Sparta

Eine weltgeschichtliche Betrachtung

von Gerd-Klaus Kaltenbrunner

So wie Brandenburg-Preußen der „Nordpol“, das alte Österreich der „Südpol“ der deutschen Geschichte in der Neuzeit war, so prägte der Gegensatz zwischen Sparta und Athen jahrhundertelang die griechische Politik und Kultur. Ähnlich wie Preußen und Österreich nicht nur staatliche Gebilde darstellen, sondern auch Lebensformen, Geistesarten und ethische Stile, so auch Sparta und Athen. Der Dualismus wirkte noch prägend, als beide griechische Stadtstaaten längst ihre einstige Macht und schließlich auch ihre Unabhängigkeit verloren hatten. Ähnlich wie es im alten Reich der Deutschen viele Staaten gab, darunter etliche von winzigsten Ausmaßen, so bildete auch das antike Griechenland keine politische Einheit. Es stellte einen buntscheckigen Teppich von Städten und Dorfkonföderationen dar, die eifersüchtig auf ihre Unabhängigkeit bedacht waren. Etliche dieser „Poleis“ haben zeitweise sowohl in politischer als auch in kultureller Hinsicht eine bedeutende Rolle gespielt. Ich erwähne als Beispiele die kleinasiatischen Griechenstädte Ephesos, Miletund Smyrna, die griechischen „Kolonien“ am Schwarzen Meer und in Sizilien sowie Unteritalien; ich erwähne auf dem hellenischen Festland Korinth und Theben, Argos und Nemea, Eleusis und Delphi; und schließlich die vielen ägäischen Inselstaaten wie Kreta, Zypern, Rhodos, Samos, Lesbos, Delos, Chios, Kos und so weiter. Jeder dieser Namen steht für eine Facette des Griechentums, jeder bezeich-net einen unverwechselbaren Aspekt hellenischer Kultur. Doch einzig Sparta und Athen haben den Rang weltgeschichtlicher Symbole erlangt. Nur sie sind Denkmäler und Marksteine von epochaler Bedeutung, Chiffren und Modelle von Lebenshaltungen und Ethosformen, die, grundsätzlich nicht an einen bestimm ten Ort oder Stamm gebunden, menschheitliche Grundmöglichkeiten repräsentieren und deshalb immer wiederkehren können. Sie sind, platonisch gesprochen, „Ideen“, die sich unter bestimmten Bedingungen stets von neuem verkörpern können. Sie sind keine blutleeren Abstraktionen, sondern realitätsgesättigte und jederzeit in das wirkliche Geschehen hineinwirkende Modelle geschichtlicher Existenz. Sie repräsentieren entgegengesetzte Urformen politischer Verfassung, aber darüber hinaus auch metapolitische Entwürfe von treffender Evidenz. Der Peloponnesische Krieg, der „Griechische Weltkrieg“, wie ihnThukydides meisterhaft darstellt, ist die höchste Epiphanie dieses Gegensatzes, die Agonie der unschlichtbaren Zwist-Zweiheit Sparta-Athen.
Sparta, für Platon, aber auch Rousseau und zuletzt noch Maurice Barres, ein Gemeinwesen von normativer Größe, ja gerade zu das Musterbild eines „wahren Staates“, gilt nun schon seit langem als Popanz einer modischen Politologie, die sich freiwillig zur „zeitgeistlich“ engagierten Modewissenschaft erniedrigt hat.
„Spartakist“ darf man sein, natürlich, das ist ja keine rechtsradikale, sondern eine kommunistische Kadergruppe. Kommunismus gilt inzwischen schon als eine Art von Demokratie. Spartakist zu sein, hat heute nichts Anrüchiges mehr. Man kann sich dabei mit reinem Gewissen auf die linksradikale Heroine Rosa Luxemburg berufen, die von der Bundesrepublik Deutschland vor einigen Jahren mit einer Briefmarke geehrt wurde; und 1986 sprach sich auch die christdemokratische Politikerin Hanna-Renate Launen für ein Denkmal zu Ehren der beiden Spartakusbündler Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht aus. Spartakismus ist links, also nett; denn er erinnert an den Sklaven Spartakus, der nicht aus Sparta, sondern aus Thrakien stammte und einen Aufstand gegen die römischen Herren organisierte. Sparta hingegen ist der wahre Gottseibeiuns, Hitler als Hellene; Sparta-nertum gleichbedeutend mit Schroffheit, Schinderei und Strenge, ja Gasgeruch. Was immer man zugunsten Spartas einwenden mag, die pfäffische Antwort der Hohenpriester der Göttin Demokratie wird eintönig lauten: „Tut nichts! Der Spartaner wird verbrannt!
„Was sind jedoch schöngeistige Demokratielehren im Ernstfall wert, in dem Augenblick, in dem es nicht um das Ferienproblem geht, ob man mehr oder weniger demokratischen Komfort sich gestatten will, sondern um die existentielle Herausforderung: entschlossener Kampf oder Untergang? Welches Gewicht werden auf der Waagschale weltgeschichtlicher Nemesis die demokratischen Sophismen haben an dem Tage, an dem die Armeen des Feindes die Grenzen des Landes überschritten haben, begrüßt von der fünften Kolonne im Innern, die sich, die fremde Fahne frenetisch entrollend, auf die folgende Kollaboration einzustellen beginnt? Ist dann nicht der gnadenlose Moment gekommen, in dem es nur noch diese Alternative gibt: Aut Spartiates aut Spartacus? Entweder Spartanertum oder Spartakismus? Entweder militärisches Regiment oder Versklavung? Darauf werde ich noch im folgenden zurückkommen.
Fällt heute der Name Sparta, dann entsinnt sich kaum jemand des Mythos, demzufolge Helena, die schönste Frau der Welt, und das unzertrennliche Heldenbrüderpaar Kastor und Pollux, die postum im Sternbild der Zwillinge mit himmlischem Heimatrecht ausgezeichneten Dioskuren, spartanischer Abkunft waren und in Sparta am meisten verehrt wurden. Niemand denkt daran, daß Kythera, die der Liebesgöttin Aphrodite geweihte Insel der Seligen, zum Bereich Spartas gehört hat. Vorbei sind die Zeiten, da sich ein die Sagen des klassischen Altertums mit klopfendem Herzen lesender Schuljunge daran begeistern konnte, daß Sparta, obwohl mitten in der Ebene des Eurotas gelegen, bis in hellenistische Zeiten hinein auf eine Stadtmauer verzichtete. Künstliche Befestigungen und Bollwerke ersparten sich die Spartaner, weil hier die Männer selbst der Staat waren, auf die Kraft ihrer Fäuste und Waffen bauende Hopliten jeder ein Stein in der lebendigen Trutzmauer wachsam wehrhaften Republikanertums. Vergessen ist die von Aristoteles, Plutarch und anderen antiken Autoren bezeugte Tatsache, daß in keinem griechischen Staat die Frauen staatsbürgerlich so gut gestellt waren wie in dieser extrem männerbündischen Polis. Keine Feministin hat dankbar daran erinnert, daß mitten im patriarchalischen Griechenland ausgerechnet das als militaristisch verschrieene Sparta geradezu eine mutterrechtliche“ Oase darstellte.
Ebensowenig bekannt scheint zu sein, daß Sparta als erster Staat der Welt eine Art von Verfassungsgerichtsbarkeit kannte. Ich meine damit die fünf Ephoren, die „Aufseher über die Gesetze“, denen sogar die Befugnis zustand, die Könige — es standen stets zwei zugleich an der Spitze der Polis — vor ihr Tribunal zu ziehen. Niemand bedenkt, daß Sparta, eben weil seine Verfassung so „spartanisch“ war, das Aufkommen populärer Tyrannen, wie sie in jedem andern griechischen Stadtstaat zeitweilig zur Macht gelangten, bis zuletzt im Keim erstickt hat. Verdrängt ist nicht minder die weise Einrichtung der Spartaner, Besonnenheit, Lebenserfahrung und Klugheit der alten Menschen in Gestalt der „Gerusia“ politisch fruchtbar zu machen. Keine wichtige Staatsangelegenheit konnte beschlossen werden ohne vorherige Zustimmung dieses Ältestenrates, der, mit den das mythische Zwillingspaar Kastor und Pollux repräsentierenden gedoppelten Königen, insgesamt dreißig Mitglieder umfaßte. Mitglied der Gerusia konnte nur jemand werden, der über sechzig Jahre alt war. Die Zugehörigkeit zur Körperschaft, die das Senio-ritätsprinzip in der Politik verkörperte, galt ein für allemal: lebenslang. Zweifellos hängt Spartas jahrhundertelange Stabilität auch mit dieser Institution zusammen, die manches voreilige, unbedachte und unausgegorene Vorhaben rechtzeitig vereiteln konnte.
Aber weder die schöne Helena noch die zum gestirnten Himmel entrückten Dioskuren noch der weise Rat der Alten gelten als Einwand, wenn heute von Sparta die Rede ist. Schon garnicht darf man auf den Dichter Tyrtaios verweisen, der im siebenten Jahrhundert vorChristus lebte und sehr vieles zum Lobe Spartas gesungen hat. Dabei war Tyrtaios von Geburt Athener; es heißt, er habe gehinkt und sei ursprünglich Schulmeister gewesen. Erst später sei er Hymniker Lakedaimons und spartanischer Bürger geworden. Ähnlich ist nach mehr als zwei Jahrtausenden der Schwabe Hegel nach Berlin gegangen und dort zum preußischen Staatsphilosophen avanciert. Im Kriege zeige sich die Kraft des Zusammenhangs aller mit dem Ganzen; er sei der Geist und die Form, worin das wesentliche Moment der sittlichen Substanz vorhanden sei, lehrte wörtlich Hegel. Deshalb gilt ja auch Hegel, sofern er nicht marxistisch-dialektischer Mohrenwäsche unterzogen wurde, nachgerade als Protofaschist und „Vorläufer Hitlers“. Tyrtaios zögere ich zu zitieren, weil sein Lobpreis spartanischen Heldenmutes ihm, lebte er heute, unvermeidlich das Kainsmal „rechtsradikaler“ Verfassungsfeindlichkeit einbrächte. Eine seiner Elegien, gewidmet den Helden des zweiten Messenischen Krieges, muß liberal-pazifistischen Ohren so obszön klingen wie das prahlerische Gerülpse eines neonazistischen Stammtischpolitikers oder Horaz‘ berühmter Vers, daß es süß und ehrenvoll sei, fürs Vaterland zu sterben (Carmina III, 2,13), oder auch die Zeilen des vergeblich zum geheimen Jakobiner umgedeuteten Hölderlin:

… Lebe droben, o Vaterland,
Und zähle nicht die Toten! Dir ist,
Liebes! nicht Einer zu viel gefallen.

Aber der Römer Horaz und der Deutsche Hölderlin sind ja auch nur nachgeborene Söhne des Wahl Spartaners Tyrtaios, der bereits im siebenten vorchristlichen Jahrhundert einen sonst noch so bedeutenden und fähigen Mann für verächtlich hielt, wenn er sich nicht als Kämpfer im Felde bewährte. Ich zitiere, in der Übersetzung von Walter F. Otto, die ersten Verse der Elegie, auf die sich auch Platon in seinem Dialog „Nomoi“ (629 a-e) ausdrücklich bezieht:

Nicht gedenken will ich des Manns und seiner nicht achten,
Ob er im Laufe den Preis oder im Ringkampf gewinnt,
War‘ er auch den Kyklopen an Größe gleich und an Stärke
Und überholte im Lauf selber den thrakischen Wind;
War‘ er auch dem Tithonos an Schönheit des Leibs überlegen
Und noch reicher als einst Midas und Kinyras war;
War‘ er auch edler als Pelops, des Tantalos Sohn, von Geblüte
Und besäße Adrasts zauberisch redenden Mund;
War‘ er in allem groß, nur nicht im Sturme der Wehrkraft!
Denn nicht wird er als Mann wacher sich zeigen im Krieg,
Wenn er es nicht erträgt, das blutige Morden zu sehen,
Und mit der Waffe dem Feinde kühn vor das Angesicht tritt.
Das ist die wahre Tugend, der beste und schönste der Preise,
Den das junge Blutsich zu erringen vermag.

Tyrtaios, des Wahlspartaners, Gedicht erinnert mit unüberbietbarer Deutlichkeit daran, daß Sparta ein Kriegerstaat im wahrsten Sinne des Wortes war. Ein Staat der Strategen und Hopliten, dessen wehrkräftige Männer eine lebendige Mauer bildeten. Ein Kasernenstaat mit kriegskommunistischen und elitär-eugeneti-schen Zügen. Das Vorbild der Politeia des spartanophilen athenischen Aristokraten Platon. Das Schreckbild aller Liberalen von Wilhelm von Humboldt bis Karl R. Popper und Henri I. Marrou. Die pervers scheinende Synthese von Preußentum und Sozialismus.

Machen wir uns nichts vor! All diese Charakterisierungen, so sehr sie im Detail übertrieben, ja zerrbildlich karikierend und polemisch sein mögen, haben eine Grundlage in der Sache selbst. Wir wissen, von Athen abgesehen, über keinen antiken Staat so genau Bescheid wie über den der Spartaner, die sich selbst Lakedaimonier nannten (die Vollbürger hießen „Spartiaten“). Die haarsträubendsten Nachrichten sind gut bezeugt. Kein Zweifel ist daran möglich, daß Sparta auch noch in geschichtlich fortgeschrittener Zeit, ja gerade erst dann, im Vergleich zu Athen ein ausgesprochen archaischer, kantiger und ausländerfeindlicher Staat war. Nicht leugnen läßt sich, daß er bis zuletzt trotzig schroff auf seiner herben Andersartigkeit beharrte. Es ist zwecklos, den herausfordernden Hochmut und die dünkelhafte Überheblichkeit auch des durchschnittlichen Spartiaten zu beschönigen. Jeder von ihnen benahm sich halb wie ein König, halb wie ein Gauner, wirkte wie ein Kentaur: zur Hälfte Löwe, zur Hälfte Fuchs. Jeder Vemiedlichung widersetzen sich die authentischen Aussagen des Tyrtaios. Sie zeigen uns unzweifelhaft einen Staat, in dem der Legionär über dem Schöngeist und Kaufmann stand. Der Feldwebel genoß weit mehr Ansehen als ein noch so hochkarätiger Dialektiker oder Belletrist. Das Ideal war der aktive Unteroffizier, die ganze Ausrichtung der Kultur durchaus militärisch. Wenn eine Mutter ihren Sohn im Krieg verloren hatte, wies sie jede Beileidsbezeigung lakonisch zurück: „Ich habe gewußt, daß er sterblich ist.“ Was der zum Theaterklassiker erhobene Dramatiker Friedrich Schiller (Die Braut von Messina, 4. Aufzug, 10. Auftritt) chorisch donnernd sagt: „Das Leben ist der Güter höchstes nicht“, gehörte in Sparta zum Einmaleins politischer Bildung des simpelsten Rekruten, ja bereits des Pimpfes. Das berühmte Epigramm des feinfühligen Lyrikers Simonides auf die bei den Thermopylen gefallenen Spartaner sagt lapidar, was dem Mann zugemutet wurde:

Wandrer, kommst du nach Sparta, verkünde dorten, du habest Uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl.

Es hilft nichts, die granitene Härte Spartas nachträglich zu mildern. Die Quellen sprechen eindeutig gegen jede bagatellisierende Beschönigung. Die lakedaimonische Kultur war wenig literarisch, dafür aber ausgesprochen athletisch. Poesie wurde, wie die drei Dichter Tyrtaios, Terpandros und Thaletas beweisen, aus dem Ausland eingeführt: der erste kam aus Athen, der zweite aus Antissa auf der Insel Lesbos, der dritte aus Kreta. Sie wurden als Staatssänger nach Sparta berufen, so wie Preußen die Schwaben Hegel und Schelling, den Nassauer Freiherrn vom Stein, den Hessen Savigny und den Sachsen Ranke in seine Dienste nahm. Die Küche war frugal, für jeden korinthischen, kretischen oder gar sybaritischen Gourmet ein Greuel, die kollektiv verabreichte Blutsuppe galt auswärts fast als Brechmittel. Ab dem vollendeten siebenten Jahr gehörten die Kinder dem Staat. Ihre Erziehung unterlag staatlicher Lenkung. Stufe für Stufe mußte vor allem der Knabe die Formationen der hierarchisch organisierten Staatsjugend durchlaufen. Ihr Zuschnitt hatte paramilitärischen Charakter. Musik und Dichtung galten als Instrumente staatlicher Pädagogik; ästhetische Autonomie kam ihnen nicht zu. Tanz reduziert auf eine turnerische Übung, Poesie als Magd politischer Unterweisung, Musik als Mittel zu Drill und Dressur, außer Chorgesang überwiegend Militärmusik und Marschlieder, begleitet von der Flöte, die im Altertum, wie bekannt, die Rolle unserer Trommeln und Trompeten spielte — das war der spartanische Parnaß. Patriotismus bis zum totalen Selbstopfer, Unterordnung privater Interessen unter das Heil des Staates war die höchste Tugend. Gehorsam, Abhärtung, Genügsamkeit und Disziplin gehörten zu den selbstverständlichen Lebensregeln. Allbeherrschend waltete der kategorische Imperativ asketischer Zucht. Zucht prägte und durchformte alles. Kinderzucht und Manneszucht, Lehrzucht und Tischzucht, Zucht und Tucht der Körper und Seelen von der Zeugung bis zum Tod gehörten zu den Elementen spartanischer Staatskunst. Daß in dieser dorischen Polis, die sich als formiertes Kriegslager in Permanenz verstand, der Päderastie, der mannmännlich invertierten Liebe im Sinne Hans Blühers eine bestimmende Rolle zukam, muß kaum eigens hervorgehoben werden. Sie verstand sich auf der Grundlage des militärischen Lebensstils von selbst. Wir müssen sie geradezu als spezifische devotio lacedaemonia des männerbündisch eingerichteten Staates betrachten. Auch hier ist nichts zu bestreiten, nichts zu beschönigen, nichts zu idealisieren. Ein gleiches gilt von der Vorschrift, die Plutarch auf Lykurgos, den halblegendären Gesetzgeber Lakedaimons, zurückführt: Kaum geboren, mußte das Kind von den Ältesten der Gemeinde untersucht werden. Wenn es für gesund, wohlgebaut und kräftig befunden wurde, galt es als aufzuchtwürdig. Hielt jedoch der Rat der Alten das Kleine für schwächlich und mißgestaltet, so gebot er dessen Aussetzung. Es wurde zu der sogenannten Ablage (Apothetai) gebracht, einem Felsabgrund am Taygetos, und dort weggeworfen: „Denn sie meinten, für ein Wesen, das von Anfang an nicht fähig sei, gesund und kräftig heranzuwachsen, sei es besser, nicht zu leben, sowohl um seiner selbst wie um des Staates willen“ (Lykurgos 16).
Diese Bestimmung, so will es mich bedünken, ist die einzige aus der Verfassung Spartas, mit der sich die Nutznießer der freiheitlichen demokratischen Grundordnung prinzipiell anfreunden könnten, wenngleich aus entgegengesetzten Motiven. Die von Lykurg belehrten Lakedaimonier dachten menschenzüchtensch-eugenisch, die Grundgesetzschmarotzer sind hingegen primär individualistisch-hedonistisch gesinnt. Nicht um willen rassischer Aufartung, sondern zwecks Verbesserung privater Selbstverwirklichungschancen sind sie prinzipiell bereit, die Maxime zu billigen, daß bloßes Geborensein noch kein automatisches Recht auf Leben begründe. Im Sinne der mittlerweile fortgeschrittenen Mündigkeit des freiheitlichen demokratischen Bürgers läßt er sich, wie sich von selbst versteht, von keiner Behörde mehr vorschreiben, ob das zur Welt kommende Kind am Leben bleiben soll oder nicht. An die Stelle des reaktionär-obrigkeitsstaatlichen Rates der Alten ist in Kleinstkindes- und Fetusbelangen das Selbstbestimmungsrecht des Rates der Eltern getreten, im Ernstfall natürlich jener der Mutter, in deren Bauch, der unbestritten ihr gehört, die Leibesfrucht geschwürartig wuchert.
Das ist, wie jeder geschichtsbewußte Kritiker zugeben muß, ein außerordentlicher Fortschritt. Der Fortschritt besteht zum einen in der für die Antike noch undenkbar gewesenen Rationalisierung des Kindesaussetzungsverfahrens, also in der erstaunlichen Fristverkürzung. Um die heutige Virtuosität des pränatalen Timings würde uns ein alter Spartaner baß beneiden. Zum andern besteht der Fortschritt in der die natürliche Umwelt möglichst wenig beeinträchtigenden Arbeitsweise. Auch die soziale Praktikabilität der in den Mutterleib vorverlegten Kindesaussetzung hebt sich erfreulich von den barbarischen Methoden Spartas ab, wo die Tötung des Kleinen noch nicht intrauterin erfolgte. Bei den Lakedaimoniern genügte, wenn wir Plutarch Glauben schenken, eine einzige Felsenkluft, um die mißliebige Brut los zu werden. Bergsteiger und Waldgänger konnten das Wimmern der ausgesetzten Säuglinge hören. Manchen rührte der Notschrei. Fremden und den staatsbürgerlich zurückgestellten Perioiken („Umwohnern“) war es nämlich unbenommen, von Mitleid überfließen zu dürfen. Durch dieses Privileg, dessen sich dieNicht-Spartiaten erfreuten, wurde manches Findelkind, ähnlich dem mythischen Prinzen Oidipus, barmherzig gerettet.
Jedem einsichtigen Beobachter leuchtet ein, daß derartige irrationale Maßnahmen unter den Bedingungen des perfekten individual-sozialistischen Wohlfahrtsstaates der technisch-industriellen Gesellschaft schlechthin systemwidrig und dysfunktional wären. Zwischen notorischen Kindesaussetzern und professionellen Kinderrettern würden möglicherweise explosive Spannungen entstehen, die zu besänftigen sowohl Justiz als auch Polizei außerstande wären. Ebenso würden die dem Landschaftsschutz verschworenen Verbände gegen die durch willkürliche Aussetzung neugeborener Kinder bewirkte Verschandelung der freien Natur erbittert Sturm laufen. Schließlich darf man ja auch den normalen Hausmüll nicht mehr beliebig ablagern; um so weniger können im Zeitalter behördlich geregelter Abfallentsorgung wilde Baby-Deponien in den ganz wenigen Forsten geduldet werden, wo noch ökologisch einigermaßen ordentliche Bestände gedeihen. Aussetzung in der Nähe menschlicher Siedlungen scheidet von vornherein wegen der damit unvermeidlich verbundenen Lärmbelästigung aus. Lakedaimon mit seiner erheblich geringeren Bevölkerungsdichte kannte diese Probleme noch nicht. Außerdem scheinen die Spartaner durch die beständige Berieselung mit Militärmusik ohnehin schwerhöriger als wir sensibler gewordenen Modernen gewesen zu sein. Unsere empfindsameren Nerven sind eben schon so verzärtelt, daß uns ein Kindermord im zehnten Monat, also die Methode Lykurg-Herodes, unter normalen Bedingungen nicht mehr zumutbar ist. Die progressive Vorverlegung der lautlosen Tötung in den ersten bis dritten Monat und deren euphemistisch zärtliche Umbenennung in „Schwangerschaftsunterbrechung“ sind somit Errungenschaften einer Zivilisation, die Sparta endgültig überwunden zu haben scheint. Als Fortschritt ist auch zu betrachten, daß in der Bundesrepublik Deutschland in einem einzigen Jahr dem mörderischen Gebärstreik werdender Mütter weit mehr Kinder zum Opfer fallen als in sieben Jahrhunderten spartanischer Geschichte am Taygetos „abgelegt“ wurden.
Jeder aufrechte Demokrat fühlt sich von jeher zu Athen hingezogen, nicht zu Sparta. Ein Perikles, wenigstens im Taschenformat, möchte jeder freiheitlich-demokratisch grundordentliche Partei-und Biedermann sein, der etwas auf sich hält. Niemand möchte als Nachfolger oder Schüler Lykurgs gelten. Athen — das bedeutet bekanntlich Licht, Freiheit, Kultur und Demokratie, und Perikles ist der Superstar dieser erhabenen Gottheiten. Das lykurgische Sparta hingegen gilt für schlimmer als das friderizianische Preußen, ja geradezu als antike Präfiguration des NS-Staates.„Gelobt sei, was uns schwächt und entwaffnet! Mißtraut jedem, der von Einigkeit, Kraft, Größe, Disziplin und Geschlossenheit zu sprechen wagt! Andernfalls lauft ihr Gefahr, daß ihr in den »Faschismus‘ schlittert und Hitler wiederkommt!“ So lautet doch, Hand aufs Herz, der unausgesprochene, sehr oft aber auch mit massenmedialer Stentorstimme hinausposaunte Rat westdemokratischer Wohlanständigkeit. Es gibt einen anti-spartanischen Affekt. Aus ihm nährt sich jener Kampf gegen alles, was auch nur von ferne an Askese, Heroismus und Zucht erinnert. Zu Sparta sich zu bekennen, Sparta als Paradigma strenger, aber auch potenter Staatlichkeit zu bewundern, das ist heute so schockierend, wie es etwa vor fünfhundert Jahren die Leugnung der Dreifaltigkeit Gottes oder der Menschwerdung Christi gewesen wäre. Natürlich sind es vor allem die schöngeistigen Neo-Athenienser, die „liberalen“ Perikles-Fans und demo-attizistischen Amazonen, die jeden Sparta-Sympathisanten als potentiellen Verfassungsfeind anzeigen. Was immer man zugunsten Spartas vorbringen mag, die Antwort der Hohenpriester und Inquisitoren der Göttin Demokratie wird pfäffisch eintönig lauten: „Tut nichts! Der Spartaner wird verbrannt!“
Nun, ich habe trotzdem, Plutarch und Platon folgend, im vorstehenden schon einige Pluspunkte für Sparta eingetragen; ich möchte nur noch hinzufügen, daß die Frauen im streng „konservativen“ Sparta fast alles tun durften, was ihnen im „liberalen“ Athen drakonisch untersagt war. Sie genossen in Lakedaimon weit größere Freiheiten als die Männer. Nicht nur in der Liebe, sondern auch im Geschäftsleben standen ihnen anderswo unbekannte Rechte zu. Im dritten Jahrhundert besaßen die Frauen Spartas mehr Reichtümer, einschließlich weitausgedehnter Ländereien, als ihre Männer, Brüder oder Liebhaber (vgl. Plutarch: Agis 5,23,29). Bereits Aristoteles hatte dem Lykurg vorgeworfen, die „Zügellosigkeit und Weiberherrschaft“ der Spartanerinnen nicht ausgerottet zu haben (Politik 2,1270 a 6). Den an exklusives Patriarchat gewöhnten Fremden bot die Stadt geradezu den Anblick eines exotischen Frauenstaates (vgl. Plutarch: Numa 25,3): „Die Spartanerinnen sollen auch ziemlich frech gewesen sein und sich, vorzüglich gegen ihre Männer, selbst höchst männlich benommen haben, da sie ja in den Häusern die unbeschränkte Herrschaftsgewalt ausübten und dann auch noch in den wichtigsten Staatsangelegenheiten mit größter Freiheit mitredeten.“ Dessenungeachtet sahen sie keineswegs wie zottige Musketiere aus. Ihre herbe Anmut war in ganz Hellas sprichwörtlich. Die weibliche Freizügigkeit ging sogar den progressivsten und aufgeklärtesten Athenern zu weit. Zucht und Schroffheit des betont maskulinen Kriegerstaates wurde überglänzt von der lächelnden Grazie, schelmischen Geistesart und tänzerischen Eleganz seiner jungen Frauen, die, anders als in Athen, Zutritt zu den sportlich-gymnastischen Übungen hatten. Die schöne Helena, derenthalben der Trojanische Krieg geführt wurde, stammte ja aus Sparta, wie auch Menelaos, der „schönhaarige“, uns als spartanischer König vorgestellt wird. Wie ihre Männer, so waren auch die Spartanerinnen berühmt für ihre Schlagfertigkeit und Knappheit im Ausdruck. Unser Wort „lakonisch “ erinnert daran. Sparta bildete das Zentrum der Landschaft Lakonien. Viele Anekdoten bezeugen in gleichsam molekularer Form die witzige Kürze der Spartaner. Als eine Ausländerin zu Gorgo, der Gemahlin des Spartanerkönigs Leonidas sagte: „Ihr Lakonerin-nen allein beherrscht eure Männer“, erwiderte sie hoheitsvoll: „Wir allein bringen auch Männer zur Welt!“ (Plutarch: Lykurgos 14, Schluß).
Damit komme ich zum Schluß. Der Name des Feldherrn Leonidas ist soeben gefallen. Vorhin habe ich den Zweizeiler des Simonides auf die bei den Thermopylen durch persische Übermacht gefallenen Lakedaimonier zitiert: „Wandrer kommst du nach Sparta…“ Ich versuche es lakonisch kurz zu sagen: Wer von griechischer Kultur als der dauernden Grundlage der europäischen spricht, der darf Sparta nicht verschweigen! Die ganze griechische Kultur der Klassik, die man so gerne mit Athen gleichsetzt, wäre nie zur Blüte und Reife gelangt, wenn nicht ein verhältnismäßig amusisches, diszipliniertes und im Gerüche halber Barbarei stehendes Kriegervolk bei den Thermopylen, vor Salamis und bei Plataiai todentschlossen für die Sache Griechenlands gekämpft hätte. Die nur durch Spartas Beistand möglichen militärischen Siege haben jenen Raum erobert, gesichert und erweitert, in dem sich griechisches Drama, griechische Philosophie, griechische Naturwissenschaft und auch griechische „Demokratie“ überhaupt erst maßgebend entfalten konnten. Wer Aischylos und Sophokles, wer Platon und Aristoteles, wer Demokrit und Thukydides sagt, der muß recht und billig auch an Leonidas und Pausanias und an die unbekannten Soldaten Spartas denken, die in den Perserkriegen fielen, „wie das Gesetz es befahl“.
Schroff und fremd steht Sparta vor uns. Mit einer gnadenlosen Einseitigkeit hat dieses Gemeinwesen gewisse Züge ins Monströse verzeichnet, die jede griechische Polis in minderem Maße aufwies. Sparta als potenzierte Polis zeigt uns brutal, wie fremd uns die Antike insgesamt erscheinen müßte, wenn wir sie völlig unbefangen von humanistischen Projektionen erschauten. Sparta mag uns aber auch ahnen lassen, was Staatlichkeit in Hochform, sozusagen chemisch reine Politeia, bedeutet: der Staat als „das kälteste aller kalten Ungeheuer“, wie Nietzsches Zarathustra ihn nennt Wir können Sparta nicht lieben. Aber wer sich dem griechischen Erbe zugeneigt fühlt, der sollte dessen eingedenk sein, daß all dies Wunderbare, Schöne und Begeisternde sich nur in einer Welt entfalten konnte, die der Bedrohung orientalischer Zwingherrschaft durch das Opfer des Lebens Tausender, Zehntausender Menschenleben abgerungen worden war.
Wir können Sparta nicht lieben. Aber ohne Sparta gäbe es auch kein Athen, jenes Athen, das, von den Persern bereits zerstört, nach den Siegen von 480 und 479 wieder aufgebaut wurde. Ohne Athen wäre Europa nie geboren worden. Sparta erinnert an die heute gern verschwiegenen, an die vielfach geächteten Voraussetzungen europäischer Kultur. Der Raum, in dem sie erblühte, wurde nicht von Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren gesichert, sondern von gegen einen überwältigenden Feind entschlossen kämpfenden Soldaten. Die besten Krieger und die bei weitem überlegenste Heereszucht aber hatte damals Sparta. Es war vielleicht eine Tragödie, daß nach dem Sieg über die Perser kein dauernder Ausgleich zwischen den beiden griechischen Lebensformen zustande kam, die Athen und Sparta verkörperten. Sparta war kulturell eine Sackgasse. Doch möglicherweise ist, wie uns heute manchmal ahnt, auch Athen ein Weg, der sich nicht geradlinig fortsetzen läßt. Vielleicht ist Kultur bloß ein Zwischenspiel, eine unfruchtbare Verschwendung vor dem Hintergrund grenzenloser kosmischer Räume. Ein gewisser Defätismus macht sich breit. Er räsoniert öffentlich, daß eine möglichst frühe Orientalisierung Europas uns viel Unglück erspart hätte. Die griechischen Siege über die Perser bedeuten ihm nichts. Doch das ist bereits der Beginn eines anderen Kapitels. Halten wir am Ende dieses Nachtgesprächs nur noch fest, daß Sparta uns eindringlich an das gemahnt, was heute in hohem Maße tabuiert ist. Ohne ein gewisses Spartanertum ist nicht nur kein Staat zu machen, sondern auch keine Kulturlebens- und überlebensfähigkeit. Das lakedaimonische Erbe ist insofern zu prüfen. Honny soit qui malypense,

(1987)

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