Adalbert Stifter

Dichter des Friedens und der Natur

Es ist Anfang September, die Zwischenzeit zwischen Nachsommer und Frühherbst. Die Hitze der Augusttage ist vorüber, die sternklaren Nächte sind merklich kühl geworden, von den Bäumen fallen die ersten Früchte herab. Zwar sind auf den Wiesen und den Rändern der Waldwege schon die meisten Blumen verblüht; doch im Garten, auf den ich blicke, blühen noch einige Stockrosen, Sonnenblumen und Levkojen, vor allem aber Riesengoldruten, Zinnien, Malven und der blaue Borretsch. Und heute, in dieser Stunde, während ich schreibe, ist im neuen Gartenteich die allererste Seerose aufgeblüht. Die Schwalben schwirren über dem Teich und nippen vom Wasser; doch dies ist, wie ich mir sagen ließ, bereits ein Vorspiel zum Abflug, der in den nächsten Tagen stattfinden werde.
Adalbert Stifter kann man zu allen Jahreszeiten lesen, und ich habe das auch schon oft getan. Diesmal habe ich mir, wieder einmal, die Erzählung „Der heilige Abend“ vorgenommen. Es handelt sich dabei um die Urfassung der Geschichte, die der Dichter dann unter dem Titel „Bergkristall“ in den Band „Bunte Steine“ aufgenommen hat.
Ich habe diese Geschichte ― in beiden Fassungen ― wieder gelesen, um mich schon jetzt auf Weihnachten einzustimmen, um das Fest auf diese Weise, sozusagen antizyklisch, vorweg zu feiern. Dieser Schachzug macht mir Freude, weil ich jetzt ohne verschneite Tannen, Dunkelheit und Eisblumen am Fenster über Weihnachten besser nachdenken kann als im Dezember. Es ist zu befürchten, daß ich kurz vor den Feiertagen nicht die rechte Zeit und Muße finden werde, es zu tun. Vielleicht muß ich dann schon Zeitschriftenbeiträge über den Frühling oder Sommer schreiben oder Aufsätze über irgendwelche Philosophen und Schriftsteller, die in diesen Zeiten ein Jubiläum haben. Aber auch sonst huldige ich gern dem Spiel, mich manchmal mitten im Sommer auf den Winter, mitten im Winter auf das Frühjahr seelisch vorzubereiten. Genauer betrachtet leben wir ja nie bloß in der kalendarischen Zeit, sondern auch im „Einst“ ― mag dieses nun eine wiedervergegenwärtigte Vergangenheit oder eine vorweggenommene, eine erträumte, ersehnte oder auch befürchtete Zukunft sein.
Weihnachten im September ― also beinahe vier Monate vor dem richtigen Fest… Die Lektüre von Adalbert Stifters Erzählung „Der heilige Abend“ macht es mir möglich, das Fest schon jetzt zu feiern: allein und in aller Stille, unbeschwert von feiertäglicher Post und von Geschenken, für die ich mich bedanken muß. Bereits in den ersten Sätzen beschwört der Österreicher Stifter die Zeit unmittelbar nach der Wintersonnenwende, die Eigenart des Festes im Reigen des Kirchenjahres:
„So wie in manchen, vorzüglich in protestantischen Ländern der Tag vor dem Geburtsfeste des Herrn der Christabend heißt, so heißt er in vielen katholischen Gegenden, namentlich in den schönen Gauen unseres engeren Vaterlandes, vorzugsweise der heilige Abend, so wie der darauf folgende Tag der heilige Tag heißt und die dazwischen liegende Nacht den Namen Weihnacht führt. Es wird allgemein bekannt sein, daß die katholische Kirche den Christtag mit ihrer allergrößten kirchlichen Feier begeht, ja daß in den meisten ihrer Gemeinden schon die Mitternachtsstunde, als die Geburtsstunde des Herrn, mit prangender Nachtfeier geheiligt wird, zu der die Glocken durch die stille, finstere, winterliche Mitternachtluft laden, und die Bewohner mit Lichtern oder auf dunkeln, wohlbekannten Pfaden aus schneeigen Bergen, an bereiften Wäldern vorbei und durch knarrende Obstgärten zu der Kirche eilen, aus der die feierlichen Töne kommen, und die aus der Mitte des in beeiste Bäume gehüllten Dorfes mit den langen beleuchteten Fenstern emporragt.“
Es sind dies echt Stiftersche Sätze, die den auf Genauigkeit bedachten Naturbeobachter verraten, der das, was er sieht, in manchmal etwas lange, umständliche, um nicht zu sagen: pedantisch scheinende Formulierungen zu fassen versucht. Diese Eigentümlichkeit hat Adalbert Stifter schon zu Lebzeiten den Ruf eingetragen, daß er langweilig sei. Eine kleine Schar von Lesern freilich, zu denen auch Nietzsche gehörte, bewundert diese Art dingfrommen und wirklichkeitsandächtigen Schreibens, seine mit so platten Wörtern wie „Realismus“ oder gar „Naturalismus“ völlig unzureichend gekennzeichnete dichterische Haltung gegenüber den Erscheinungen der Welt. Wer sie als langweilig abtut, dem ist nicht zu helfen. Ich jedenfalls genieße diese Langeweile wie das Glück eines fast nicht mehr irdischen Friedens. Stifter ist in einem uns Modernen kaum mehr recht verständlichen Sinne der Dichter des Friedens. Er ist es nicht so sehr deshalb, weil er immer wieder friedfertige und friedliebende Gestalten beschreibt, weil sich in seinen Werken zahlreiche Aussagen finden, die den Krieg für ein Unglück erklären, für etwas, das dem zu wahrer Menschlichkeit geläuterten Menschen widernatürlich sei: „Noch sind Kriege…“, seufzt der schönheitsdurstige Maler Albrecht in der frühen Erzählung „Feldblumen“; in der „Narrenburg“ fällt das Wort: „Kriegsruhm, dies ekle, blutige Getränk“; im „Gang durch die Katakomben“ stellt der Dichter selbst die Frage: „Aber wann wird jene Zeit kommen, in der ein Krieg ebenso ein Unding der Vernunft sein wird wie ein Trugschluß schon heute ein logisches Unding ist?“; und im „Witiko“ steht die Mahnung: „Es sollten alle Reiche unseres Erdteils ihre Angelegenheiten gemeinsam schlichten; so würde keines von einem anderen besiegt und keines würde die Beute eines entfernten Feindes.“
Doch es sind gar nicht so sehr Stellen dieser Art, denen ich noch manche hinzufügen könnte, die uns dazu berechtigen, Stifter als Dichter des Friedens anzusehen. Schließlich ließen sich auch aus den Werken vieler anderer Dichter aus alter und neuer Zeit ähnliche Zitate anführen. Es geht hier gar nicht um die vordergründige Frage, ob Stifter ein „Pazifist“ im politisch-ideologischen Sinne war (ich glaube, daß er es nicht war), oder daß er insbesondere unter dem preußisch-österreichischen Krieg von 1866, der zum Ausscheiden Österreichs aus dem Deutschen Bund führte, bis zur Verzweiflung litt. Stifter ist vor allem deshalb der Dichter des Friedens, weil, wie Hermann Augustin mit Recht sagt, seine Dichtung der Friede selbst ist. Stifters Dichtung redet nicht nur vom Frieden, sie fordert ihn nicht, sie predigt ihn nicht, sondern: sie ist der Friede. Wo andere den Frieden beschwören, verherrlichen oder als Programm aufstellen, da führt Adalbert Stifter den Leser seiner Bücher hinein in einen Frieden, wie ihn kein Politiker und auch kein Friedensapostel zu schenken vermag. Wer sich in das dichterische Universum Stifters hineinbegibt, der wird aufgenommen von einem Frieden, der, weit über den menschlichen Bereich hinaus, die gesamte Schöpfung durchatmet und birgt. Es ist dies wie der Widerschein jenes uranfänglichen Friedens, von dem manche Religionen, darunter auch die christliche, in Bildern und Gleichnissen künden, und den das Weihnachtsfest als eine künftige Möglichkeit den Menschen verheißt. Daß Adalbert Stifter, der Dichter des Friedens, keine sentimentale Natur und kein Idylliker ist, kann dem sorgfältigen Leser nicht entgehen. Ich werde auf diesen Punkt noch zurückkommen.
Weihnachten, das Fest des Friedens, erinnert an die Geburt eines Kindes, und es ist deshalb recht eigentlich das Fest der Kinder. Adalbert Stifter hebt dies in seiner Erzählung „Der heilige Abend“ besonders hervor:
„Ebenso bekannt, ja durch alle Länder der Christenheit noch weit bekannter wird es sein, daß man den Kindern die Ankunft des Christkindleins ― auch eines Kindes, des wunderbarsten, das je auf der Welt war ― als ein heiteres, glänzendes, feierliches Ding zeigt, das auf alle Zeiten fort wirkt, und oft noch spät in den Jahren des Mannes bei trüben, schwermütigen oder rührenden Erinnerungen gleichsam mit den bunten, schimmernden Fittichen durch den öden, traurigen, ausgeleerten Nachthimmel fliegt…“
Es ist kein Zufall, daß wir beim Lesen von Adalbert Stifters Werken immer wieder auf das Wort „Ding“ stoßen. Es taucht bei ihm auch in Zusammenhängen auf, in denen es, jedenfalls auf den ersten Blick, befremdlich wirkt. Würde es ein Schüler so verwenden, dann müßte er damit rechnen, daß sein Deutschlehrer ihm Unbeholfenheit des Ausdrucks ankreidete. Die Ankunft des Christkindes, so sagt der Dichter, wird den Kindern „als ein heiteres, glänzendes, feierliches Ding“ gezeigt In der Erzählung „Zwei Schwestern“ erwacht der Gast eines einsam gelegenen Anwesens von den Klängen einer Violine: „Es lag in dem Spiele ein Schmerz und eine Sehnsucht, die so einleuchtend ausgesprochen waren, daß man sah, das sei nicht ein vorgebildetes und vorgespiegeltes Ding der Kunst, sondern das sei aus dem wirklichen, bitteren, erfahrenen Leben hergenommen.“ Im „Nachsommer“ sagt der Erzähler Heinrich: „Die Ehrfurcht vor den Dingen, wie sie an sich sind, war bei mir so groß, daß ich auf das sah, was die Dinge nur für sich forderten und was ihrer Wesenheit gemäß war.“ An anderer Stelle meint der Freiherr von Risach in demselben Roman: „Wer weiß, wie es mit diesen Dingen ist, und es wird hier wie überall gut sein: Ergebung, Vertrauen, Warten.“ Es kann aber auch, scheinbar ganz banal, heißen: „Ich hätte das Ding längst vergessen .. .“In einem Brief spricht der aus dem Böhmerwald stammende österreichische Dichter von Susanna, dem Mädchen der Weihnachtserzählung, als „zutraulichem hingebenden Ding“ ― eine vor allem in bäuerlichen Gegenden Österreichs noch heute allgemein verbreitete (und durchaus nicht abschätzig gemeinte) Bezeichnung für junge Mädchen. Es wäre lohnend, einmal über dieses Herzwort Stifters nachzudenken. „Ding“ bezeichnet bei ihm keineswegs nur körperliche Gegenstände oder Sachen, sondern noch weit mehr auch Vorgänge, Ereignisse, Gedanken, Verhältnisse, Tätigkeiten, Begriffe oder Ideen. Es wird ihm zum Synonym für das Daseiende überhaupt, für alles dasjenige, das uns die Wirklichkeit in ihrer Vielgestaltigkeit offenbart.
„Der heilige Abend“ ― und noch weit mehr die unter dem Titel „Bergkristall“ erschienene Endfassung ― ist eine Weihnachtsgeschichte. Es ist aber auch eine Dorfgeschichte, genauer: die Geschichte von zwei Gebirgsdörfern, die dadurch verbunden sind, daß der Schuhmacher von Gschaid die Tochter des in Millsdorf tätigen Färbers geheiratet hat, die zwei Kindern das Leben schenkt Die beiden Geschwister, der Knabe Konrad und das jüngere Mädchen Susanna, stehen im Mittelpunkt der Erzählung, die zur Weihnachtszeit spielt: zwischen heiligem Abend und Christtag. Einschränkend muß man jedoch sagen, daß sie im Mittelpunkt stehen durch die menschliche Anteilnahme, die ihre Not erregt: Sie geraten auf der Rückkehr von einem Besuch bei den Großeltern im Nachbarort in einen starken Schneefall, irren vom Weg nach Hause ab und verbringen die ganze Nacht in einer Höhle am Rande eines Gletschers. Erst am nächsten Vormittag werden sie aus eisiger Verlorenheit von einem Hirten und anderen Bewohnern des Dorfes Gschaid gerettet. Der eigentliche Mittelpunkt ist, vor dem Hintergrund der plötzlich verschneiten Landschaft, der hohe Berg mit seinen Eisspalten, Geröllströmen und Höhlen. In der Schilderung elementarer Natur, die den Menschen bedroht, erreicht Adalbert Stifter eine dichterische Eindringlichkeit, wie sie in deutscher Sprache beispiellos ist. Die einleitenden, fast biedermeierlich wirkenden Erörterungen über das Weihnachtsfest und die darauf folgende Charakteristik der beiden Dörfer einerseits und die Darstellung der Umstände, unter denen die Kinder gefunden werden, andrerseits bilden den Rahmen der Binnengeschichte, in deren Zentrum eine Beinahe-Katastrophe steht. Über die Einzelheiten möchte ich mich hier nicht auslassen. Es ist hier keine Nacherzählung oder literaturwissenschaftliche Zergliederung beabsichtigt. Schließlich möchte ich ja mit diesen kurzen Hinweisen einige Leser erreichen, die, vielleicht nach vielen Jahren, vielleicht auch zum erstenmal, zu Stifters „Der heilige Abend“, dann auch zu den „Bunten Steinen“ und anderen seiner Werke greifen.
Nur auf einen Punkt, der allerdings sehr bedeutsam ist, sei mit Nachdruck noch aufmerksam gemacht Man hat Adalbert Stifter jahrzehntelang als gemütvollen „Idylliker“, als spätromantischen Kleinmaler harmloser Prosabildchen abgetan. Er wurde als Epigone Jean Pauls, als hausbackener Poet von Käfern, Butterblumen und Staubfädenregistern belächelt (leider auch von dem nach Wien übersiedelten großen norddeutschen Dramatiker Friedrich Hebbel). Der seinerzeit bekannte Literaturhistoriker Julian Schmidt warf Stifter sogar „Mangel an sittlichem Ernst“ (!) vor, und noch in unserem Jahrhundert hat ihm der marxistische Kulturphilosoph Georg Lukacs „beschränkteste Philisterhaftigkeit“ attestiert. Welche Verkennung kommt in solchen Urteilen zum Ausdruck! Wer Adalbert Stifter aufmerksam liest, dem kann doch unmöglich entgehen, daß auch seine harmoniegesättigten Erzählungen ein tragischer Grundton durchzittert und daß das „Sanfte Gesetz“, von dem er in der Vorrede zu den „Bunten Steinen“ spricht, keine Gewähr für ein erschütterungsfreies Dasein ohne Sturm, Härte und Unerbittlichkeit bietet. Abgründiges und Schmerzlichstes befindet sich dicht neben dem Holdesten und Schönen. Auf düsterem Grund ruhen die humanen Ordnungen. Zerstörerische Leidenschaften bedrohen Maß, Eintracht und die Hegungen gesellschaftlichen Umgangs. Eifersucht, Jähzorn und Selbstmordgedanken sind Motive, die immer wiederkehren. Sogar der im Alter so abgeklärte Risach, der Herr des Rosenhauses im „Nachsommer“, bekennt, in jungen Jahren, unmittelbar nach der erzwungenen Trennung von der damals erst etwa siebzehnjährigen Mathilde, mit dem Tod gespielt zu haben: „Ich sah in das dunkle Innere der Schlünde und fragte, ob ich mich hinabwerfen solle. Das Bild meiner verstorbenen Mutter mischte sich in diese schauerliche Vorstellung.“ Der sanfte Obrist (in der „Mappe meines Urgroßvaters“) war in seiner Jugend ein berüchtigter „Spieler, Raufer, Verschwender“. Wie sein junger Freund, der Arzt Augustinus, hat auch er einmal daran gedacht, vor der Zeit aus dem Leben zu scheiden. „Anfangs wollte ich ihn ermorden“, sagt der „Hagestolz“, als er entdeckt, daß sein Bruder von dem Mädchen geliebt wird, das er selber zu ehelichen gedachte. Im „Beschriebenen Tännling“ wandert der enttäuschte Hanns mit einer frischgeschliffenen Axt drohend durch den Wald. Die Greuel des Dreißigjährigen Krieges verheeren auch die Burg der beiden Schwestern im „Hochwald“: „Die Angst mit breiten schwarzen Flügeln senkte sich auf Tal und Wald.“ Die Pest führt in „Granit“ (und noch mehr in der Urfassung: „Die Pechbrenner“) zum Zerbrechen sogar der ehrwürdigsten menschlichen Bindungen. Maßlose Eifersucht droht vorübergehend das Glück des phantasiereichen Malers Albrecht in den „Feldblumen“ zu vernichten. Entfremdung und Bruch von Liebesverhältnissen und Ehen kommen, in immer neuen Abwandlungen, im „Kondor“, in der „Narrenburg“, im „Alten Siegel“, im „Prokopus“ und im „Waldgänger“ vor. Das nachsommerliche Glück des Freiherrn von Risach und seiner Freundin Mathilde ist eine späte Blüte nach einem Leben voll von Mißverständnissen und Umwegen. Ähnlich ist das Los Brigittas (in der gleichnamigen Erzählung), die erst im beginnenden Alter eine herzliche Beziehung zu Stefan Murai findet. Trotz aller Zuwendung kann das unbekannte braune Mädchen aus dem Walde (in „Katzensilber“), das andere gerettet hat, selber nicht heimatlich verwurzelt werden.
Unbegreiflich, daß ein solcher Autor jemals in den Rufeines vor den Nachtseiten des Daseins die Augen verschließenden Idyllikers geraten konnte! Ein Mann, der eine Zeitlang den Plan gehegt hatte, einen dreibändigen Robespierre-Roman zu schreiben und von dem das Wort stammt: „Wir alle haben eine tigerartige Anlage …“ Ein Dichter dieser Art kann unmöglich für die Gefährdetheit der menschlichen Existenz blind gewesen sein, wenngleich er nicht zu denjenigen zählt, die sich wollüstig in der Darstellung des Abartigen, Düsteren und Diabolischen suhlen. Wie sehr er um die unaufhebbare Abhängigkeit und Ausgesetztheit menschlichen Daseins wußte, zeigen auch einige seiner eindrucksvollsten Naturschilderungen. Bereits im „Kondor“, der ersten Stifterschen Erzählung, gewahrt die männliche Hauptgestalt das Universum als einen „schwarzen Abgrund, ohne Maß und Grenze in die Tiefe gehend“. Eine sengende Dürre sucht das „Heidedorf heim. Todbringenden Winterfrost schildert die „Mappe“. Ein Blitzschlag läßt im „Abdias“ das Judenmädchen sehend werden, ein Blitzschlag tötet es. Gewitter und Überschwemmungen gefährden die ahnungslosen Kinder im „Kalkstein“. Hagel und Feuersbrunst wüten in der Erzählung „Katzensilber“. Man könnte aus Stifters Werk, sagt Emil Merker, ein ganzes „Lesebuch der Wetterkunde“ zusammenstellen mit fesselnden, bis ins kleinste wirklichkeitsgetreuen und zugleich dichterisch überwältigenden Darstellungen. Die vielleicht eindrucksvollste steht in der Erzählung „Der heilige Abend“ ― noch weiter entfaltet in der „Bergkristall‘-Fassung:
„Sie blieben nun stehen ― aber sie hörten nichts. Sie blieben noch ein wenig länger stehen, aber es meldete sich nichts, nicht ein einziger Laut, auch nicht der leiseste, außer ihrem eigenen Atem, war zu vernehmen ― ja in der Stille glaubten sie den Schnee zu hören, der auf ihre eigenen Wimpern fiel, denn was ganz ungewöhnlich war in diesen Gegenden, auch nicht das feinste Lüftchen rührte sich an dem ganzen Himmel. (…) Es schien, als wäre hier eine ungeheuer größere Lichtfülle, als in ihrem Tale, und dennoch konnte man nicht drei Schritte vor sich sehen; alles war, wenn man sich so ausdrücken dürfte, eine einzige weiße Finsternis durch einander, und wegen der gänzlichen Abwesenheit jeden Schattens konnte man keine Dinge als Körper sehen. (. ..) Das wußten sie wohl schon längst, daß sie auf keinem Wege mehr gingen, weil sie immer Steilheiten, an die der Fuß stieß, auszuweichen hatten, und weil sie unter dem jungen Schnee, in dem sie wateten, keinen erdigen Boden, sondern etwas anderes empfanden, das wie älterer gefrorner Schnee war. (…) Wenn sie stehen blieben, war alles still, unermeßlich still; wenn sie gingen, hörten sie das Rascheln ihrer eigenen Füße und sonst nichts; denn die Massen des Himmels sanken ohne Laut, daß man auf der Erde ordentlich den Schnee wachsen sehen konnte. Sie selber waren so bedeckt, daß sie sich von dem allgemeinen Weiß nicht hervorhoben und sich, wenn sie nun ein paar Schritte getrennt worden wären, einander nicht mehr gesehen hätten. ― Endlich gelangten sie wieder zu Gegenständen, es waren riesenhaft große, sehr durcheinander liegende Trümmer, die mit Schnee bedeckt waren, der überall in den Zwischenklüften durchrieselte, und an die sie sich ebenfalls fast anstießen, ehe sie dieselben gewahrten. Wie sie die großen Platten näher ansahen, war es Eis, lauter Eis. (…) Alle waren entweder emporgedrängt und starrten oder lagen über einander, daß sie vorragten und Dächer bildeten, über deren Ränder sich der Schnee hinüberlegte und herabgriff wie lange weiße Tatzen. (…) Sie schoben sich in die Spalten hinein, sie setzten den Fuß auf jedes Körperstück, das oben mit einer weißen Schneehaube versehen war, war es Fels oder Eis, sie nahmen die Hände zu Hilfe und krochen, wo sie nicht gehen konnten, und griffen sich durch die Massen Schnee hindurch, der oft unter ihnen wegbrach und dicht neben dem Auge den schreckblauen Streifen einer Spalte bloßlegte, wo früher das Weiß gewesen war ― aber es tat nichts, sie arbeiteten mit ihren leichten Körpern fort, bis sie die Seite des Walles überwunden hatten und oben waren. ― Aber das Jenseits, wo es nun sogleich hinabgehen sollte, war nicht da, der Wall hatte kein Jenseits (…) Aber es war Eis, lauter Eis …“
Diese kleine Leseprobe mag genügen. Sie erweist Adalbert Stifter, der auch selber gemalt hat, als einen großen Didier, dessen winterliche Naturschilderung an manche Gemälde von Caspar David Friedrich erinnert. Aus dieser Hölle von Schnee und Eis, in der sie „mit dem Starkmute der Unwissenheit“ (wie Stifter an einer Stelle sagt) umherirren, werden die beiden Kinder Konrad und Susanna durch ein Zusammentreffen mehrerer günstiger Umstände vor dem Kältetod gerettet.
Als unsentimentaler Dichter, der auch dem Drohenden, Gewaltigen und Ungeheuerlichen der Natur ins Antlitz zu blicken wagt, vermeidet Adalbert Stifter eine formelhafte Deutung der Vorgänge, die die Geschwister vor dem Untergang bewahren. Er sagt an keiner Stelle, daß sich die Rettung einem unmittelbaren Eingreifen Gottes verdanke. Doch er hindert auch keinen Leser daran, in den Ereignissen ein göttliches Walten zu ahnen. Die Natur bedroht die Kinder und läßt sie den Weg verlieren; sie ist es aber auch, die durch das dröhnende Krachen des Gletschereises und das magische Schauspiel des Sternenhimmels die verirrten Geschwister vor dem Einschlafen und damit vor dem Erfrieren bewahrt. Stifter schildert die unerbittliche Natur ohne Beifügung mirakelhafter Requisiten. Die Natur als solche ist wunderbar genug: ein Abgrund von Wundern. Daß die Rettung der Kinder auf ganz natürliche Weise zustandekommt, ändert nichts daran, daß sie wunderbar erscheint und von den Betroffenen als Gnade empfunden wird. Während Konrad und Susanna in einer tiefergelegenen Almhütte gelabt werden, tönt aus dem Tale die Kirchenglocke, „die Wandlung des heiligen Hochamtes verkündend“. Das erschöpfte Mädchen sagt später, als es zu Bett gebracht wird: „Mutter, ich habe heute Nacht den heiligen Christ gesehen“. Sie hat ihn im milchgrünen Schimmer des Nordlichts gesehen. Die Einwohner des Dorfes Gschaid aber erkannten, daß „alles, alles gut sei“. In seiner verhaltenen Art hat Stifter, der Dichter der Natur, des Friedens und der Kinder, hier vielleicht mehr gesagt, als ihm bewußt war. Die winterliche Landschaft lichtet sich und scheint durchsichtig zu werden für die Weihnachtsbotschaft der Engel an die Hirten von Bethlehem.
Doch man lese Adalbert Stifter selber. Man greife zu der Erzählung „Der heilige Abend“ oder gleich zu den gesammelten Werken. Denen, die meinen Rat zum Weihnachtsfest beherzigen, kann es dann ähnlich ergehen wie dem jungen Heinrich Drendorf in Stifters wunderbarem „Nachsommer“:
„… und die Tiefe der Nacht wurde,
ehe sich die Augen schlössen,
durch die großen Worte eines,
der schon längst gestorben war
und der sie uns in einem Buche hinterlassen hatte,
erhellt, und wenn die Kerze ausgelöscht war,
wurden die Worte in jenes Reich mit hinübergenommen,
das uns so rätselhaft ist
und einen Zustand vorbildet,
der uns noch unergründlicher erscheint.“

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