Auguste Blanqui

Vom proletarischen Aufstand zum planetarischen Fatalismus
Ein französischer Berufsrevolutionär zwischen Marx und Nietzsche

Wie Ludwig XTV. im 17. Jahrhundert gesagt hatte: „L’Etat c’est moi“, so verkündete ein Franzose des 19. Jahrhunderts sinngemäß: „La Revolution c’est moi.“ Der anmaßend provozierenden Gleichsetzung von Herrscher und Staat setzte er die nicht weniger herausfordernde Wesenseinheit von proletarischem Umsturz und eigener Persönlichkeit entgegen. Absolutisten waren sie im Grunde ihres Herzens beide: der König wie der Berufsrevolutionär, der mit bürgerlichem Namen Auguste Blanqui hieß.
Als Inkarnation der Revolution, als Menschwerdung des Aufstandes, als absoluter Insurrektionist war er schon zu Lebzeiten ein Mythos. Der Grand Dictionnaire Larousse kennzeichnete ihn als „das Rätsel des sozialen Krieges, als eine Art revolutionärer Sphinx, die sich in der Stille darauf vorbereitet, die Gesellschaft zu verschlingen“. Der Dichter Lamartine, kurzfristig Außenminister in der provisorischen Regierung des Jahres 1848, erinnerte sich später indigniert Blanquis: „Er hatte die Revolutionskrankheit.“ Die gesamte Lebensgeschichte dieses ersten Berufsrevolutionärs ist mit dem sozialen und politischen Vulkanismus seines Jahrhunderts untrennbar verknüpft. Er stand allemal in der Mitte des revolutionären Zyklons. Wo immer die Flamme der Empörung loderte, war er dabei. Er verkörperte das missing link zwischen Jakobinertum, der Babeuf sehen „Verschwörung der Gleichen“ und den Karbonari einerseits, der Ersten Internationalen, der Pariser Kommune und ― letzten Endes ― dem Leninismus andrerseits.
Alle Geheimbünde und Verschwörungen zogen ihn magnetisch an, manche gründete er selbst, darunter die „Gesellschaft der Jahreszeiten“. Ihre kleinste Zelle bildete die „Woche“ ― sechs Männer mit einem „Sonntag“ als Anführer, vier solcher „Wochen“ wurden zu einem „Monat“ zusammengefaßt, den der hochsommerliche , Juli“ leitete; drei „Monate“ bildeten eine „Jahreszeit“, an deren Spitze der „Frühling“ stand; und vier „Jahreszeiten“ schlössen sich zum Kreis eines „Jahres“ zusammen, das von einem „Revolutionären Agenten“ dirigiert wurde. Bei jedem der vorübergehenden Triumphe des proletarischen Radikalismus befand sich Blanqui im Zentrum der revolutionären Ereignisse; jede Niederlage brachte ihm Verfolgung, Diskriminierung und Kerkerhaft ein. Stolz nannte er sich vor den Tribunalen politischer Justiz einen Proletarier. Als der Richter darauf erwiderte, daß dies doch kein Beruf sei, rief der Angeklagte aus: „Was, kein Beruf? Es ist der Beruf von dreißig Millionen Franzosen, die bloß von ihrer Arbeit leben und ihrer Bürgerrechte beraubt sind!“ Als er abermals sich vor Gericht zu verantworten hat, begrüßt ihn der Vorsitzende wie einen alten Bekannten. Etwas perplex stellt er fest: „1832,1839,1849 ― immer haben Sie konspiriert und stets an den gleichen Ideen festgehalten!“ Blanqui antwortet: „Bis zu meinem Tode werde ich daran festhalten.“ Er hat dieses Bekenntnis gelebt wie kaum ein zweiter Revolutionär seines Zeitalters, von Bakunin einmal abgesehen.
Schon die äußere Erscheinung begünstigte die Bildung von Mythen und Legenden. Robust scheint er bereits in seiner Jugend nicht gewesen zu sein. Die zahlreichen Gefängnisaufenthalte haben seine ohnehin labile körperliche Verfassung zusätzlich geschwächt. Desto mehr erstaunt es, daß er trotzdem über fünfundsiebzig Jahre alt wurde. Von kleiner Gestalt, hatte er ein bleiches Gesicht mit frühzeitig weißgewordenem Haar und grauen Augen, die sein Gegenüber stechend musterten, ja zu durchbohren schienen. Wenn er überhaupt lächelte, dann war es ein ironisches, fast verächtliches Lächeln. Stets sorgfältig und sauber, aber ganz in Schwarz gekleidet ― nur die Handschuhe, die er ebenfalls immer trug, waren manchmal nicht aus schwarzem Zwirn, sondern aus dunkelgrünem Leder ―, schauderten seine Gegner schon bei seinem Anblick angewidert zurück. Alexis de Tocqueville berichtet in seinen „Erinnerungen“, daß ihm Blanqui wie eine modernde Leiche vorkam: „Er hatte abgezehrte und zerfurchte Wangen und bleiche Lippen. Sein Äußeres war wie von Schimmel überzogen; ein alter schwarzer Mantel umschloß eng seine dünnen und mageren Glieder.“ Man hat dem liberal-konservativen Aristokraten Tocqueville unterstellt, daß seine abstoßende Schilderung durch Voreingenommenheit tendenziös verzerrt sei. Doch auch der Dichter Victor Hugo, der für den „revolutionnaire professionnel“ durchaus Sympathien hegte, sah ihn ganz ähnlich:
„Er war bleich, von mittlerer Größe und schwächlicher Gestalt. Er spuckte Blut. Mit vierzig Jahren hatte er das Aussehen eines alten Mannes. Seine Lippen waren fahl, seine Stirn gefaltet, seine Hände zitterten, aber man sah in seinen grausamen Augen die Jugend eines ewigen Gedankens. Dieser gewalttätige Mensch sagte ungewöhnliche Dinge mit sanftem Ton und ruhigem Lächeln. Sein Blick war so düster und seine Stimme so mild, daß man vor ihm von Panik ergriffen wurde. Man begriff, daß sich unter dieser Sanftmut unerhörte Ausbrüche verborgenen Hasses verdichteten. Alle Schimmer der Schreckensherrschaft von 1793 waren in seinem Blick. Ein entsetzlicher Mensch, düsteren Geschicken geweiht, der das Aussehen eines grauenerregenden Gespenstes hatte, wenn er sich der Vergangenheit erinnerte, und das eines Dämons, wenn er an die Zukunft dachte.“
Proudhon, selbst Revolutionär, zeitweise mit Blanqui in der selben Kasematte eingekerkert, vertraut 1850 seinem Tagebuch folgendes Psychogramm seines Mithäftlings an:
„Blanqui ist der Mann des schwarzen Fatalismus. Pessimist und Menschenfeind, der immer das Schlimmste annimmt, aber seine Meinung mit intelligenten und unerbittlichen Gründen stützt; er stimmt einen traurig und jagt einem Schrecken ein. Er ist über seine eigenen Urteile erschrocken. Er befürchtet alles, hat kaum Hoffnung. Er sieht die Republik verloren, die Revolution gescheitert, das Proletariat für immer in Ketten, das Menschengeschlecht am Ende.“
Wenn ihn schon linksintellektuelle Gefährten als Schreckgespenst, Dämon und Steinernen Gast aus der Zeit der Terreur empfanden, dann nimmt es nicht wunder, daß konservative Zeitgenossen Blanqui für einen blutrünstigen Besessenen halten konnten, der an der Stelle, wo sonst das menschliche Herz schlägt, die Galle habe, für ein mitleidloses Monster, dessen mörderischen Gelüsten die Guillotine noch zu umständlich und langsam entgegenkam. Der bereits zu Lebzeiten in so düsterem Licht geschaute Revolutionär war sich selbst dieses Mankos nur zu bewußt. Er verhehlte sich nicht, daß er unzähligen Zeitgenossen als Ausgeburt der Hölle und „Herkules des Verbrechens“ erschien: finster, hochmütig, kalt, „ein Herz von Marmor, ein Schädel aus Eisen“. Anders als Danton, Saint-Just und Trotzki, verkörperte Blanqui keineswegs den Typus des charismatischen Revolutionärs oder Volkshelden, der durch Erscheinung und Charme auch Widerstrebende zu betören vermag. Seine Rednergabe wird allerdings in zeitgenössischen Zeugnissen hervorgehoben: „Blanquis Stimme ist gellend, spitz zischend, metallisch und dann wieder verschleiert, wie das Schlagen eines Tamtams, das jene berauscht, die ihm zuhören. Er zieht nicht an, er beherrscht. Er ersetzt die ihm fehlende physische Stärke durch eine Kraft des Geistes, die bei gewissen Gelegenheiten allmächtig ist.“
Derselbe Autor, Alfred Delvau, fügt aber diesem Bild aus dem Revolutionsjahr 1848 auch die vielsagende Charakteristik hinzu: „Blanquis Rhetorik und Wesensart ― da ist kein Feuer unter der Asche, sondern, im Gegenteil, Eis unter dem Feuer.“
Diese „revolutionäre Sphinx“, die gegen Bourbonen und Orleanisten, gegen Bonapartisten und bürgerliche Republikaner Verschwörungen, Demonstrationen und Aufstände organisierte und zu den führenden Köpfen der Pariser Kommune im Frühjahr 1871 gehörte, ist in Frankreich auch heute noch weithin bekannt. In Paris erinnert nicht nur der Boulevard Auguste-Blanqui und eine Gedenktafel auf seinem Sterbehaus an ihn, sondern auch das von Aristide Maillol 1906 im Auftrag Georges Clemenceaus geschaffene Bronzedenkmal „L’Action enchainee“ (Das gefesselte Handeln). Überlebensgroß stellt es eine jugendliche nackte Athletin mit kräftig ausschreitendem Gang und hinter dem Rücken gefesselten Händen dar: Sinnbild des sowohl vorwärtskommenden als auch niemals verwirklichten Traums der Revolution. Eine weitere Skulptur, bereits 1885, vier Jahre nach Blanquis Tod auf dem Friedhof Pere-Lachaise enthüllt, stammt von dem Bildhauer Jules Dalou. Sie zeigt den auf dem Totenbett liegenden Revolutionär, der, eingehüllt in ein weites Linnenlaken, endlich das gefunden zu haben scheint, was ihm zeitlebens nie beschieden war: Gelassenheit, Ruhe, Friede. Zu Füßen des seinen Todesschlaf schlummernden Kämpfers, der nicht nur Pfaffentum und Kirche, sondern das Christentum insgesamt in seiner letzten Zeitschrift „M Dieu ni Maitre“ (Weder Gott noch Herr) leidenschaftlich bekämpft hatte, liegt eines der Marterwerkzeuge des auf Golgatha gekreuzigten Nazareners: die Dornenkrone.
Blanqui ist in Frankreich mehr als eine Statue. Wie sich in unserem lateinischen Nachbarland von selbst versteht, nimmt sich auch dieses seines hervorragenden Sohnes eine eigene „Societe des amis“ an. Er gilt insbesondere bei den Kommunisten als Bindeglied zwischen französischer und russischer Revolution, ja als Vorläufer und Inspirator Lenins, so wie Lenin die Rolle eines die Lehren Blanquis praktisch bewahrheitenden Erfüllers zugesprochen wird. Als Roger Garaudy noch Parteikommunist war, nannte er den Blanquismus „das Höchste, was der französische Sozialismus vor der Kenntnis der Lehre von Karl Marx erreichen konnte“. Andre Marty bezeichnete Blanqui als den „wichtigsten Vorläufer des Marxismus-Leninismus“, und Maurice Dommanget meinte geradezu apodiktisch: „Blanqui hatte im Grunde nur einen Fehler, den, daß er immer zu früh im Recht war.“
In Deutschland hingegen ist der französische Umsturz-Experte sogar in Linkskreisen nicht übermäßig bekannt. Auch die beiden um 1970 erschienenen Bücher des Marburger Politologen Frank Deppe haben daran wenig geändert. Deppe selbst erinnert daran, daß bereits vor dem Ersten Weltkrieg die deutsche Sozialdemokratie alles unternommen habe, um den Marxismus, wie sie ihn vertrat, von allen blanquistischen Elementen zu säubern. Man empfand den vesuvischen Franzosen genierlich. Was man brauchte, war ein braver, reputierlicher und temperamentloser Marxismus, der nicht explosiv, sondern wissenschaftlich dozierend sein sollte. Ein ― wie ich noch zeigen werde ― halbierter, ja kastrierter Sonntags-Marxismus. Ein achtbarer Marxismus ohne Furien, ohne Apokalyptik und ohne Vernichtungswut. Karl Kautsky hat dieses Bedürfnis nach einem bürgerlich respektablen, etwas anämischen Marxismus minus Blanqui mit den klassischen Worten kundgetan: „Die Sozialdemokratie ist eine revolutionäre, nicht aber eine Revolution machende Partei.“ Sie stehen in seinem zuerst 1909 erschienenen Buch „Der Weg zur Macht“. Der alles sagende, weil programmatische Untertitel lautet: „Politische Betrachtungen über das Hineinwachsen in die Revolution.“ Reif werden und hineinwachsen sollte man in die Revolution, nicht aber ― St. Marx sei davor ― eine Umwälzung aller Dinge selber bewerkstelligen. Da sich, wie in der Bibel, auch in den kanonisierten Schriften von Marx und Engels für beinahe alles ein Beleg finden läßt, konnte Kautsky seine Stellungnahme sogar als gut marxistisch ausweisen. Wie Kautsky hat auch die sonst nicht zimperliche Rosa Luxemburg den Blanquismus verworfen, indem sie ihn als einen die konkreten gesellschaftlichgeschichtlichen Bedingungen verkennenden abstrakten Putschismus hinstellt. Ausgerechnet der reformistische Revisionist Eduard Bernstein hat hingegen, wenngleich in kritischer Absicht, den durch und durch blanquistischen Bestandteil in der Marx’schen Lehre hervorgehoben ― um ihn als veraltet und zweckundienlich zu verwerfen. Auch daran hat Frank Deppe nachdrücklich erinnert. Damit gelang es der SPD, wie Walter Benjamin bedauernd feststellte, „den Namen eines Blanqui fast auszulöschen, dessen Erzklang das vorige Jahrhundert erschüttert hat“.
Blanqui als unbekannter Soldat der Weltrevolution ― die deutsche Unwissenheit hat, wie man sieht, eine lange Vorgeschichte. Natürlich ist jeder Marx-Leser irgendwann einmal auf diesen merkwürdigen Mann gestoßen, der vielfach als der „Herr vom Berge“ eines sozialsubversiven Assassinen-Ordens durch Fußnoten und Lexika geistert. Man weiß, daß Karl Marx ihn, zumindest gelegentlich, als „den Kopf und das Herz der proletarischen Partei in Frankreich“ gerühmt hat. Einigen gründlicheren, jedoch selten gelesenen Autoren, zu denen neben dem bereits erwähnten Eduard Bernstein auch Georges Sorel zählt, ist bereits früh aufgefallen, daß sich im Marxismus selbst zwei entgegengesetzte Zutaten nachweisen lassen: der Glaube an die durchsichtig gewordene Gesetzlichkeit der insgesamt fortschrittlichen Weltgeschichte und die aktionistische Bereitschaft, der historischen Notwendigkeit mit Gewalt kräftig nachzuhelfen, die Mechanik der sowieso ablaufenden Entwicklung zu forcieren. Diese beiden Gesichter von Marx kann man auch mit zwei Namen kennzeichnen, die völlig verschiedene intellektuelle Haltungen markieren. Die eine Seite des Januskopfs zeigt das Antlitz Hegels, die andere das Blanquis. Marx und seine Erben haben zwar, je nach Situation und Begabung, einmal mehr diesen, ein andermal mehr jenen Teil der Physiognomie betont, jedoch niemals eine endgültige Trennung vornehmen wollen. Entsprechend der jeweiligen Lage wird bloß vorübergehend der eine Pol verdrängt und disqualifiziert, der andere hingegen für allein seligmachend erklärt. So wird auch das Wort „Blanquismus“ stereotyp verwendet, wenn eine kommunistische Partei oder Fraktion einer andern vorwirft, eine abenteuerliche, die „objektiven“ Umstände der geschichtlichen Verhältnisse ignorierende Politik zu verfolgen. Bereits 1874 hat Engels eine blanquistische Strategie, zumindest im Hinblick auf die Verhältnisse im Deutschen Reich, für „längst veraltet“ erklärt. Wer sich darauf einlasse, sei dazu verurteilt, sich „aus einer Torheit in die andre zu stürzen“. Später haben dann die Menschewiki und auch der deutsche Sozialdemokrat Karl Kautsky die russischen Bolschewiki des „Blanquismus“ bezichtigt.
Wie wenig mit diesem zum Synonym für „Putschismus“, „re volutionärem Subjektivismus“ und „linksradikale Romantik“ gewordenen Schimpfwort die Gestalt des Mannes getroffen wird, der in dem Ausdruck „Blanquismus“ fortlebt, weiß man nach der Lektüre des 1986 erschienenen „Blanqui. Ein Rebell im 19. Jahrhundert“ von Karl Hans Bergmann. Der Verfasser, dem wir bereits ein Buch über Babeuf verdanken, hat mit diesem Werk die erste deutsche Blanqui-Biographie vorgelegt. Zum ersten Mal erhellen sich nun für einen größeren Leserkreis die Umrisse einer bedeutenden Figur der revolutionären Szene des vorigen Jahrhunderts und die weitverzweigten Linien ihrer bis heute nachwirkenden Aktivitäten. Bergmann schildert das Leben Blanquis vor dem Hintergrund der französischen, ja der europäischen Geschichte eines ganzen Zeitalters. Es reicht von Napoleon I., in dessen Diensten Blanquis Vater stand, bis zu Georges Clemenceau, der erst 1929 starb und noch in reifen Jahren ein Bewunderer des Mannes gewesen war, vor dem Könige, Präsidenten und Minister ebenso zitterten wie konservative, liberale und sozialistische Politiker. Manche der verschwenderisch ausgebreiteten Details sind geradezu entzückend. Amüsiert nimmt man zur Kenntnis, daß der junge Revolutionär, der eben in den Geheimbund der Carbonari eingetreten war, zugleich als Hauslehrer einen verwöhnten Generalssohn unterrichtete, den er zwang, jede Lektion so lange zu wiederholen, bis er sie im Schlaf aufsagen konnte. Man erfährt auch, daß er zeitlebens nach Art der Pythagoreer kein Fleisch aß, sondern sich ausschließlich von Obst, Gemüse, Salat und Eiern ernährte. Der offenbar einzige Gaumengenuß, den er sich gönnte, bestand darin, daß er ein passionierter Pfirsichesser war. Kaffee, Tee und Wein verschmähte er; seinen Durst stillte er nur mit Wasser. Wann immer es möglich war, ließ er die Fenster seines Zimmers bei Tag und Nacht offen. Sein Bett rückte er so nahe ans geöffnete Fenster, daß im Winter der Schnee in dichten Flocken auf die Decke fiel. Er maß nur ganze 143 Zentimeter und wurde deshalb meist „der Kleine“ genannt. 1833 heiratete er eine um neun Jahre jüngere herbe Schönheit namens Amelie-Suzanne, Tochter eines unbegüterten Bourgeois, die ihren Mann an Körperlänge weit überragte. Sie wird von Männern, die ihr begegnet sind, als eine heroisch sich aufopfernde Frau im Sinne des Plutarch geschildert: äußerst schweigsam, kaum lächelnd, verschlossen; mit einem passiven Mut, der nicht vorprellte, aber auch vor nichts zurückschreckte; dennoch alles andere als ein Mannweib. Der Kunstkritiker Theophile Silvestre sagt von ihr: sie war „glühend, bei anscheinender Unempfindlich-
keit, ein Vulkan unter einem Gletscher“. Nach Louis Nougues, wie Blanqui Mitglied der Geheimbünde „Les Familles“ und „Gesellschaft der Jahreszeiten“, glich Amelie-Suzanne mit ihrer hohen schlanken Gestalt, den großen schwarzen Augen, dunkelbraun fülligem Haar und stark gebogenen Augenbrauen einer der schönsten Madonnen von Tizian. Die aristokratische Erscheinung wird ebenso gerühmt wie die wohlklingende Stimme und würdevoll gemessene Art, sich zu bewegen. Diese von Eitelkeit völlig freie Frau, der Blanqui einst, als sie noch Kind gewesen war, Nachhilfestunden gab, schenkte einem Sohn das Leben, der auf den Namen Esteve getauft wurde und später ganz andere Wege als der Vater einschlug. Er wird als oberflächlicher, schwacher Charakter geschildert. Durch Erbschaft von den Großeltern mütterlicherseits gelangte er bereits als junger Mann in den Besitz einer schönen Villa. Die einzigen Interessen, die der korpulente Sybarit Blanqui junior neben den Freuden der Tafel und des Bettes pflegte, waren das Spiel auf dem Waldhorn und die Übungen der Feuerwehr. Die Mutter erlag bereits 1841, erst sechsundzwanzig Jahre alt, einem Herzleiden. Ein Freund verglich sie in einem bewundernden Nachruf mit „einer wildwachsenden Skabiose, die auf der Mauer eines Gefängnisses vertrocknete“. Doch auch sonst bietet sich das Leben Blanquis als Vorwurf für einen historischen Roman an. Um so verwunderlicher ist es, daß noch niemand früher diesen geradezu epischen Stoff behandelt hat! Anders als Marx, der überwiegend Theoretiker, Ideologe und Kritiker war, steht Auguste Blanqui als ewiger Verschwörer, Revoltenschmied und ― stets scheiternder ― Techniker der Machtergreifung vor uns. Der von Ort zu Ort gehetzte Odysseus der sozialen Revolution, der stets neue Geheimbünde gründete, Aufstände, Erhebungen und Handstreiche organisierte, immer wieder verfolgt, inhaftiert und nicht weniger als viermal zum Tode verurteilt wurde, verbrachte knapp die Hälfte seines Lebens in Gefängnissen (darunter auch in der Inselfestung von Mont Saint-Michel) und zusätzlich beinahe zehn Jahre im Exil. In dieser Hinsicht ähnelt sein immer wieder von Mauern und Verliesen gesäumter Lebensweg dem des Marquis de Sade. Doch anders als der seinem ganzen Habitus nach zum Ancien Regime gehörende Adelige war der Bonapartistensohn überhaupt kein Wollüstling, sondern von ausgesprochen asketischem Wesen. Seine ganze Liebeskraft hat dieser Puritaner nur einer einzigen Herzensdame gewidmet: der femme fatale Revolution, so wie sie Delacroix auf dem berühmten Gemälde der halbnackt mit Jakobinermütze und Trikolore über Barrikaden stürmenden Marianne gefeiert hat. Polizeilich überwacht wurde er von frühester Jugend bis zu seinem Begräbnis im Jahre 1881, als rund zweihunderttausend Menschen dem Trauerzug zum Pere-Lachaise zuschauten oder folgten.
Blanqui war damals bekannter als Marx, wenngleich er sich als Denker nicht mit ihm messen konnte. Blanquis Schriften haben ― mit einer bedeutenden Ausnahme ― überwiegend einen agitatorischen und pamphletistischen Charakter. Dennoch ist ihr Kaliber nicht zu unterschätzen. Sie enthalten etliche Elemente, die dann von anderen aufgegriffen und popularisiert worden sind. Der berühmte (und meist nicht ganz korrekt zitierte) Satz von Marx, Religion sei das „Opium des Volkes“, findet sich sinngemäß bei Blanqui. Ebenso ist dem Franzosen die Priorität in der Lehre von der „Diktatur des Proletariats“ zuzugestehen. Er hat sie bereits 1837, mehr als zehn Jahre vor dem „Kommunistischen Manifest“, in den politischen Wortschatz eingeführt. Ein von einem Geheimbund angeleiteter Volksaufstand, an dessen Ende eine vorübergehende Diktatur der Mehrheit die Reichen enteignen und die allgemeine Gleichberechtigung einführen würde ― das ist der Kern, um den sich der ganze Blanquismus dreht. Wie der Kommunismus, der schließlich errichtet werden sollte, im einzelnen aussehen würde, darüber schwieg sich Blanqui aus. Wichtiger erschien ihm die unmittelbare Aktion durch revolutionäre Überrumpelung, der bewaffnete Staatsstreich durch einen elitären Vortrupp sozialistischer Jakobiner ― Gedanken, die nachweisbar Lenin eingehend studiert hat, nachdem sie bereits von Marx in seiner Schrift „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ (1871), historisch nicht sehr korrekt, als Grundgesetz der kurzlebigen Pariser Kommune gedeutet worden waren. Auch in Blanquis Zukunftsgesellschaft sollte der Religion durch verstärkte Bildung der Garaus gemacht werden. Im übrigen verfocht er einen verschwommenen „Pluralismus“, trat für einen Wettbewerb der Ideen und Theorien ein und sprach vom Ideal einer „geregelten Anarchie“.
In manchen Punkten hat er gewisse Gefahren klarsichtiger vorweggenommen als viele andere Sozialreformer und -revolutionäre seiner Zeit. Denkwürdig ist zum Beispiel Blanquis Wort, Utopien seien „mörderische Abschweifungen“. Wer sich darauf einlasse, sei auf dem Wege, „neue Zuchthäuser zu errichten, in denen die Menschheit das Glück der vervollkommneten Ketten genießen“ werde. Das ganze Gerede über die Gesellschaft der Zukunft schmeckt ihm nach „revolutionärer Scholastik“. Erwähnt sei noch, daß etwa vierzig Jahre nach seinem Tode ein Italiener, der als radikaler Marxist begonnen und überdies zwei Bücher des russischen Anarchisten Kropotkin in seine Muttersprache übersetzt hatte, Blanquis überaus realistische Parole „Wer Waffen hat, hat Brot!“ zum Motto für die von ihm herausgegebene Zeitung „Popolo d’Italia“ wählte. Der Mann hieß Benito Mussolini. Auch noch in seiner ersten Kammerrede als faschistischer Abgeordneter rühmte sich Mussolini, sowohl den Nach-kriegs-Kommunismus, unabhängig von Lenin, als auch den Faschismus ins Leben gerufen zu haben. Blanqui, angereichert mit einer Prise Nietzsche, ist gewiß eine gute Schule für politische Voluntaristen, seien sie nun rechts oder links eingestellt.
So wie Marx ein Januskopf ist, der teils Hegel, teils Blanqui gleicht, so ist auch Blanqui selbst mehrgesichtig. Zum einen ist er der Geheimbündler, Demagoge und Praktiker des revolutionären Handstreichs und Barrikadenkampfes, von dem noch Lenin und Trotzki manches lernen konnten. Zum andern steckt in ihm aber auch ein von aufklärerischem Bildungsoptimismus erfüllter „Kulturrevolutionär“. Unwissenheit ist für ihn die Hauptursache der Armut. Der Umsturz sei mehr eine Frage des Hirns als der Faust. Bildung und Kommunismus seien „zwei siamesische Geschwister“. Dieser könne nicht ohne Ausbreitung jener ins Werk gesetzt werden. Die Revolutionierung des Volksschulunterrichts sei entscheidender als das Ausbrüten sozialistischer Idealgesellschaften. Das Elend der Massen sei primär die Folge eines kulturellen Defizits. Es beruhe auf mangelnder Aufklärung, fehlender Einsicht, ungenügender Schulung… Dieser Blanqui scheint bei der Abfassung mancher kultusministeriell verordneter Rahmenrichtlinien als Ghostwriter gewirkt zu haben. Es ist auch eine merkwürdige Synchronizität, daß genau in jenem ereignisreichen Jahr 1968, mit dem der Umbruch in den bundesdeutschen Universitäten begann, eine Auswahl seiner Schriften unter dem Titel „Instruktionen für den Aufstand“ erschien.
Doch weder der konspirative noch der „kulturrevolutionäre“ Blanqui ist der ganze. Es gibt dazu einen dritten, völlig anderen, den kaum jemand erwarten wird. Er enthüllt sich uns, wenn wir eine von Agitation völlig freie Altersschrift des ewigen Rebellen heranziehen. Sie zeigt uns den Astronomen, Kosmologen und Naturphilosophen Blanqui, der, wieder einmal im Kerker, eine phantastische Version des pythagoreisch-stoischen Gedankens eines zyklischen Universums entwickelt: Alles vergeht, alles kommt wieder. Jeder Mensch hat auf irgendwelchen andern Sternen vollständige Doppelgänger. Alles, was man auf Erden bruchstückhaft ist, kann man irgendwo anderwärts komplett sein. Das ist der einzig tröstliche Schimmer: Was man hienieden hätte sein können, ist man hin und wieder irgendwo anders. Dann kann es vorkommen, daß die Engländer die Schlacht von Waterloo vielleicht verlieren, weil Marschall Grouchy, ihr Gegner, seinen Fehler nicht begeht. Anderswo erringt Bonaparte nicht immer den Sieg von Marengo. Aber mag auch dereinst stellarer Determinismus das, was hier wir sind, noch so harmonisch ergänzen, so überwölbt das Gesetz ewiger Wiederkehr und ständiger Vervielfältigung die winzige Ritze, aus der dies versöhnlich stimmende Licht quillt. Der Mensch ist auf Gedeih und Verderb in alle Ewigkeit mit den Sternen verbunden. Er teilt das Schicksal der Planeten, die seine „Mütter“ sind. Auch unsere Erde ist ein solcher Stern. Was ich hier tue, werde ich dereinst auf einem anderen Gestirn wieder tun. Das Drama wird sich ewig wieder- und wiederholen. Dies gilt auch für das Drama von Revolution und Gegenrevolution, Befreiungskampf und Unterdrückung, Barrikade und Kerker. Es gibt keinen Fortschritt. Was wir so nennen, spielt sich bloß auf der Erde ab, um mit ihr wieder pulverisiert zu wer-
den und nach Äonen irgendwo von vorn zu beginnen. Ich zitiere die entscheidenden Stellen:
„Unsere Erde ist, ebenso wie die anderen Himmelskörper, die Wiederholung einer uranfänglichen Verbindung, die sich ständig in gleicher Weise wiederholt und die gleichzeitig in Milliarden wesensgleicher Exemplare existiert. Jedes Exemplar wird geboren, lebt und stirbt der Reihe nach. In jeder Sekunde, die verstreicht, kommen Milliarden davon zur Welt, sterben Milliarden … Folglich vollziehen sich alle geschehenen oder geschehenden Ereignisse auf unserem Globus, vor seinem Tod, genau gleich in den Milliarden gleicher Welten. Und da es sich so mit allen Himmelskörpern verhält, ist das gesamte Universum die permanente, unendliche Reproduktion eines ständig erneuerten, stets gleichen Materials und Personals …
Der Mensch besitzt auf diese Weise vollständig Doppelgänger und unzählige Varianten von Doppelgängern, die immer seine Person vervielfältigen und darstellen, aber nur Fetzen seines Schicksals nehmen. Alles, was man hienieden hätte sein können, ist man irgendwo anderwärts. Außer seiner vollständigen Existenz, von der Wiege bis zur Bahre, die man auf einer Fülle von Erden lebt, lebt man zehntausend verschiedene Ausgaben davon auf anderen Erden…
Auf diese Weise hat jeder von uns gelebt, lebt und wird unaufhörlich leben in der Gestalt von Milliarden alter ego. Wie man in jeder Sekunde seines Lebens ist, ist man in der Ewigkeit, vervielfältigt in Milliarden Abzügen. Wir teilen das Schicksal der Planeten, unserer selbststillenden Mütter, in deren Innern diese unerschöpfliche Existenz in Erfüllung geht. Die Gestirne ziehen uns hinein in ihr langes Dasein…
Jeder Stern… existiert also in unendlicher Zahl in Zeit und Raum, nicht allein unter einem seiner Aspekte, sondern so wie er sich in jeder Sekunde seines Daseins zeigt, von der Geburt bis zum Tode. Alle auf seiner Oberfläche befindlichen Wesen, groß oder klein, belebt oder unbelebt, teilen das Privileg dieser langen ― unendlich wiederkehrenden ― Existenz.
Die Erde ist eines dieser Gestirne. Jedes menschliche Wesen ist damit ewig in jeder Sekunde seiner Existenz. Das, was ich in diesem Augenblick in einem Kerker des Fort Taureau schreibe, habe ich geschrieben und werde ich in alle Ewigkeit schreiben: an einem Tisch, mit einer Feder, in den gleichen Kleidern, unter genau den gegenwärtigen Umständen. So geht es mit allem.
Die Zahl unserer Doppelgänger ist unendlich in Zeit und Raum … Diese Doppelgänger haben Fleisch und Blut. Sie sind keine Phantome, sondern verewigte Wirklichkeit. Eines fehlt daran: Fortschritt. Was wir so nennen, ist eingemauert in jede Erde und vergeht mit jeder. Stets und überall auf den Erden das gleiche Drama, die gleiche Dekoration, auf derselben schmalen Bühne eine brausende Menschheit, berauscht von ihrer Größe. Stets und überall hält sie sich selbst für das Universum und lebt in ihrem Gefängnis, als wäre es unermeßlich, um doch alsbald mit dem Erdball in den Schatten zu sinken, der mit ihrem Hochmut aufräumt. Die gleiche Monotonie, die gleiche Unabänderlichkeit auf den andern Sternen …
Das Universum wiederholt sich endlos und tritt auf der Stelle. Unbeirrt spielt die Ewigkeit im Unendlichen immer wieder das gleiche Stück.“
Blanqui hat diese Sätze während seiner Gefangenschaft in Fort Taureau niedergeschrieben. Auch das Universum ist trotz seiner Unermeßlichkeit ein Kerker. So wie Blanqui nur aus der Haft entlassen wurde, um sogleich wieder verhaftet zu werden, so vermögen wir alle der Welt nicht zu entrinnen, in der wir nun einmal drin sind, zu ewiger Reproduktion verurteilt. Wir sind Schablonen unserer selbst, ständig vergehend, ständig wiederkehrend: im kosmischen Eishauch, der uns von unnahbar fernen Galaxien anweht, zitternd glimmende Funzeln, aufflammend gemäß universalem Karma, verlöschend gemäß universalem Karma und wiederaufflammend gemäß universalem Karma. Fortschritt ist in einem solchen Weltall undenkbar. Auguste Blanqui sagt es selber ausdrücklich. Aber eine Art von zyklischer Unsterblichkeit wird immerhin gewährleistet. Der Gedanke der Periodizität aller Dinge und Wesen, seien es nun Spiralnebel, Milchstraßen, Sonnensysteme, Sterne, Menschen, Tische, Schreibfedern, Gefängnisse, Gedanken und Träume, ist die dem neunzehnten Jahrhundert angemessene materialistische Leseart des uralten Menschheitsgedankens von der Seelenwanderung. Wenn der jeweilige Zustand des Universums durch das Gefüge seiner Atome restlos bestimmt und die Anzahl der möglichen Verbindungen zwar riesengroß, jedoch nicht unendlich ist, dann ergibt sich daraus der zwingende Schluß, daß die Geschichte des Kosmos wie der Menschheit sich unzählige Male, ja myriadenmal wiederholen muß, so wie sie sich auch schon unendlichmal abgespielt hat. Es gibt zwar keinen Fortschritt, dafür aber die ewige Wiederkehr der Revolution, einschließlich der des permanenten Revolutionärs Auguste Blan-qui. Seinem Richter hatte er trotzig gesagt, daß er bis zu seinem Tode derselbe und seinen umstürzlerischen Ideen treu bleiben werde. Er wird es auch nach seinem Tode sein. Er wird immer wiederkommen, und eben dies ist die Unsterblichkeit des Revolutionärs. Ewig wiederkehren wird aber auch der Richter, Kerkermeister, Geheimpolizist und Bourgeois. Dies ist die Unsterblichkeit der Gegenrevolution. Beide sind nichts als Segmente ein und desselben kosmischen Kreislaufs. Die revolutionäre Empörung versinkt in staunender Emporschau zum gestirnten Himmel. Alles Irdische ist nur ein Gleichnis, die erhabensten Revolutionen ereignen sich am Firmament. Das Wort bedeutete ja noch bis in die frühe Neuzeit hinein nicht gewaltsamen Umsturz auf Erden, sondern das unabänderliche Kreisen der Sterne um einen Mittelpunkt, der Planeten um die Sonne. Kopernikus nannte deshalb nicht umsonst sein Buch „De revolutionibus orbium coelestium“, „Über die Revolutionen des Himmelsgewölbes“ (1507).
Dies ist die kosmologische Vision des Verschwörers, Klassenkämpfers und Umstürzlers Auguste Blanqui. Mit ihr ergibt er sich einem astralen Fatalismus, der ebenso erhaben wie trostlos ist. Nichts Neues gibt es unter der Sonne. Was neu zu sein scheint, war schon unendliche Male da. Was endgültig überholt zu sein scheint, wird unendlichmal wiederkommen. Dies gilt für Sternensysteme, Lebensläufe, Stimmungen und Revolutionen. „Jede Konterrevolution erbleicht bei einem einzigen Namen ― Blanqui“, hatte Proudhon einmal ausgerufen. So ist es, so wird es sein. Aber alle Straßenkämpfe, Barrikadenschlachten und Machtergreifungen werden wesenlos vor einem Blick auf den nächtlichen Himmel mit seinen revolutionär-konterrevolutionär verlaufenden
Sternenbahnen. Der in politischer Hinsicht Marx so nahestehende Radikalprogressive Blanqui befindet sich als Verkünder astronomisch verbürgter ewiger Kreisläufe in der Nachbarschaft des radikalkonservativen Einzelgängers Nietzsche, des in seinem Jahrhundert einzigen überragenden Gegenspielers zu Marx. Blanqui stirbt am 1. Januar 1881 in Paris. Sieben Monate später ― Anfang August 1881 ― überfällt Nietzsche im Engadin, auf einem Spaziergang zwischen Sils Maria und Surlej, der ihn erschütternde Gedanke der „ewigen Wiederkunft“, den er im „Zarathustra“ und in seinen nachgelassenen Fragmenten immer wieder abwandelt, durchprobiert und auf seine möglichen Einschlüsse hin abklopft Auf einen Zettel notierte er im Herbst 1883 bloß den Titel eines Buches, auf das er wahrscheinlich durch einen freundschaftlichen Hinweis oder die Lektüre einer bestimmten Fußnote in F. A Langes „Geschichte des Materialismus“ aufmerksam geworden war:,,A Blanqui, l’eternitd par les astres. Paris 1872″ (vgl. Nietzsche: Kritische Studienausgabe, dtv, Band 10, S. 560). Es ist das die einzige Erwähnung Blanquis in sämtlichen veröffentlichten und unveröffentlichten Schriften Nietzsches. Auch in seinen vielen Briefen taucht der Name des Franzosen kein einziges Mal auf. Die Ähnlichkeit der Auffassungen beider Autoren ist in der Tat überraschend. Da ein Plagiat ausgeschlossen ist, bestätigt sie, zumindest im Bereich der Ideengeschichte, den Gedanken Blanquis von den teils abgewandelten Doppelgängern, die jedermanns Einzigartigkeit unendlich vervielfältigen.

(1986)

©

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