Der alte Kreisbaumeister

Einer der exquisiten Stammgäste im Stern war der alte Kreisbaumeister, unbestritten ein Pegnitzer Original. Er kreuzte meist nur im Winter auf und ausschließlich dann, wenn es Schlachtschüssel gab. Damals war er schon weit über 80 Jahre alt, aber trotz seines Greisenalters hatte er etwas Kerniges, Unverwüstliches – schließlich war er ja auch Jäger.

Wenn er im Stern auftauchte, gegen Mittag, eben, wenn die „Schipf“ fertig sein musste, erschien er in voller Ausrüstung: schwere Filz-Jagdstiefel mit Wickelgamaschen, Lederhose, ein gewalkter Jagdrock über einem Strickjanker und auf dem Kopf einen Jagdhut von der Art, wie ich ihn nur einmal auf einem Bild des alten Prinzregenten Luitpold gesehen hatte. Über der Schulter trug er eine Jagdflinte. In seinem Gefolge erschien der Max, ein ebenfalls schon betagter Rauhaardackel mit einem ungemein herzigen Blick, halt dem richtigen Dackelblick.

Der alte Kreisbaumeister Weiß war nicht unbedingt von beeindruckender Statur, eher untersetzt, vielleicht war er früher mal einen Meter fünfundsechzig groß gewesen. Sein rundes Gesicht wurde von zahllosen Falten durchzogen, die mir in der Erinnerung als Lachfalten erscheinen, denn sie gaben seinem Gesicht etwas Verschmitztes, auch wenn seine Mimik durch einen Alters-Parkinson schon etwas eingeschränkt war. Dagegen hatte er lebhaft bewegte Äuglein mit einem Blinzeln, welches auf Alterssichtigkeit oder einen grauen Star schließen ließ – sicher ein nachteiliger Umstand für einen passionierten Jäger und Schützen. Seinen rundlichen Schädel zierten spärliche, schlohweiße Haare und unter der Unterlippe trug er ein neckisches Bärtchen, eine sogenannte Fliege, wie sie einst Ludwig XIV. zur Mode machte.

Er tauchte nie mit einer Jagdtrophäe im Stern auf, obwohl er immer den Anschein vermittelte, dass er geradewegs von der Pirsch kam.

Sowie draußen Schnee lag, hinterließen seine mächtigen Stiefel beim Gehen eine Wasserspur von der Garderobe bis hin zu seinem Stammplatz am unteren Ende des Stammtisches. Ich schlussfolgerte deshalb, dass er wohl nicht von der Entenjagd kam, denn man erzählte am Stammtisch immer, dass der Alte auf Entenjagd im Schnee nur mit fünf Paar Socken an den Füßen, nie aber mit Stiefeln unterwegs sei – zwecks der Geräuschunterdrückung beim Pirschen.

Das Hinterlassen von „Feuchtigkeit“ war eine Eigentümlichkeit des alten Kreisbaumeisters. Dazu komme ich später.

Sobald er das Lokal betrat und wenn es draußen Schnee gab, sauste sofort jemand vom Personal los, um einige Flaschen „Märzen“ im Hof – einsehbar von seinem Stammplatz – in den Schnee zu stecken. Er misstraute den damaligen Kühlvorrichtungen und wollte stets auch den sichtbaren Beweis für ein eisgekühltes Bier haben. Das war eine Marotte, welche auch den Dokter auszeichnete, doch das ist eine andere Geschichte.

Es waren im Laufe des Tages so deren zehn, nicht selten fünfzehn Flaschen Märzenbier, die der Kreisbaumeister in sich hineingoss.

Bezüglich des Essens, bei der Schipf, war er sehr eigen. Er verlangte als unverzichtbaren Bestandteil immer einen „Dreckbohrer“, d.h. den Schweinsrüssel. Der musste – wie auch die Schweinsbacken, Ohren, Haxen – unbedingt „zweckert“ sein, das heißt auf Fränkisch „net lätschert“, auf Deutsch vielleicht „kernig“ – eben halt zweckert.

Die fünf bis acht Liter Bier vom Mittag bis zum Abend zeigten natürlich ihre Wirkung. Wenn der Kreisbaumeister anfangs noch den Weg ins „Häusl“ fand, wurde das nach und nach für ihn anstrengender und war schließlich gar nicht mehr möglich. Der Körper wird nämlich, gewaltig vom Märzen durchtränkt, schwer wie Blei. Aber Bier sucht nach den physiologischen Gesetzen unaufhaltsam einen Weg nach draußen. Für die Umgebung war das kein Problem, wenn der „alte Weiß“ seine Lederhose anhatte. Am Verhalten vom Max war das Malheur zu erkennen, indem plötzlich sein sprichwörtlicher Dackelblick noch treuherziger wurde und ein leises Winseln zu vernehmen war. Dazu überkam das Hundchen eine auffallende motorische Unruhe – eine Unruhe, die seinem Herrn absolut abging.

Der Max hatte seinen Ruhe- und Warteplatz direkt unter der Bank, hinter den Füßen seines Herrn. Ging der nach draußen, ins Häusl oder sonst wo hin, stand auch der Max auf und begleitete ihn in seiner gemächlichen, dackelbeinigen Fortbewegungsart.

Manchmal soll er dort auch gewisse unverdaute Magen-Absonderungen seines Herrchen beseitigt haben, wie erzählt wird.

Der Nachhauseweg war nach so einer Jagdtour mit Einkehr bis weit in die Nacht natürlich ein Problem. Da kam dann mein Onkel, der „Reiniger Sepp“ ins Spiel. In ihn setzte der alte Herr das größte Vertrauen, was den Automobilismus und andere praktische Angelegenheiten betraf. Der Kreisbaumeister wohnte mit Tochter und Schwiegersohn in einem hübschen Häuschen, standesgemäß in einer richtigen kleinen Villa, am Buchauer Berg. Nur Onkel Sepp durfte ihn nach Hause chauffieren.

Es war wieder so eine Winter-Jagd-Wirtshaus-Schlachtschüssel-Tour gewesen, als mein Onkel den Kreisbaumeister – wie oft erlebt – spät nachts am Buchauer Berg ablieferte. Die paar Meter von der Gartenpforte bis ins Haus sollte der alte Herr wohl alleine schaffen, dachte mein Onkel, denn es hatte heftig zu schneien begonnen und er wollte schnell nach Hause kommen. Am nächsten Morgen, in aller Frühe, ein dramatischer Anruf der Tochter: Der Vater sei nicht nach Hause gekommen! Wo könnte er denn sein? Der Sepp sei doch immer zuverlässig! Was ist passiert?

Mein Onkel war um sechs Uhr morgens nicht zu erreichen und so fuhr mein Vater unverzüglich – in fast ebenso starker Besorgnis wie die Anruferin – zum Haus am Buchauer Berg. Der Weg von der Gartentüre zum Hauseingang war dick verschneit, keine Spuren waren mehr zu sehen. Er ging durch den Garten zur Haustürtreppe, klingelte und traf auf die aufgelöste Tochter des Kreisbaumeisters. Heftige Vorwürfe hatte er sich gleich anzuhören, wie er mir später erzählte. Dann erschien der Schwiegersohn, ein nüchterner Mann, der eins und eins zusammenzählen könne – wie man sagt. Er guckte auf den Weg, zum Treppenabsatz, und da fiel ihm ein Haufen auf, der dort nicht hinpasste. Mit einem Besen wurde rasch ein eingeschneiter Kreisbaumeister freigelegt, immer noch tief schlafend, lebend, mit steifgefrorener Hose und insgesamt – Gott sei Dank – nur leicht unterkühlt. Tochter und Schwiegersohn schafften es, ohne notärztlichen und sonstigen Beistand, den Vater wieder zu revitalisieren. Nach diesem Vorfall wurden die Jagd- und Schlachtschüssel-Ausflüge des Kreisbaumeisters wegen der heftigen Einwände von Tochter und Schwiegersohn nachhaltig unterbunden.

An meinem Onkel hatte der alte Kreisbaumeister irgendwie einen Narren gefressen. Für seine Dienstleistungen wollte er ihn angeblich entschädigen, indem er versprach, ihn testamentarisch zu berücksichtigen: Er könne sich in „seinem Holz“ einen Baum aussuchen, müsse ihn nur selbst fällen und abtransportieren. Als er gestorben war, gab es zwar noch das „Holz“, das hatte allerdings schon jeher dem Landkreis gehört. Der Baum, den sich mein Onkel bereits angesehen und markiert hatte, war demnach in der Verfügung von jemand anderem und nicht in der des großzügigen Erblassers.

Originale, Schlitzohren, „Hainbücherne“ und ähnliche Naturen scheint unsere Gegend wohl besonders häufig hervorzubringen. Schade nur, dass sie immer seltener werden.

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