift „Europa und die Revolution“ verfaßte; Georg Büchners Habilitierung in Zürich, wo er tagsüber mit medizinischen Präparaten hantiert, des Nachts aber am „Woyzeck“ arbeitet; Schellings Tod im sanktgallischen Bad Ragaz, wo ihm der bayrische König ein aufwendiges Grabdenkmal stiftet: „Dem ersten Denker Deutschlands“; Friedrich Theodor Vischers Ästhetik-Vorlesungen an der Universität Zürich; Nietzsches Freundschaft mit Franz Overbeck und seine Zarathustra-Hochwege zwischen Silvaplana, Fextal und der Halbinsel Chaste bei Sils-Maria; Fritz Willy („Vilfredo“) Pareto, Klassiker der Wirtschaftswissenschaft und Bahnbrecher einer ideologiekritischen Soziologie, in seiner von Katzen überfüllten Villa am Lac Leman; Hermann Hesse in Montagnola und die Internationale der Sonderlinge und Weltreformer auf dem Monte Veritä bei Ascona; die Geburt des literarischen Dadaismus im „Cabaret Voltaire“, unweit der Zürcher Unterkunft Lenins; Hugo Balls späteres Einsiedlertum in Agnuzzo und Ludwig Derleths Solitüde in San Pietro di Stabio, wo er sein poetisches Universum „Der fränkische Koran“ endlos fort- und weitererschuf (und das uns bis heute unzugänglich geblieben wäre, hätte nicht der St. Galler Literaturforscher und Dichterfreund Dominik Jost es durch mustergültige Herausgabe und tiefschürfende Deutung gesammelt, gesichert und geborgen); die Errettung des Weltraum- und Äonenhymnikers Alfred Mombert aus dem Internierungslager Gurs dank der Bemühungen Hans Reinharts, Else Dombergers und anderer Freunde, und Momberts Grab in Winterthur; Karl Jaspers sozusagen als Nachfolger Erasmus‘ und Nietzsches in Basel; Ludwig Klages als Ausleger und Fortführer des Matriarchats- und Totenkultarchäologen Bachofen in Kilchberg, nahe C. F. Meyers Grab wie dem Schreibtisch des aus amerikanischem Exil zurückgekehrten Thomas Mann; und endlich Rudolf Pannwitz, der in der Nachfolge Nietzsches wirkende Wahltessiner Dichter, Polyhistor und Kosmologe, für den sich nun schon seit mehr als einem halben Jahrhundert als getreuester Getreuer ein Schweizer einsetzt, der selbst als Lyriker, Essayist und Philosoph von Rang dasteht: Erwin Jaeckle.
In den Sinn kommen mir fast zuletzt, obwohl sie zeitlich und dem Range nach ziemlich vornan stehen müßten, die alemannischen Dichter-, Künstler- und Übersetzer-Mönche der Benediktinerabtei St. Gallen des neunten, zehnten und elften Jahrhunderts: Ratpert, Tuotilo, Notker Teutonicus, Ekkehart IV. und insbesondere Notker Balbulus, auf den neben dem halb sagenhaften Anekdotenbuch „Taten Karls des Großen“ auch die lateinische Urfassung des deutschen Volksliedes zurückgeht: Media vita in morte sumus, „Inmitten des Lebens sind wir vom Tod umfangen …“
In den Sinn kommen mir einige langlebige Zeitungen und Zeitschriften der Schweiz; die ach, sich schmerzlich verringernde, aber trotzdem noch erstaunliche Vielfalt der helvetischen Presse; das hohe Niveau etlicher Journale (eingeschlossen mancher bloß regional oder kantonal verbreiteter Gazetten mit kleiner und kleinster Auflage): die allwöchentlich erscheinende Beilage „Literatur und Kunst“ der „Neuen Zürcher Zeitung“
oder auch die vergleichbare geistesökologische Nische des vorliegenden Blattes, dessen im Berner Bundeshaus residierender Redaktor so freundlich war, einen im badischen Schwarzwaldstädtchen Kandern lebenden Österreicher und die Größe des kleinen liebenden Ästheten zu fragen, ob und wo ihm die Schweiz ein Wohlgefallen sei. Nun, sie ist es vielfach und vielenorts und wird es, darauf baue ich mit hochgemutem Pessimismus, auch noch eine Weile bleiben.

(1991)

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