Der Doktor

Er war eine ganz besondere Persönlichkeit und er hieß bei allen einfach „der Dokter“. Ob bei den Schützen, deren langjähriger Vorsitzender er war, bei seinen Patienten oder im Krankenhaus bei den Kollegen. Andere hatten zum Titel ihren Namenszusatz, er war schlichtweg „der Dokter“.

Ende der Fünfziger zog der Doktor mit Praxis und Wohnung in sein neuerbautes Haus an der Bahnhofstraße, wurde so unser Nachbar und meiner Familie ein Freund. Als Facharzt hatte er es eigentlich nicht nötig, Hausbesuche zu machen, das ließ er sich für die nächste Nachbarschaft aber nicht nehmen. Sommers wie winters war er mit Sandalen und kurzärmligem Hemd bekleidet. In der kalten Jahreszeit kam lediglich eine Joppe dazu und außerhalb des Hauses sah man ihn dann mit hochgezogenen Hosenbeinen durch Matsch und Schnee stapfen. Sonst bewegte er sich mit provozierender Langsamkeit in seinem Ford Taunus durch die Pegnitzer Straßen, in der Regel in Richtung Krankenhaus, am Mittwoch in Richtung Café Sauer.

Die Kgl. Privilegierten Schützen konnten sich keinen besseren Vorsitzenden wünschen. Er verstand zu repräsentieren, war besonnen bei Entscheidungen, seine Sprüche und Reden waren überlegt und pointiert, Geschwätz und Umschweife waren ihm ein Graus.

Er genoss sein Pils immer eiskalt. Am besten war, wenn die Flasche noch angefrostet gebracht wurde. Vor dem Einschenken in sein Schützenkrügel lief eine „haptische“ Temperaturprobe ab, etwa fünf Sekunden lang. Wenn in Ordnung befunden, wurde eingeschenkt, war die Flasche zu warm, empfing die Bedienung das vernichtende Urteil: „Ich trink doch kan Tee!“

Mit Patienten pflegte er einen kurz angebundenen, sachlichen, aber meist gutherzigen Umgang. Von Gewerkschaftern und Sozis hielt er nicht viel, wenngleich seine Patienten auch aus diesen Kreisen nichts auf ihn kommen ließen.

Hans Scheuerlein erzählte mir, als wir damals gemeinsam im Stadtrat saßen, seine Begegnungen mit ihm. Scheuerlein musste aufgrund seiner zahlreichen gewerkschaftlichen und politischen Posten viele Reden halten. Er war auch starker Raucher und so am Kehlkopf anfällig. Als ihm wieder einmal seine Stimme versagte, suchte er den Doktor auf. Der schaute ihm in den Hals, wog bedeutungsschwer den Kopf, sagte aber nichts. Als Hans fragte, was er hätte und was nun zu tun wäre, lautete die lakonische Antwort: „Halt mal dei Maul!“

Ein andermal berichtete ihm Hans von einem zeitweiligen Stimmversagen, das sich immer mit einem „Giekser“ ankündigte. Diesmal war der Doktor etwas gesprächiger und sagte: „Des hat ich auch mal. Jed´s mal, wenn ich in der Kärch (= Kirche) des erste Gsetzl g´sungen hab, hab ich so an Giekser kriegt.“ Hans Scheuerlein: „Und was habens dann g´macht?“. Der Dokter: „Ich bin nimmer in die Kärch gangen.“

Ein Elektromeister aus der Nachbarschaft unterzog sich beim Doktor – noch im alten Krankenhaus – einem Eingriff an der Nase. Nach der Operation in örtlicher Betäubung wurde ihm die Nase austamponiert und er mit den Worten nach Hause geschickt: „Fertig! Kommst morgen wieder.“ Auf dem Weg wunderte er sich, dass alle Leute, denen er begegnete, ein Grinsen nicht unterdrücken mochten. Als er sich endlich in einem der Schaufenster vom Textil-Gebhard betrachten konnte, blickte ihm ein blutverschmiertes und um die Nase dick aufgequollenes Gesicht entgegen. Schnurstracks eilte er zurück ins Krankenhaus und stellte den Dokter zur Rede: „Ich seh aus wie a abgstochne Sau und so lässt mich losziehen.“ Der Dokter: „Stimmt, so siehst aus. Aber, was geht mich des an.“ Beim weiteren Disput soll dann das berühmte Goethe-Zitat gefallen sein; einen Körperteil betreffend, mit dem aber der Dokter sonst nichts zu tun hatte.

Als ich gerade fünfzehn war, bekam ich eine recht unangenehme, schmerzhafte und fiebrige Entzündung in Mund und Rachen. Der Doktor ließ es sich nicht nehmen, in der Nachbarschaft einen Hausbesuch zu machen. Er schaute mir in den Schlund und für ihn war die Sache gleich klar. „Was hab ich?“, fragte ich. Der Doktor: „Die Maul- und Klauenseuche.“ Und: „Sei froh, daß´d kein Rindviech bist, sonst müßt´ dich dein Vater jetzt notschlachten.“ Er verschrieb mir ein höllisch scharfes Zeug zum Gurgeln und „Pinseln“ und nach drei Tagen war ich gesund und so der „Notschlachtung“ entgangen.

Ich hatte zu ihm ein respektvolles, der Doktor zu mir ein gönnerhaftes und durchaus herzliches Verhältnis, war es als Jungschütze und später als junger „Kollege“.

Einige Zeit vor seinem Tod erzählte er mir bei einem letzten Treffen im Schützenhaus am Zipser Berg seine erstmalige eigene Bedrohung durch Krankheit – wohl mit Todesahnung. Er schilderte mir seinen ersten Herzinfarkt mit folgenden Worten: „Da war ich hierher unterwegs, als mir ganz komisch worn is. Ich hab mir denkt, Fritz, jetzt geht´s dahin… Da hab i mi erst mal no setzen müssen – und dann hab i an Schnaps braucht.“

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