PAUL GERHARDT

Als Paul Gerhardt am 27. Mai 1676 im Alter von siebzig Jahren in Lübben, in der sächsischen Lausitz, starb, wurde seines Todes außerhalb der Pfarrei kaum gedacht. Das Lübbener Begräbnisregister meldet nur kurz den Hinschied des »treufleißigen wohlbekannten Archidiakonus der Kirche« nach siebenjähriger Amtszeit. Wir wüßten wahrscheinlich auch heute noch nicht, daß Gerhardt der bedeutendste evangelische Liederdichter nach Luther gewesen ist, wenn nicht zwei tüchtige Kirchenmusiker dem sanften, in sich gekehrten und allem Ehrgeiz abholden Propst die Manuskripte abgerungen und sie gesammelt hätten. Die ersten achtzehn Lieder stehen in der dritten Auflage von Johann Criigers »Praxis pietatis melica« von 1647, darunter »Nun ruhen alle Wälder«, »Nun danket all und bringet Ehr, ihr Menschen in der Welt« und »Auf, auf, mein Herz, mit Freuden«. Sie wiesen den Verfasser, der, im Gegensatz zu vielen Barockpoeten keinen Dichterruhm suchte, sondern auch als Lyriker nur Diener des Christenglaubens sein wollte, sofort als einen Wortkünstler von hohem Rang aus. Die zehnte Auflage des Gesangbuches (1661) enthält achtundachtzig Lieder von Gerhardt. Einige Jahre später brachte der Lüneburger Johann Georg Ebeling hundertzwanzig Gerhardt-Lieder heraus, meistens mit eigenen Melodien versehen. Die Gesamtausgabe verzeichnet hundertvierunddreißig deutsche und vierzehn lateinische Gedichte. Trotz dieses mäßigen Umfangs könnte man aus Gerhardts Liedern fast ein vollständiges Kirchengesangbuch zusammenstellen, in dem nur Lieder auf Epiphanias (Dreikönigstag), Christi Himmelfahrt und die Kirche selbst fehlen würden.
Walter Muschg nennt Paul Gerhardt »die reinste Gestalt unter den Sängern der protestantischen Gemeinde« im Zeitalter des Barock. Seine Lieder sprechen nicht von der Majestät der Kirche, sie sind nicht anfeuernde Schlachtrufe, sondern Ausdruck des innerlich frommen Vertrauens eines einzelnen auf den gütigen und gnadenschenkenden Gott. Waren Luthers geistliche Gesänge vorwiegend Lehr- und Bekenntnislieder für die Liturgie der Gemeinde, so gewinnt das protestantische Kirchenlied mit Paul Gerhardt etwas intim Individuelles, im romantischen Sinne Lyrisches. Gerhardt singt nicht für die Gemeinde, sondern für sich selbst und jene einzelnen, die ähnlich gestimmt sind wie er. Dies verbindet ihn mit der Mystik, und er kannte wohl auch die Schriften der Mystiker seiner Zeit, etwa Johann Schefflers, des unter dem freigewählten Namen »Angelus Silesius« berühmt gewordenen lyrischen Dolmetschs Jakob Böhmes. Die Lehre der lutherischen Kirche bildet zwar die bleibende Voraussetzung von Gerhardts Lyrik, doch er setzt alles Dogmatische um in unmittelbare religiöse Ergriffenheit, in Anschauung, Erlebnis und Gefühl. Das Passionslied erreicht bei ihm einen Höhepunkt durch die Eindeutschung der alten lateinischen Hymne:

»O Haupt voll Blut und Wunden,
Voll Schmerz und voller Hohn!
O Haupt, zum Spott gebunden
Mit einer Dornen-Kron.«

Das Lied schließt mit den Versen:

»Wann ich einmal soll scheiden,
So scheide nicht von mir!
Wann ich den Tod soll leiden,
So tritt du dann herfür:
Wann mir am allerbängsten
Wird um das Herze sein,
So reiß mich aus den Ängsten
Kraft deiner Angst und Pein.

Erscheine mir zum Schilde,
Zum Trost in meinem Tod,
Und laß mich sehn dein Bilde
In deiner Kreuzes-Not:
Da will ich nach dir blicken,
Da will ich Glaubens voll
Dich fest an mein Herz drücken;
Wer so stirbt, der stirbt wohl.«

Dank, Vertrauen und freudige Erhebung sprechen sich in Gerhardts Liedern nicht weniger aus: »Wach auf mein Herz, und singe dem Schöpfer aller Dinge…«, »Du meine Seele singe, wohlauf und singe schön…«, »Befiehl du meine Wege…« Bedeutete der ältere Protestantismus, verglichen mit der Renaissance, aber auch dem hochmittelalterlichen Katholizismus, eine Verdüsterung des menschlichen Selbst- und Weltverständnisses, so klingt in Gerhardts Gott preisenden Liedern zum erstenmal eine spontane Freude an der Natur durch. Seine Schöpfungslieder haben geradezu einen ländlich heiteren, fast idyllischen Einschlag. Es sind christliche Eklogen. Der düstere Gedanke allgemeiner Sündhaftigkeit und Verderbheit tritt zurück hinter dem freundlicheren Bild von der Welt als Garten Gottes. Unsere Erde erscheint nicht nur als Jammertal, als Ort des Leidens und der Bewährung, sondern auch als Vorschein himmlischer Seligkeit:

»Geh aus, mein Herz, und suche Freud,
in dieser lieben Sommerszeit
An deines Gottes Gaben;
Schau an der schönen Gärten Zier,
Und siehe, wie sie mir und dir
Sich ausgeschmücket haben.«

Da deckt »das Erdreich… seinen Staub mit einem grünen Kleide«, Narzissen und Tulpen, »die ziehen sich viel schöner an als Salomonis Seide.« Und: »Die Lerche schwingt sich in die Luft, Fasanchen fliegt aus seiner Kluft und macht sich in die Felder; die hochbegabte Nachtigall ergötzt und füllt mit ihrem Schall Berg, Hügel, Tal und Wälder.« Und: »Des süßen Weinstocks starker Saft bringt täglich neue Stärk und Kraft in seinem schwachen Reise.« Der Dichter stimmt in diesen Lobpreis der Kreaturen jubelnd ein:

»Ich singe mit, wann alles singt,
Und lasse, was dem Höchsten klingt,
Aus meinem Herzen rinnen.

Ach, denk ich, bist du hier so schön,
Und läßt du’s uns so lieblich gehn
Auf dieser armen Erden:
Was will doch wohl nach dieser Welt
Dort in dem reichen Himmelszelt
Und güldnem Schlosse werden?«

Indem Paul Gerhardt dem evangelischen Kirchenlied auf diese Weise mystische Innerlichkeit und geistliche Freude an der Welt als Schöpfung zugeführt hat, ist seine Lyrik weit über den lutherischen Bereich hinaus bedeutsam geworden. Viele seiner Werke gelten fast schon als Volkslieder. Johann Sebastian Bach hat das Gedicht »Gib dich zufrieden und sei stille« dreimal vertont (im zweiten Klavierbüchlein für Anna Magdalena), und nach ihm haben Mendelssohn und Max Reger dem frommen Poeten gehuldigt. Das Abendlied »Nun ruhen alle Wälder«, insbesondere die dritte Strophe mit den schönen Versen »Der Tag ist nun vergangen, die güldnen Sternlein prangen am blauen Himmelssaal«, hat den jungen Friedrich Hebbel fasziniert, und in unserem Jahrhundert hat Rudolf Alexander Schröder das gleiche Lied als »die Perle aller Perlen« bezeichnet. Schröder bekannte: »Es ist mir immer, als ginge die Sonne auf, sobald der Name Paul Gerhardt in mein Gedächtnis tritt.« Es fehlt bei Paul Gerhardt, ähnlich wie bei Matthias Claudius, jede konfessionelle Engherzigkeit, stellt Hans Jürgen Schultz zu Recht fest, und vielen mag es ähn
lich ergehen wie ihm, wenn er gesteht, kein anderes Stück Literatur könne ihm
ein so spontanes Gefühl der Zugehörigkeit vermitteln zu allem, was Odem hat
und lebt: »Geh aus, mein Herz, und suche Freud.«

(1976)

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